13

Es regnete die ganze Woche über immer wieder: Trüber Himmel und beständiger Niederschlag hielten sie den ganzen Tag über im Haus, wo sie lasen, tranken, Gideon beim Klavierspielen zuhörten, Poppy halfen, endlos viele Bleche Haferkekse mit Rosinen zu backen, die sie den Nachbarn schenkten. Ivys Allergie wurde so schlimm, dass sie anfing, zwei verschiedene Antihistaminika zu nehmen, woraufhin sie sich fühlte, als würden Gewichte an jeder einzelnen ihrer Wimpern hängen. Gideon bot an, den Kater bei den Walds unterzubringen, aber Ivy wollte nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten. Also behielt Sylvia ihn stattdessen in dem Zimmer, das sie sich mit Roux teilte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit brachte Sylvia ihre Zweifel zum Ausdruck, dass Pepper der Grund für Ivys Allergie war. Allerdings wandte sie sich damit nie direkt an Ivy, sondern äußerte sich immer dann, wenn diese in Hörweite war. Die Gefühle kochten bei allen langsam hoch. Jede Geste, jeder Tic, jede normalerweise harmlose Eigenart wurde schnell zu einem kleinen, aber permanent spürbaren Ärgernis.

Roux und Sylvia schienen in einen unterschwelligen Streit verwickelt zu sein. Es fing an, als Sylvia sich über seine morgendlichen Donut-Besorgungen lustig machte. »Andere Männer wären begeistert, drei selbst zubereitete Mahlzeiten am Tag zu bekommen«, sagte sie, »aber du isst ja nichts, weil du auf diesen Mist abfährst.« Roux hörte auf zu kauen und wischte sich mit dem Handrücken den Puderzucker vom Mund. »Des einen Leid, des anderen Freud«, zitierte er das alte Sprichwort. »Vielleicht könntest du endlich mal aufhören, die ganze Zeit über rumzuzicken.« Alle außer Gideon, der trotz des Regens schwimmen gegangen war, saßen noch am Frühstückstisch und tranken die letzten, kalt gewordenen Schlucke Kaffee. Teds Gesicht durchlief eine ulkige Bandbreite von Ausdrücken – von Schock über Verärgerung bis hin zur Resignation –, dann setzte sein jahrzehntelanges Training ein, und er täuschte eine erlösende Taubheit vor. Ivy erwartete, dass Sylvia explodierte, doch Gideons Schwester sagte nur mit matter Stimme: »Ich wollte dir nichts unterstellen.« Poppy presste mit gerunzelter Stirn die Lippen zusammen, anscheinend ihr einziges Ventil für ihre innere Wut, und huschte zu Sylvia, um sie mit übertriebener Mutterliebe zu überschütten. Roux fragte Ted, ob er Zigarren dahabe. Ted erwiderte: »Nein, Roux. Ich habe hier keine Zigarren herumliegen.«

Roux’ grobschlächtiges Verhalten erinnerte Ivy an Tom Cross, doch Toms Unhöflichkeit war herablassend und als Statement gedacht, während Roux’ Unhöflichkeit keine Verachtung implizierte. Deshalb konnte Roux so mit Sylvia reden, genau wie mit Ted und Poppy (Roux und Gideon sprachen nicht miteinander, außer in der Gruppe, und auch dann war ihre neutrale Höflichkeit nur eine Maske für gegenseitiges Desinteresse). Sie tolerierten ihn – weil er auf niemanden herabsah. Er wusste es eben nicht besser.

Sylvia machte ein bockiges Gesicht und schob ihre Mutter weg. Es war unmöglich, dieses trotzige Mädchen mit der kultivierten, durch nichts aus der Fassung zu bringenden Sylvia auf der Silvesterparty in Einklang zu bringen. Vielleicht verhielt sich jeder im trauten Kreis der Familie zuweilen kindisch.

Es schien, als stünden die Dinge kurz davor, aus dem Ruder zu laufen. Doch wie dem auch sei – am Abend saßen Roux und Sylvia betrunken und ineinander verschlungen auf dem Sessel und gurrten sich mit ihren Babystimmen an.

Am nächsten Tag, als Ivy auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen zum Lernen war, stieß sie in dem Zimmer mit dem Flügel auf die beiden. Sie saßen im Schneidersitz auf dem Fußboden und sahen sich einen italienischen Film auf Sylvias Laptop an. Ivy entschuldigte sich für die Störung, aber Sylvia winkte sie herein. »Ich freue mich, dass du zu uns gestoßen bist. Der Film ist zum Einschlafen. Ich verstehe kein Wort, deshalb muss Roux alles für mich übersetzen, aber ich denke, er erfindet das nur.«

»Perché sei ignorante« , sagte Roux. Seine Aussprache klang ganz passabel.

»Woran arbeitet ihr?«, fragte Ivy, die Papier und Stifte auf einem niedrigen Beistelltisch neben dem Sofa bemerkte.

»An meinem Malbuch«, sagte Sylvia und zeigte Ivy die Seiten mit geometrischen Blumen und Schlössern. Genau so ein Malbuch hatte Ivy für ihre Erstklässler im Klassenzimmer. »Roux arbeitet an einer neuen Skizze«, fügte sie hinzu.

Ivy betrachtete die Zeichnung auf dem Tisch. Eine Tankstelle, ein Riesenrad, etwas, das aussah wie eine Frau mit Baseball-Kappe beim Tanken.

»Las Vegas«, sagte Roux.

»Das sehe ich«, sagte Ivy, obwohl sie es nicht gesehen hatte.

»Denk dir nichts. Es ist Mist.«

»Es ist umwerfend«, hielt Sylvia kühl dagegen. »Sag ihm das, Ivy.«

»Es ist umwerfend«, sagte Ivy. Mit wenigen Strichen war es ihm gelungen, eine bestimmte Stimmung, eine bestimmte Emotion einzufangen: den Moment vor einem Ausbruch von Gewalt. Und dabei hatte sie angenommen, dass sein Interesse für Kunst genau wie das für Oldtimer so ein Neureichen-Status-Ding war, dass es weniger um echte Wertschätzung als vielmehr um das Preisschild ging. Er hatte es am ersten Tag selbst gesagt: Ich genieße es, mir das zu beschaffen, worauf alle anderen scharf sind. »Es gefällt mir, wirklich«, versicherte sie noch einmal.

Roux zuckte die Achseln. »Willst du’s haben?« Er riss die Seite heraus und reichte sie ihr.

»Wie großzügig von dir, Känguru«, sagte Sylvia. Zunächst dachte Ivy, sie wäre nur flapsig – wie anmaßend von Roux, zu unterstellen, jemand wolle seine albernen Zeichnungen haben –, doch als sie zu ihr hinübersah, stellte sie fest, dass Sylvia praktisch vor Wut erstarrt war.

Sie hörten, wie Gideon durch den Flur kam. Ivy faltete schnell das Blatt zusammen und steckte es in ihr Buch, dann entschuldigte sie sich und verließ das Zimmer.

Das war am Montagabend gewesen. Jetzt war es Donnerstag, und Ivy fiel auf, dass Sylvia seitdem fast nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. Über Nacht schien ein unsichtbares Kraftfeld entstanden zu sein, welches verhinderte, dass sich der Kopf von Gideons Schwester in ihre Richtung drehte. Sylvia war nicht einmal grob; für sie hatte Ivy einfach aufgehört zu existieren. War das die Strafe für ihre Katzenallergie?, fragte sich Ivy. Konnte ein Mensch wirklich so kleinkariert sein? Oder war dies nur ein weiteres, ausgeprägteres Resultat ihres engen Aufeinanderhockens?

Gideon war – wie hätte es auch anders sein sollen? – taub für die Untertöne zwischen seiner Freundin und seiner Schwester. Manchmal hörte Ivy Sylvias gedämpfte Stimme aus dem Zimmer mit dem Flügel, wo sie mit Gideon über irgendein wichtiges privates Thema sprach. Als wolle sie etwas beweisen, dachte Ivy. Ihr Giddy, seine Sibbie. Und weil Teds einzige Hobbys das Lesen der Zeitung und seiner Golfmagazine sowie seine Fünf-Uhr-Bierchen waren, blieb nur Poppy als Ivys Verbündete übrig. Am Vormittag hatten sie eine fröhliche Stunde damit verbracht, sich Gideons Babyfotos anzusehen – ein Initiationsritus für jede Freundin. Ivy hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell erfolgen würde. Sie liebte vor allem das Foto von Gideon als Kleinkind im rosa Tutu und mit Ballettschläppchen, ein goldenes Krönchen auf dem Kopf. Er saß auf einer Schaukel, angeschubst von einer gleich gekleideten Sylvia. »So ist es, wenn man eine Schwester hat!« Poppy lachte, was sich anhörte, als hätte sie einen leichten Schluckauf. Einige Aufnahmen kamen Ivy allerdings ziemlich seltsam vor, hauptsächlich wegen Poppys Erklärungen.

»Sylvia konnte nie gut schlafen«, sagte Poppy und deutete auf ein Foto von Gideon und Sylvia, die unter einer gestreiften Decke schliefen, Scheitel an Scheitel, Sylvias Arm um Gideons Brust geschlungen. »Sie haben bis zur Highschool in einem Bett geschlafen. Als Sylvia endlich um ein eigenes Zimmer gebeten hat, ist mir beinahe das Herz gebrochen.« Sie deutete auf ein weiteres Foto, das Gideon und Sylvia nackt in einer freistehenden weißen Badewanne zeigte. »Sie haben es geliebt , gemeinsam zu baden. Nach jedem Softball-Spiel oder Strandtag haben sie so lange gequengelt, bis sie ihre Gummienten und ein nach Vanille duftendes Schaumbad bekamen.«

Ivy sah weder Schaum noch Badeenten auf dem Foto. Sylvias glatter brauner Rücken, der sehnige Rücken eines Teenagers, wurde von der Wasseroberfläche in zwei Hälften geschnitten. Gideon hatte seine gebräunten Beine in der kleinen Badewanne zwischen die seiner Schwester gesteckt. Eigentlich war die Badewanne gar nicht klein, sondern normal groß, doch sie kam Ivy klein vor im Verhältnis zu den langgliedrigen Geschwistern, die darin saßen. Ivy und Austin hatten niemals Seite an Seite in einem Bett schlafen dürfen, nur Kopf an Fuß, wie Sardinen in der Dose. Nan hatte strikt auf Geschlechtertrennung geachtet und Ivy eingeschärft, dass sie sich niemals einem Vertreter des männlichen Geschlechts nackt zeigen dürfe, auch nicht ihrem eigenen Bruder oder Vater. War diese Freiheit zwischen Gideon und Sylvia pervers oder unschuldig? Aber die Unschuldigen waren oft pervers und die Perversen unschuldig.

Am Nachmittag hatte das Dach zu lecken begonnen; dunkelgraue Bäche ergossen sich auf die alten Bodendielen. Ivy und Gideon hatten einen kalten Nudelsalat gegessen, als sie Poppy rufen hörten: »Oh! Oh! Bringt mir einen Eimer!« Sie eilten ins Wohnzimmer. Sylvia hielt sich den Bildband über den Kopf, in dem Roux am Vortag geschmökert hatte. Roux stand mit nacktem Oberkörper vor einem Blumentopf und wrang sein Shirt aus. Ted kam von oben angelaufen, wo er ein Mittagsschläfchen gehalten hatte, die Haare an einer Seite platt gedrückt. »Einen Eimer, Ted, bring mir einen Eimer!« Ted griff nach einem der geflochtenen Körbe neben dem Kamin. »Ich brauche einen Eimer , keinen Korb.« Teds Gesicht wurde so rot wie die Tomaten in der Obstschale. Roux fing an zu lachen. Er legte sich sein nasses T-Shirt wie ein Handtuch um den Nacken. »Du siehst aus wie ein Klempner«, stellte Ivy fest. Es dauerte nicht lange, und alle stimmten in Roux’ Gelächter mit ein. Poppy lachte am lautesten, wobei sie ihr zartes Vogelschnäbelchen weit aufsperrte.

Das kleine Leck hatte denselben Effekt wie ein Unwetter, das die stickige Luft reinigt. Sie stellten Schüsseln auf, um das von der Decke tropfende Wasser aufzufangen, und wischten die verbliebenen Pfützen auf. Zum Glück regnete es nur in den an das Wohnzimmer angeschlossenen Wintergarten herein, der nachträglich angebaut worden und als einziger Raum eingeschossig war. »Unser altes Cottage ist wirklich in die Jahre gekommen«, räumte Poppy ein, »aber wir kommen einfach nicht dazu, Reparaturen vorzunehmen.« Sie seufzte bedauernd. Als Roux sagte, er kenne einen Bauunternehmer aus Boston, der sich darum kümmern könne, zwitscherte Poppy: »Was für eine wundervolle Idee, die muss ich mir durch den Kopf gehen lassen« – ihre Art, unerwünschte Vorschläge abzulehnen. Anschließend saßen sie Eis essend auf der Veranda und lauschten auf den plätschernden Regen, während Poppy und Ted sie mit Geschichten über die Unwetter erfreuten, die ihr »geliebtes Finn Oaks« im Laufe der Jahre überstanden hatte. Die Speyers sprachen über die alten Möbel, angeschlagenen Teetassen, angelaufenen Silberlöffel und das alte Grammofon, das sie auf dem Dachboden gefunden hatten, als wären sie lebendige Kreaturen, was Ivy absurderweise für ausgesprochen charmant hielt. Sylvia saß neben ihr auf dem Zweisitzer. »Mir wird plötzlich so kalt von der Eiscreme«, sagte sie schaudernd und legte den Kopf auf Ivys Schulter. Ivy verspürte einen unerwarteten Kitzel. So ähnlich fühlte es sich an, wenn einem der Junge, der einen in der Schule ständig ärgerte, gestand, dass er das nur getan hatte, weil er einen mochte. Sie schloss die Augen und atmete den Geruch nach Regen, Salz und weiblicher Wärme ein, während sie Sylvias Atem auf ihrem nackten Arm spürte.

Ich muss überreagiert haben, redete sie sich ein. Sylvia hat keinen Grund, auf mich neidisch zu sein.

Die gute Stimmung hielt auch am nächsten Tag an, als sie endlich bei strahlendem Sonnenschein und einem wolkenlosen blauen Himmel erwachten. Die jungen Leute beschlossen, mit dem Boot nach Coven Island überzusetzen und dort Klaffmuscheln fürs Abendessen zu sammeln. Poppy packte ihnen Truthahnsandwiches und eine riesige Tupperdose mit frischen Erdbeeren für das Mittagessen ein, außerdem Maisbrot und alles, was sie für die Zubereitung der Muscheln brauchten. Gideon füllte die Kühltasche mit Bier und Wein.

Es war noch nicht einmal zehn Uhr an diesem Freitagmorgen, trotzdem wimmelte es im Hafen von Familien, frei laufenden Hunden und Anglern, die auf den gelben und orangefarbenen Felsen der Hafeneinfahrt hockten. Direkt an der Wasserkante stand eine graue Schindelhütte, an der ein Plakat klebte: CATTAHASSET JACHTCLUB . Ein Stück die Straße hinauf befand sich der Cattahasset Point Club, ein mehrstöckiges Gebäude mit zwei ausladenden weißen Rundum-Balkonen, auf denen Paare und Grüppchen von Frauen mittleren Alters unter gestreiften Sonnenschirmen brunchten.

»Es wird Jahr für Jahr voller«, stellte Sylvia stirnrunzelnd fest und wich zwei Jungs in aufeinander abgestimmten Segelhemden aus. »Als wir noch Kinder waren, war kaum jemand hier, und jetzt seht euch das an!«

Sie hatte recht, was die Sommertouristen betraf, aber Ivy freute sich eher über die Menschenmengen, als dass sie sich darüber ärgerte. Ihrer Ansicht nach sollten Ferien mitunter ein wenig exzessiv sein – nicht immer nur einsame Strandspaziergänge, Bücher und kultivierte Gespräche beim Abendessen über Politik und Kunst. Die lauten, glücklichen Stimmen von Eiskaffee trinkenden Leuten in Flipflops und mit offenen Hemdkragen kamen ihr vor wie das perfekte Gegenmittel für die gedämpfte Atmosphäre in Finn Oaks. Sie hakte sich bei Gideon unter.

»Hey«, sagte er.

»Hey«, sagte sie.

Sie lächelten einander an. Er ging mit ihr zur Pier, wo die Boote auf dem Wasser tanzten, ununterscheidbar in Ivys Augen.

Das Boot der Speyers war klein und weiß, abgesehen von zwei grünen Streifen an der Seite. Für vier Personen bot es jedoch genügend Platz. Gideon stellte sich hinter das Steuer, Ivy setzte sich auf eine Bank im Cockpit, Roux und Sylvia machten es sich vorn an Deck bequem. Ein paar schmale Stufen führten hinunter in eine winzige Kabine. Bald glitten sie an den anderen Segelbooten vorbei; der kleine Jachtclub, wo Gideon den Wagen geparkt hatte, schrumpfte zu einem flachen Rechteck in der Ferne zusammen. Das Boot schoss schnell und leicht über das Wasser. Gideon deutete auf verschiedene Orientierungspunkte an der Küste. Vorne hatte Roux einen Arm um Sylvias Taille geschlungen. Sie hatte bereits ihr Strandkleid ausgezogen und sonnte sich in einem schwarzen Spitzenbikini.

Nach zwanzig Minuten kletterte Roux, den Handlauf fest umklammernd, zur Rückseite des Boots Er setzte sich auf eine Bank Ivy gegenüber, dann legte er sich auf den Rücken. Kurz darauf erschien auch Sylvia. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, er schüttelte den Kopf, und sie strich ihm die Haare glatt. Nach einer Weile kam sie zu Ivy hinüber. Ivy erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. »Ihm ist bloß ein bisschen übel«, erwiderte Sylvia. »Er hat heute Morgen ein Mittel gegen Seekrankheit eingenommen, aber es wirkt nicht.«

Sie sahen zu ihm hinüber. Zwei Knöpfe von Roux’ Hemd waren geöffnet, ein Büschel schwarzer Brusthaare bildete einen starken Kontrast zu seiner blassen Haut. Er hatte ein Bein auf die Bank gestellt und den rechten Arm über die Augen geworfen. »Ich hoffe, es geht ihm besser, wenn wir die Insel erreichen«, sagte Ivy. Sie empfand nur wenig Mitleid mit Roux; ihre einzige Sorge war, dass er ihnen nicht den Tag verdarb. Seine schlechte Laune konnte toxisch sein, noch mehr sogar als Sylvias, deren Missmut man ignorieren konnte. Roux dagegen konnte niemand ignorieren, wenn er beschlossen hatte, seine mürrische Seite hervorzukehren.

»Das liegt vermutlich an dem Zucker, den er jeden Morgen in sich hineinschaufelt«, erklärte Sylvia und warf mit einer arroganten Geste ihre Haare über die Schulter. »Manchmal bin ich fast neidisch, wie einfach die Dinge zwischen dir und Gideon laufen. Ihr zwei seid praktisch ein und dieselbe Person. Ihr mögt das gleiche Essen, lest die gleichen Bücher, ihr benutzt sogar das gleiche gestelzte Vokabular. Es wird nicht lange dauern, und ihr tragt aufeinander abgestimmte Outfits.«

Was ihr zwei doch längst tut, dachte Ivy und sah die Pyjamas mit den eingestickten Monogrammen vor sich.

»Roux und du scheint mir aber auch sehr eng miteinander zu sein«, erwiderte sie, als sie die Gefahr spürte, die in der Luft lag. »Manchmal sind Gegensätze besser.«

»Das ist vermutlich wahr.« Sylvia nickte besänftigt. »Neulich habe ich herauszufinden versucht, wann wir unseren Jahrestag haben. Es ist ein bisschen verwirrend, weil wir so viele Auszeiten hatten. Ich glaube, nächste Woche sind wir acht Monate zusammen … Mein Gott, erst acht Monate! Bei all den Auseinandersetzungen, die wir hatten, komme ich mir vor, als sei ich Ewigkeiten verheiratet – und schon zweimal geschieden.«

Ivy erkundigte sich, worum es bei ihren Streitereien ging.

»Ach, daran erinnere ich mich anschließend nie. Roux ist ziemlich temperamentvoll. Ich hasse Auseinandersetzungen, also gehe ich einfach weg, bis er sich wieder beruhigt hat. Er nennt mich ›die Eisprinzessin‹. Vermutlich sind wir beide recht stur. Wir können tagelang streiten.«

»Das ist doch normal.«

»Nein, ist es nicht«, sagte Sylvia mit einem gnädigen Lächeln, als hätte Ivy versucht, sie unnötigerweise aufzumuntern. »Meine Eltern haben nie gestritten, und es gab einige ernste Themen, das kannst du mir glauben. Dad war hauptsächlich weg, pendelte hin und her zwischen Boston und diesem Haus in Back Bay, das er gemietet hatte – weiße Wände, alles gerade und kantig wie ein Lineal, alles in Kisten verpackt. Jedes Mal, wenn Mom mit uns hinfuhr, war alles in unseren Zimmern – das Bett, der Schreibtisch, die Fensterbank – voller toter Fliegen und Schnaken. Trotzdem weigerte sich Dad, eine Haushälterin einzustellen. Er behauptete, das sei elitär .« Sie machte eine Pause, um das Wort elitär wirken zu lassen. Es war bei den Reichen eine verbreitete Angewohnheit, über Elitismus und Privilegien zu sprechen, als könnten sie allein durch den Hinweis darauf mögliche Vorwürfe im Vorhinein entschärfen. »Mom gefiel das gar nicht«, fuhr Sylvia fort. »Als sie heirateten, gab sie ihm ihr ganzes Erbe, damit er seine politische Laufbahn vorbereiten konnte, trotzdem schämte er sich immer wegen ihres familiären Hintergrunds … Es gab da einige Skandale, sicher – unser Urgroßvater soll Gerüchten zufolge auf seiner Reise durch Kenia Menschenfleisch gegessen haben –, aber letztendlich ist Dad der eigentliche Heuchler. Unsere Mom ist seine zweite Frau, hat Gideon dir das erzählt?

Ivy schüttelte den Kopf.

»Tja. Nun. Er war schon einmal verheiratet, für ein, zwei Jahre, nach seiner Zeit bei der Navy, aber wir reden nicht darüber … Wie dem auch sei …« Sie lachte auf, ein kurzes, gequältes, ironisches Lachen. »Ich nehme an, du stimmst mit Roux überein, dass ich ein verwöhntes Mädchen bin, das über seine belanglosen Problemchen jammert.« Ivy protestierte ein klein wenig zu spät, weshalb Sylvia enttäuscht hinzufügte: »Egal. Es ist mir schon lange gleich, was die Leute über mich denken.«

»Keine Familie ist perfekt«, sagte Ivy, unsicher, welchen Ton sie anschlagen sollte, um den Schaden einzudämmen und für eine fröhliche Stimmung zu sorgen. »Außerdem seid ihr doch rundherum gelungen, Gideon und du.«

»Du hast keine Ahnung, wie engstirnig Ted und Poppy sein können. Sie haben sich Roux gegenüber schon die ganze Woche wie Monster verhalten. Ja, das haben sie«, beharrte Sylvia, als sie Ivys ungläubigen Blick bemerkte. »Sie finden es furchtbar, dass niemand, den sie kennen, je von Roux gehört hat. Wusstest du, dass sie meinen Cousin Francis dazu bringen wollten, Erkundigungen über ihn einzuholen? Francis arbeitet für Gouverneur Patrick. Immer wieder kommt Mom darauf zu sprechen, dass Roux nie aufs College gegangen ist. Die ganze Woche über hieß es ständig: ›Er legt keinen Wert auf Bildung‹, ›Er behandelt dich nicht anständig, weil er keine Vorbilder hat.‹ Was erwartet sie von ihm – dass er mit seiner Pfadfindermarke durch die Gegend läuft?«

Ivy war fassungslos, was alles sich abgespielt hatte, während sie in ihrem eigenen Stupor aus Antihistaminika und Unsicherheit versunken war.

»Warst du dabei?«, fragte Sylvia.

»Wobei?«

»Roux hat mir erzählt, er habe im letzten Jahr die Highschool abgebrochen, um seine Mutter zu unterstützen. Sie war an Krebs erkrankt.«

Ivy antwortete, sie sei vorher nach New Jersey umgezogen. Doch das wusste Sylvia bereits, warum fragte sie dann?

Sylvia nickte.

»Aber er ist inzwischen ausgesprochen erfolgreich«, sagte Ivy nachdenklich. »Poppy muss doch sehen, wie weit er es gebracht hat …«

»Du hältst Roux für erfolgreich?«

»Ist er das denn nicht?«

Die beiden Frauen sahen einander erstaunt an. Als Sylvia nichts weiter sagte, wandte Ivy sich wieder dem Thema »Familie« zu.

»Ich habe mir immer gewünscht, dass meine Eltern höhere Ansprüche an mich und meinen Bruder hätten. Wir sind ziemlich unterschiedlicher Meinung, was ein gutes Leben ausmacht … und ich halte Poppy und Ted nicht für engstirnig. Sie haben … Tradition …«

Sylvia verdrehte die Augen.

»Im Ernst«, fügte Ivy hinzu. »Bedeutung entsteht durch die Wichtigkeit, die wir den kleinen Dingen beimessen. Wenn es keine Standards gibt, dann gibt es auch keine Kultur – nicht einmal eine Gesellschaft!«

»So kann man es auch betrachten«, sagte Sylvia mit einem neugierigen Lächeln. »Es ist schön, sich mit einer Außenstehenden zu besprechen. Oh, so meine ich das nicht«, beeilte sie sich zu versichern. »Ich will nur sagen, dass du eine sehr gute Zuhörerin bist. Du gibst uns allen – eine Perspektive.« Sie strich mit den Fingern über Ivys Handgelenk, um die Kränkung, die mit ihren Worten einherging, abzufangen. Körperlichkeit, so begriff Ivy, war Sylvias Stärke und schien auf Männer und Frauen gleichermaßen zu wirken.

»Eigentlich wollte ich dich um einen Gefallen bitten.« Sylvia senkte die Stimme. »Meine Eltern werden uns alle am Sonntag in die St. Stephen’s Chapel scheuchen, und ich weiß jetzt schon, dass Roux nicht mitkommen wird. Er sagt, er weigert sich, jemals den Fuß in eine Kirche zu setzen. Könntest du mit ihm reden und ihn zur Vernunft bringen?«

Ivys Blick schweifte zu Roux. Er hatte sich nicht aus seiner merkwürdigen Verrenkung gelöst und schlief mit leicht geöffnetem Mund. »Warum sollte er auf mich hören?«

»Weil du ebenfalls nicht zur Familie gehört, außerdem nehme ich an, dass du nicht religiös bist. Wenn er sieht, dass du bereit bist, mitzuspielen, wenn wir ihn uns alle zusammen schnappen und es wie eine Gruppenübung aussehen lassen …«

Entgegen ihren Worten schien Sylvia überraschend empfänglich für die Wünsche ihrer Eltern zu sein. »Geht deine Familie regelmäßig zur Kirche?«, erkundigte sich Ivy. Ted sprach ein Dankgebet vor dem Abendessen, aber das war die einzige religiöse Handlung, die sie bislang bemerkt hatte.

»Aber ja«, sagte Sylvia. »Unser Glaube ist sehr wichtig für uns.«

»Ich werde versuchen, mit Roux zu reden.« Sylvia eine Bitte abzuschlagen, war keine Option, das hatte Ivy begriffen. Offenbar akzeptierten die Speyers kein Nein.

Sylvia klatschte mit kindlicher Freude in die Hände. »Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich mich freue, dass du hier bist? Du machst Mom glücklich. Ihr zwei saht aus wie dicke Freundinnen, als ihr euch neulich Giddys Babyfotos angeschaut habt. Sie vergöttert dich.«

Ivy lachte mit der verlegenen Dankbarkeit, die von ihr erwartet wurde. Als sie Sylvia schmeichelte, kam sie sich vor wie ein schleimiger Schöntuer, und als Sylvia ihr schmeichelte, fühlte sie sich verpflichtet und irgendwie bevormundet. Sie konnte nicht gewinnen.

Eine Möwe kreiste über ihrem Kopf. Für eine Weile sahen sie zu, wie sie ins Wasser eintauchte, wieder an die Oberfläche kam und versuchte, den Fisch zu schnappen, der aus ihrem großen gelben Schnabel entwischt war. Ich bin der Fisch, dachte Ivy, und Sylvia versucht, mich zu Tode zu picken. Getötet von tausend Schnabelhieben.

»Weißt du«, sagte Sylvia, die immer noch den Vogel beobachtete. »Roux wollte zunächst gar nicht mitkommen, doch als er hörte, dass du da sein würdest, hat er seine Meinung geändert.«

»Das wusste ich nicht.« Wieso?

Das Boot wurde zu schnell, Wasser schwappte über die Seiten hinein.

»Giddy ist so ein Raser«, sagte Sylvia und stand auf. »Ich werde ihm sagen, dass er langsamer segeln soll.«

Sie gingen an einem kleinen Strand vor Anker, der an drei Seiten von schroffen Klippen und wilden Gräsern umgeben war. Gideon und Sylvia sprangen sofort ins Wasser und schwammen diagonal zum Ufer; man sah ihre Arme, die synchron ein- und wieder auftauchten. Ivy grub ihre Zehen in den Sand und watete hinein; die Wellen, die ihr bis zur Brust schlugen, waren so kalt, dass ihr Körper protestierend zu bibbern begann und ihr Atem in flachen, abgehackten Stößen ging. Gideons und Sylvias dunkelblonde Köpfe hüpften in den Wogen auf und ab. Ivy sah zu, wie die Geschwister redeten und einander nass spritzten; der Wind trug ihr sorgloses Gelächter zu ihr herüber, doch die Worte, die sie sagten, konnte sie nicht verstehen. Gideon bedeutete ihr, zu ihnen zu kommen. Sylvia und er traten beide Wasser. Der Ozean um sie herum wirkte schwarz und endlos. Ivy schüttelte lachend den Kopf, in der Hoffnung, er würde zu ihr schwimmen. Als er das nicht tat, fürchtete sie, albern zu wirken, da sie weder schwamm noch durchs Wasser tollte, also kehrte sie an den Strand zurück, wo Roux auf der Picknickdecke saß, noch immer voll bekleidet, eine Zigarette im Mundwinkel. Er bot ihr eine an, aber sie lehnte ab. Sie konnte kaum still sitzen. Sylvia hatte behauptet, Roux wusste, dass sie ebenfalls in Finn Oaks sein würde, dabei hatte er am ersten Abend genauso überrascht gewirkt wie sie. Offenbar hatte er Geheimnisse – sowohl vor ihr als auch vor seiner Freundin. Das machte ihn zu einem Risiko – und gleichzeitig unwiderstehlich. Ivy war quälend aufgeregt, wie ein Mädchen vor dem ersten Date, doch gleichzeitig abgestoßen, als erwarte sie nichts Gutes von einem ernsten Gespräch. Sie beschloss, dass Schweigen die beste Option war – wie in den meisten heiklen Situationen.

Sie sahen zu Gideon und Sylvia im Wasser hinüber.

»Unheimlich, nicht wahr?«, fragte Roux. »Wie verknallt sie sind?«

»Du hast eine schmutzige Fantasie.«

»Gibt es da nicht so ein Sprichwort? Wer im Glashaus sitzt …«

Sie ließ ihn reden. Seit sie in Cattahasset angekommen war, hatte sie kein einziges Mal das Bedürfnis verspürt, nach einer Zigarette zu greifen – sie hatte sich sogar einreden können, diesmal ganz aufgehört zu haben –, doch jetzt den Passivrauch einzuatmen, machte ihr bewusst, dass ihre Gleichgültigkeit nur vorgetäuscht war, dass die lumpige Bestie in ihr sich so heftig nach einer Zigarette sehnte, dass ihre Hände zitterten. Sie stand auf, schlenderte am Strand entlang und malte sich aus, wie sie Roux unbemerkt ein paar Kippen stahl, die sie in ihrem Sonnenbrillenetui verstecken und am Abend heimlich rauchen würde.

Während der nächsten halben Stunde erkundete sie eine kleine Höhle in einer der Felswände, um den Anschein zu erwecken, dass sie sich amüsierte. Als sie zurückkam, waren die Geschwister an Land.

»Wie war dein Spaziergang?«, erkundigte sich Gideon, als sie Poppys Truthahnsandwiches und die Erdbeeren verzehrten.

»Wundervoll. Sieh nur, was ich gefunden habe.« Ivy zeigte ihm die kleinen Muscheln und Schnecken, die sie gesammelt hatte.

Erleichtert stellte sie fest, dass Sylvia und Roux nach dem Essen ihre Handtücher ein Stück abseits der Picknickdecke ausbreiteten. Sylvia legte sich auf den Bauch und kitzelte Roux’ Nase mit einer Feder. Ivy wandte den Blick ab, aber sie spürte jede von Sylvias Bewegungen und merkte, wie sie darunter litt.

Sie legte sich zu Gideon auf ihre eigenen Handtücher und schmiegte ihren Kopf in seine Halsbeuge. Sein Haar, für gewöhnlich ordentlich gekämmt, war lockig und voller Sand, seine Nasenspitze dort, wo er nicht genügend Sonnencreme aufgetragen hatte, gerötet. Dann stützte sie sich auf die Ellbogen und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Gideon gab ihr einen flüchtigen Kuss, aber sie verlängerte den Kontakt, schob ihren Oberkörper auf seinen und fuhr ihm mit der Zunge über die Zähne. Sie spürte, wie er sich vor Überraschung versteifte, aber ausnahmsweise hielt sie sich nicht zurück. Warum sollte sie auch? Sie war seine Freundin. Sie hatte Rechte. Bedürfnisse.

Gideon entwand sich ihr mit einem verwirrten Lächeln.

»Ich liebe dich«, sagte Ivy.

Er öffnete den Mund. Eine Sekunde verstrich. Sie hörte das Geräusch der Wellen, die gegen die Klippen schlugen, drehte sich auf den Rücken und ließ den Blick schweifen. Das ist nicht real, dachte sie. Nichts hiervon ist real.

»Du bedeutest mir wirklich viel«, drang Gideons zärtliche Stimme an ihr Ohr. Die Zärtlichkeit galt ihm selbst, das wusste sie, nicht ihr; Zärtlichkeit, die die Position bekräftigen sollte, die er einzunehmen gedachte. Sie spürte seine Hände auf ihren, seine weichen Lippen, die in der Mitte ihrer Handfläche verweilten. Sie regte sich nicht. Dann füllte sein Gesicht ihr Blickfeld, und er lag auf ihr und küsste sie mit ungekannter Leidenschaft auf den Mund. Instinktiv schlang sie die Arme um seinen Hals und wölbte sich ihm entgegen. Seine Hand glitt ihren Rücken hinab und setzte etwas Wildes, Verzweifeltes in ihr frei. Sie schob die Hand unter den kalten, nassen Bund seiner Badehose und griff in seinen Schritt. Er war komplett schlaff. Gideon fuhr fort, sie zu küssen, mit nasser, hungriger Zunge. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel – Sylvias Schatten fiel auf sie.

»Tut mir leid, wenn ich die Show unterbreche, aber wir sollten unbedingt ein paar Muscheln sammeln, bevor die Flut kommt.«

Muscheln sammeln – von all den lächerlichen Aktivitäten, die die protestantischen weißen Mittel- und Oberschichtler liebten, schoss diese den Vogel ab. Ivy hatte sich vorgestellt, dass man zum Muschelsammeln ein Boot und Netze brauchte, ähnlich wie beim Hummer- oder Krebsfang, dabei zog man bloß eine Harke durch den Sand, bis man auf etwas stieß, was häufiger ein Kieselstein als eine Klaffmuschel und nur selten essbar war. Sie gelangten zum Great Pond. In den kleineren Gezeitenbecken plantschten Kinder, deren Eltern – ausstaffiert mit großen Sonnenhüten und aufgekrempelten Chinos – nach dem Abendessen suchten. Sie gruben mit einer puritanischen Arbeitsmoral nach Muscheln, die Ivys nach Süßkartoffeln grabende Vorfahren stolz gemacht hätte.

Es war die goldene Stunde, der Himmel strahlend blau, versehen mit einem Kranz aus Sehnsucht erweckendem Orangerosa, der an einen Heiligenschein erinnerte. Hoch oben am Himmel stand eine schmale Mondsichel. Nachdem sie genügend Klaffmuscheln fürs Abendessen zusammenhatten, säuberten sie sie mit Meerwasser, dann gingen sie in einen nahegelegenen Park, um sie zu kochen. Gideon nahm Poppys Aluminiumkochtopf aus der Tasche und stellte ihn auf den mit Treibholz befeuerten Grill, den sie aus dem Boot mitgebracht hatten. Roux und Sylvia füllten die Muscheln in den Topf, fügten ein ganzes Stück Butter und eine halbe Flasche Albariño-Wein hinzu, außerdem ein Bündel Lorbeerzweige. Anschließend ließen sich alle ins Gras fallen und strichen sich den Sand von Knöcheln und Beinen. Ausgehungert, wie sie waren, spürten sie selbst das halbe Glas Wein, das für jeden übrig war, und als sich die fertig gekochten Muscheln öffneten, machten sie sich darüber her, genossen das mitgebrachte portugiesische Maisbrot und öffneten eine weitere Flasche Wein. Es wurde schnell dunkel. Motten umschwirrten die Laternen im Park. Alles verströmte Schönheit, aber die Schönheit hatte eine dunkle Seite, wie die Schönheit venezianischer Masken, die entweder Glorreiches oder Groteskes verbargen. Der Anblick von Roux und Sylvia, die einander küssten, trieb Ivy die Tränen in die Augen. Du bedeutest mir wirklich viel. Doch jemandem viel zu bedeuten, hieß nicht, dass man auch geliebt wurde. Jemandem viel zu bedeuten, ohne geliebt zu werden, war mitleiderweckend. Roux sah zu ihr hinüber. Es war zu spät, einen anderen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Seine Augen waren dunkel und umwölkt und ehrlich – das einzig Ehrliche um sie herum.

Um zweiundzwanzig Uhr sagte Gideon, dass sie aufbrechen müssten, bevor die Gezeiten wechselten. Auf dem Rückweg zum Segelboot hielt er ihre Hand fest umschlossen. Sie wollte ihm sagen, er solle damit aufhören, er müsse sie nicht auf eine so billige Art beschwichtigen, als sei sie ein solcher Einfaltspinsel wie Andrea – ein naives Mädchen, das an derartige Entschuldigungen glaubte. Er hatte nie einen Grund gehabt, sich zu entschuldigen. Jetzt hatte er einen, und sie war diejenige, der es leidtat.

Kaum waren sie an Bord, ging sie hinunter in die Kabine und legte sich auf das Ausziehbett. Es war hart, beengt und roch nach Seetang. Wenn sie aus dem Fenster blickte, sah sie die schlierigen Pinselstriche der Milchstraße am Himmel: leuchtende Sterne, Millionen Meilen entfernt. Sie wünschte sich, sie könnte dort sein, wünschte sich, als etwas anderes wiedergeboren zu werden. Sie zählte zweihundert Sterne, bis sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Das Nächste, was sie mitbekam, war, dass Gideon flüsterte: Wir sind wieder da. Sie schlug die Augen auf.