14

Am nächsten Morgen stand Ivy in der Küche und bereitete das Frühstück zu, bevor die anderen wach waren. Roux kam als Erster nach unten. Er musterte sie von oben bis unten – perfekt geschminkt, die Haare mit einer Perlmuttklammer zurückgesteckt, eine frische Schürze vor ihren Rock gebunden –, und wollte wissen, was sie ausgefressen hatte. »Hat Gideon es rausgefunden und dich in die Hundehütte verbannt?«, frotzelte er und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Anstatt sich wie sonst auf den Weg zum Donut-Laden zu machen, setzte er sich auf einen der Barhocker und sah zu, wie sie in konzentrischen Kreisen Himbeeren auf einer Schale mit Joghurt arrangierte. »Du hast ein Fleckchen ausgelassen«, sagte er, schnappte sich eine Himbeere und warf sie sich in den Mund. »Fang lieber noch mal von vorne an.«

Ivy griff nach dem Obstmesser, um eine Kiwi zu vierteln. »Gestern, auf dem Boot …«, sagte sie ruhig, »hat Sylvia mich gebeten, dich zu überreden, morgen mit uns in die Kirche zu gehen.«

»Warum?«

»Weil es ihren Eltern wichtig ist.«

»Nein. Warum hat sich dich gebeten, mit mir zu sprechen?«

Ivy warf ihm einen durchdringenden Blick zu, aber er schien wirklich nicht zu wissen, warum seine Freundin davon ausging, Ivy könne Einfluss auf ihn nehmen. Vielleicht war nur sie es gewesen, die auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen war – wegen ihrer gemeinsamen Geschichte, die er für so belanglos zu halten schien, dass er sie Sylvia gegenüber nicht einmal erwähnt hatte.

»Wie dem auch sei, ich werde nicht mitkommen«, sagte er und nahm sich eine weitere Himbeere.

»Das Gegenteil von dem zu tun, was sich die anderen wünschen, ist nicht lustig, es ist kindisch.«

Er betrachtete sie kalt. »Wer sagt, dass ich lustig sein möchte?«

Sie spürte sein Verlangen, einen Streit vom Zaun zu brechen, und verkniff sich ihren »Lehrerinnenton«, der ihn nur noch mehr aufstacheln würde.

»Wie du meinst. Aber sollte deine Freundin danach fragen – ich habe versucht, dich zu überreden.«

»Du bist so …«

»Ja?«

»Egal. Es ist eh noch viel zu früh für so was.«

»Offenbar möchtest du mir etwas sagen. Es ist ungesund, alles hinunterzuschlucken.«

»Kennst du diese Affen, die klatschen und kreischen, wenn ihr Besitzer mit der Peitsche schnalzt?« Er machte eine entsprechende Handbewegung. »So bist du, wenn es um die Speyers geht. Machst ihnen das Frühstück. Erledigst ihre Besorgungen. Wann bist du eine gottverdammte Arschkriecherin geworden? Es macht mich stinkwütend, wenn ich dich so sehe.«

Sie fragte, ob er fertig sei. War er nicht.

»Sie verkaufen dich für dumm, und du merkst es nicht mal. Glaubst du wirklich, dass du diesen Leuten etwas bedeutest ? Sie sorgen sich mehr um einen dahergelaufenen Streuner als um dich. Sie wollen nur, dass du klatschst. Klatsch, Affe, klatsch!«

Ivy hob das Messer zum Mund und leckte den Saft ab. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte sie ruhig. »Du wärst gern derjenige mit der Peitsche.«

Sie kehrte ihm den Rücken zu und trat an den Herd. Ihre Hände zitterten vor Empörung, als sie die Würstchen wendete. Schließlich hörte sie, wie er aufstand und die Küche verließ. Als sie wieder klar denken konnte, waren die Würstchen verbrannt – verkohlt und nicht mehr zu retten.

Die Speyers kamen gegen zehn herunter. Ted und Poppy lobten das Frühstück, als hätte noch nie ein Gast Toast und Rührei für sie gemacht. Ted erkundigte sich wiederholt, wie Ivy die Eier zubereitet hatte, weil sie so ausgesprochen köstlich seien. »Viel Butter«, erklärte sie, überschäumend vor Freude. Sie gab Gideon einen kleinen Kuss auf die Lippen. Er sprach in einem normalen, heiteren Tonfall mit ihr. Gegen die unbesiegbare Kraft des sinnlosen Morgengeplauders kam kein noch so hohes Maß an Unbehagen an. Deshalb war sie so früh aufgestanden und hatte Frühstück gemacht. Sie löffelte etwas Joghurt in eine Schale, träufelte Honig darüber und reichte sie Gideon mit einem breiten Lächeln. Zu zeigen, dass man von der Schlacht verwundet war, bedeutete, den Krieg zu verlieren.

Roux kam ebenfalls zum Frühstückstisch. Er zog Sylvia zur Veranda und redete mit barscher Stimme auf sie ein, während die anderen vorgaben, nicht mitzubekommen, was sich hinter der dünnen Schiebetür abspielte. Sylvia rührte sich nicht, Roux hingegen wanderte ruhelos auf und ab. Dann verließ Sylvia die Veranda. Roux rief ihr mit lauter Stimme hinterher: »Du weißt, wovon ich rede, du machst das doch nur …«

Wortlos lief Sylvia die Treppe hinauf; Roux blieb draußen und zündete sich eine Zigarette an.

»Diese Eier sind wirklich köstlich«, sagte Ted.

»Schluss mit den Eiern«, sagte Poppy.

Nachdem sie Poppy geholfen hatte, die Teller in die Spülmaschine zu räumen, ging Ivy hoch, um für die juristische Aufnahmeprüfung zu lernen. Zu ihrer Überraschung sah sie Sylvia am Fenster ihres Zimmers stehen. Als Sylvia sie erblickte, nahm sie schnell die Hand von Ivys Tisch.

»Pepper ist entwischt. Ich bin auf der Suche nach ihm.«

Ivy sah sich in dem leeren Raum um. »Ist er hier?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich habe ins Bad geschaut, aber da ist er auch nicht.«

Ivy fragte, ob sie auch unter dem Bett nachgesehen habe, dann ließ sie sich auf die Knie fallen, doch außer Wollmäusen, die über die Bodendielen wuselten, war nichts darunter.

»Ich werfe mal einen Blick auf den Dachboden«, sagte Sylvia und huschte hinaus in den Flur. »Gib mir Bescheid, wenn du ihn siehst.«

Irgendetwas stimmte nicht. Ivy trat an ihren Schreibtisch. Ihr Vorbereitungsbuch war bei einer Seite aufgeschlagen, die sie nicht kannte. Sie blätterte durch die Seiten, dann hielt sie es hoch und schüttelte es. Roux’ Zeichnung, die sie hineingelegt hatte, damit sie nicht zerknitterte, war verschwunden.

***

Ivy fand Gideon vor der Haustür, wo er sich nach dem Schwimmen einen ruhigen Platz zum Arbeiten gesucht hatte. Sie fragte ihn, ob er Sylvias Kater gesehen habe. Er verneinte.

»Willst du ihn wirklich mit nach Boston nehmen?«, fragte sie.

»Ich denke schon.«

»Dann werden wir unsere gemeinsame Zeit von nun an wohl bei mir verbringen müssen …«

Er sah kurz von seinem Laptop auf und versicherte ihr, er werde dafür sorgen, dass seine Wohnung frei von Katzenhaaren sei, sie werde Peppers Anwesenheit kaum bemerken und außerdem gehe es ihr doch sehr viel besser, seit sie die Antihistaminika einnahm. Toms Mutter habe behauptet, dass sich mit der Zeit eine gewisse Toleranz einstellen würde. Während er sprach, tippte er unablässig weiter, als wären seine Finger selbstständige Wesen, die losgelöst von seinem Gehirn agierten.

»Sylvia hat ihn gefunden«, sagte Ivy. »Und sie scheint jetzt schon an ihm zu hängen. Warum behält sie ihn dann nicht?«

»Sie darf in ihrer Wohnung keine Haustiere halten, trotzdem hat sie es sich in den Kopf gesetzt, Pepper zu retten. Es ist richtig, sie zu unterstützen.« Sein bestimmter Tonfall ließ keine weiteren Diskussionen zu.

Ivy spürte, wie sie die Brauen zusammenzog, als würde sie auf etwas blicken, das sich in weiter Ferne befand.

»Solltest du Sylvia wirklich immer um jeden Preis bei Laune halten?«

»Wie meinst du das?«

»Es kommt mir so vor, als würde sie deine Fürsorglichkeit für selbstverständlich halten. Sie erwartet, dass du mit ihr redest, selbst wenn du bis über beide Ohren in Arbeit steckst oder mit mir zusammen bist. Sie sagt jedes Mal, dass sie mehr Zeit mit dir verbringen möchte, dabei unternehmt ihr ohnehin ständig etwas allein miteinander. Sie muss nur Laut geben, und schon springst du.«

»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Gideon und hörte endlich auf zu tippen. »Sylvia und ich haben viel durchgemacht. Das hat uns zusammengeschweißt.«

»Ich habe davon gehört. Es ist sicher schwer, das Kind eines Senators zu sein.« Das war nicht fair, und Ivy wusste das. Gideon hatte sich nicht beklagt.

»Wenn dich Sylvias Verhalten gekränkt hat«, sagte Gideon in gemessenem Ton, »kann ich mit ihr reden …«

»Ich bin nicht diejenige, die gekränkt ist, sondern sie …« Ivy überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie Sylvia in ihrem Zimmer ertappt hatte und dass seitdem Roux’ Zeichnung verschwunden war, doch dann bremste sie sich. So dumm durfte sie nicht sein. Gideon hatte einen Streuner über sie gestellt. Er würde ihr niemals mehr glauben als seiner Schwester.

»So oder so, es stört mich, euch beide streiten zu sehen«, sagte Gideon. Er klang genau wie sein Vater, als dieser Poppy am Strand gemaßregelt hatte: Aber, aber, Poppy.

Ivy stand auf. »Wir streiten nicht. Es tut mir leid.« Roux’ Stimme hallte in ihren Ohren nach: Klatsch, Affe, klatsch!

»Ich bin oben und lege mich vor dem Abendessen noch ein bisschen hin«, sagte sie. Würde er sie aufhalten? Nein. Das Klackern der Tastatur holte sie ein, noch bevor sie die Treppe erreicht hatte.

Sie bog nach links in den Hauswirtschaftsraum ab. Sie wollte Sylvia nicht begegnen oder – schlimmer noch – in Roux’ triumphierendes Gesicht blicken. Da hatte er wohl recht behalten, was ihre unterwürfige Beflissenheit betraf, die ihr am Ende doch nichts genützt hatte. Mittlerweile war offensichtlich, dass Gideon sie abservieren würde. Er liebte sie nicht, er begehrte sie nicht, er saß nur die Zeit aus bis morgen. Bald schon wäre sie nur eine weitere Geschichte, die die Speyers im nächsten Sommer am Abendbrottisch erzählten: Erinnert ihr euch an Ivy Lin? Ein sehr nettes Mädchen. Dann würden sie sie ungerührt wegstecken wie die Postkarte einer nicht weiter erwähnenswerten Stadt, in der sie irgendwann einmal Urlaub gemacht hatten. Die Freundlichkeit der Speyers hatte Ivy zu der Annahme verleitet, dass sie in gewisser Weise zur Familie zählte, während sie in Wirklichkeit nicht mehr für sie war als ein Ball, der von einer Schaumstoffwand abprallte. Ivy musste an eine von Meifengs Weisheiten denken: Die Freundschaft eines Gentleman ist fade wie Wasser. Ja, das traf auf die Speyers zu. Fade. Wischiwaschi. Nicht greifbar. Dinge, die nicht greifbar waren, konnte man definitiv weder verletzen noch durchdringen.

Sie hieb mit der Faust auf die Waschmaschine. Das metallische Geräusch hallte durch den Raum. Sie hörte ein zorniges Fauchen und wich angstvoll zurück.

In einem Wäschekorb saß Sylvias Kater auf einem Haufen schmutziger Kleidung, die Beine zum Sprung angezogen, und funkelte sie an.

»Hast du mich erschreckt«, sagte sie.

Der Kater entspannte sich und gähnte, wobei er seine spitzen Zähne entblößte, dann sprang er aus dem Korb und schlenderte schnurstracks zur Hintertür, die in den Garten führte. Dort angekommen, blieb er stehen, drehte sich um und sah Ivy mit seinen gelben Augen an.

»Willst du raus?«

Er rieb den Kopf an der Tür, dann kam er auf sie zu, die Ohren angelegt, den Schwanz gesenkt, der über den Boden zuckte wie ein Staubwedel.

»Oh, kusch, kusch!« Sie trat nach ihm. Fauchend sprang er zur Seite.

Ivy streckte den Arm aus und stieß die Hintertür auf. Er regte sich nicht. Sie griff nach dem Besen in der Ecke und schwenkte ihn in seine Richtung. Der Kater machte einen Satz zur Tür hinaus ins Gras. Er sah sich noch einmal nach ihr um, und als sie ihm erneut mit dem Besen drohte, machte er kehrt und flitzte davon.

An diesem Abend aßen sie draußen auf dem Rasen. Poppy hatte den Tisch geschmackvoll dekoriert: frisch geschnittene Rosen in Einmachgläsern, gestärkte weiße Servietten, Champagnerflöten neben geblümten Platztellern. Der Duft nach Butter und Kräutern – Salbei, Rosmarin, Thymian – wehte vom Holzkohlegrill zu ihnen herüber. Poppy hatte den Nachmittag damit verbracht, Champignons und Paprika auf Holzspieße zu stecken, während Ted sich ums Feuer kümmerte. Ivy trug das dunkelblaue wadenlange Kleid, das sie an ihrem ersten Tag in Finn Oaks für zu freizügig gehalten hatte. Mittlerweile war es ihr egal. Sylvia behauptete, es interessiere sie nicht mehr, was die Leute von ihr dachten, doch Ivy wurde klar, dass das nicht stimmte. Es war Sylvia wichtig, dass die Leute dachten, es würde sie nicht interessieren.

Poppy, strahlend schön in einem bodenlangen Blumenrock und ihrem graublonden, zu einem niedrigen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar, sorgte dafür, dass sich alle zu einem Foto vor der Veranda aufstellten, dann bat sie Roux, als Fotograf zu fungieren. Er zuckte gleichgültig die Achseln und stellte den Selbstauslöser ein. Sie nahmen Platz. Ivy saß zwischen Roux und Gideon.

Eins – zwei – drei … Das Blitzlicht flammte auf.

»Du siehst hübsch aus«, sagte Gideon danach.

»Danke.«

»Möchtest du ein Glas Wein?«

»O ja. Weiß, bitte.«

Als er aufstand, um den Wein zu holen, drehte sich Roux zu Ivy. »Tut mir leid wegen heute Morgen. Ich stand wohl etwas neben mir.«

Seine Worte überrumpelten sie. Sie hatte gedacht, er würde eine weitere bissige Bemerkung machen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch sie konnte nicht sprechen. Unerwartete Freundlichkeit brachte sie oft zum Weinen, Grausamkeit dagegen nie. »Und wie willst du das wieder gutmachen?«, fragte sie, nachdem sie die Fassung zurückgewonnen hatte.

Er blickte sie prüfend an, als wollte er abschätzen, ob ihre Frage ernst gemeint war. »Wie wär’s, wenn ich euch morgen mit in diese Kirche begleite? Das scheint dir ja ziemlich wichtig zu sein.«

Durch die Fliegengittertür sah Ivy Sylvia neben Gideon in der Küche stehen, ins Gespräch vertieft. Gideon schüttelte den Kopf. Sylvia legte wie zum Trost eine Hand auf seine Schulter: Ich weiß, es ist schwer, aber du musst ihr sagen, dass es vorbei ist.

»Vergiss es«, sagte Ivy, die Augen wieder auf Roux gerichtet. »Es könnte mir nicht gleichgültiger sein.«

Gideon kehrte mit leeren Händen an den Tisch zurück.

»Wo ist mein Wein?«

Er öffnete überrascht den Mund. »Es tut mir leid. Ich bin gleich zurück!«

Sie wandte sich ab. »Halb so wild. Ich nehme den roten.« Sie deutete auf die Flasche auf dem Tisch. »Ted würde gern das Tischgebet sprechen.«

Als Ted fertig war, hob Poppy ihr Champagnerglas. »Ich bin so glücklich, mit euch an diesem besonderen Ort zu sein. »Ivy« – Ivy blickte auf –, »wir wünschen dir viel Glück für die bevorstehende Aufnahmeprüfung. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diese ganz besondere Woche mit uns zu verbringen.«

Sie stießen miteinander an.

Poppy hatte Roux mit keinem Wort in ihrer Tischrede erwähnt. Ivy begriff, woher Sylvias Gehässigkeit rührte. Sie schaute zu Roux hinüber, um zu sehen, ob er es bemerkt hatte. Doch sein Ausdruck war wie immer: stoisch, hölzern. In ihr wallte neues Wohlwollen auf – für Roux, den Mit-Außenseiter, dessen Kratzbürstigkeit sie nun als Ausdruck seines Selbstbewusstseins und vielleicht sogar einer gewissen Überlegenheit wertzuschätzen wusste. Seine Verschlossenheit kam ihr vor wie ihre eigene Rache.

Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und leerte es in einem Zug. Ted bot ihr an, nachzuschenken. Sie griff nach einer Scheibe Focaccia. Roux reichte ihr den Brotkorb; ihre Fingerknöchel stießen gegeneinander, ein paar Brötchen fielen heraus. Er nahm eins davon vom Tisch und legte es auf seinen Teller. Dann legte er eins aus dem Brotkorb auf ihren. Über seine Schulter hinweg sah Ivy Sylvias Gesicht. Die Fassade der Gleichgültigkeit war verschwunden und eiskaltem Zorn gewichen, wie vor ein paar Tagen, als Roux Ivy die Zeichnung geschenkt hatte. Ein Gefühl von verwundertem Erstaunen blähte Ivys Brust auf wie Sauerstoff. Sylvia Speyer war eifersüchtig. Auf sie.

»Das ist so schön zu hören, Liebling«, sagte Poppy, nachdem Sylvia ihnen von dem bevorstehenden Projekt mit ihrem Doktorvater erzählt hatte. Sie wollte eine Skulptur aus dem sechzehnten Jahrhundert restaurieren. »Teamwork ist ausgesprochen wichtig, das habe ich während meiner jahrelangen Wohltätigkeitsarbeit gelernt. Um schnell voranzukommen, heißt es, muss man allein sein, doch um weit zu kommen, muss man sich mit anderen zusammentun.«

»Hast du das auf einem Kühlschrankmagneten gelesen?«, wollte Sylvia wissen.

»Auf einem Lesezeichen, das Cynthia mir geschenkt hat. Es steckt sehr viel Wahrheit darin – ich glaube zu hundert Prozent daran.«

»Weißt du noch, als Mom einmal bei Cynthia war und mit einem Abzieh-Tattoo zurückkam, Giddy? Sie hat behauptet, es sei echt!«

»Eure Mom war damals eine echte Rebellin«, mischte Ted sich ein. »Als ich sie kennengelernt habe, hat sie gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Eine Zeit lang war sie in einer Rockband, trug eine Lederjacke und hatte die Haare rosa gefärbt. Ich musste sie davon abhalten, sich ein Tattoo von Led Zeppelin stechen zu lassen.«

»Oh, sei bloß still, Ted!«, wehrte Poppy ab.

»Das kennen wir doch alles schon, Daddy«, sagte Sylvia. Sie lächelte zuckersüß. »Es sind keine Journalisten in der Nähe.«

Teds Strahlen in dem hellrosa Gesicht erlosch wie bei einem Trinker, dem man gerade eben mitgeteilt hatte, dass er die Aufforderung zur letzten Runde versäumt habe.

Eifersucht stand Sylvia gar nicht, fand Ivy. Sie war am schönsten, wenn sie sich herablassend gab.

»Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie gut du aussiehst?«, fragte Ivy Roux mit absichtlich gesenkter Stimme. »Wie ein geschmeidiger schwarzer Panther.«

»Ist das ein Kompliment?«

»Wie sehe ich denn aus?«, wollte sie wissen.

Er betrachtete sie eingehend. »Betrunken.«

»Ich bin ganz und gar nicht betrunken. Außerdem solltest du ein Mädchen nicht damit aufziehen, dass es betrunken ist, selbst wenn es stimmt.«

»Warum nicht?«

»Weil sich so etwas für einen Gentleman nicht gehört.«

»Du möchtest, dass ich mich mehr wie ein Gentleman benehme?«

»Selbstverständlich.«

»Bist du dir sicher?«

Sie flirteten. Es fühlte sich aufregend an, verwirrend, Roux auf diese Art zu begegnen, diesem Menschen, den man damals in ihrer Kindheit für verrucht und moralisch verwerflich gehalten hatte. Dennoch kam es ihr vage vertraut vor, von diesen aufmerksamen blaugrauen Augen gemustert zu werden – wie ein Song, den sie schon einmal gehört, aber vergessen hatte.

»Ich will dich schon die ganze Woche über etwas fragen«, sagte sie.

»Ja?« Er füllte ihr Wasserglas nach. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten miteinander.

»War ich besser im Bett als Sylvia?«

Roux’ Blick wurde kalt. »Was ist los mit dir?«

Ivy zuckte zurück. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, griff sie nach ihrem Weinglas und leerte es mit großen Schlucken, so gierig, dass etwas aus ihren Mundwinkeln lief. Roux reichte ihr eine Serviette.

»Egal«, knurrte er.

Nach dem Essen holte Ted Gartenstühle aus der Garage und arrangierte sie rund um das knisternde Feuer am Strand, für das Gideon Treibholz aufgeschichtet hatte. Alle trösteten Sylvia wegen des entlaufenen Katers. Bildete Ivy sich das nur ein, oder warf Gideon ihr ein paar fragende Blicke zu? Sie betrachtete den feinen weißen Schaum in Ufernähe, mehr war nicht vom Atlantik zu sehen. So ein großer Ozean, und doch war das meiste davon unsichtbar, verschluckt von der Dunkelheit, die vom Himmel herabdrückte wie ein nasses Handtuch.

Roux verschwand im Haus, um einen Anruf entgegenzunehmen. Ivy verkündete, sie fange an zu frieren und wolle sich daher ebenfalls zurückziehen. »Soll ich dich begleiten?«, fragte Gideon. Sie verneinte. Es sei völlig in Ordnung, wenn er noch bleibe.

Die Lichter im Haus waren aus. Von der Veranda aus wirkte das lodernde Feuer am Strand nicht größer als ein Basketball. Sie ging die Stufen im Dunkeln hinauf. Das einzige Licht im Flur drang durch den Spalt unter Roux’ und Sylvias Zimmertür. Sie klopfte vorsichtig an.

Roux öffnete. Er schien nicht überrascht, sie zu sehen, zumindest ließ er sich nichts anmerken.

»Packst du für morgen?«, fragte sie und schloss leise die Tür hinter sich. Auf dem Bett stand eine offene Reisetasche, halb gefüllt mit Roux’ wenigen Sachen.

»Ich reise jetzt ab.«

All die Gedanken, die Ivy so sorgfältig sortiert hatte, stoben auseinander wie Asche. »Warum?«

»Ein Stromausfall in einer meiner Fabriken in Brooklyn. Ich muss mir das vor Ort ansehen.«

»Du fährst nach Brooklyn? Nach New York

»Ja, dort liegt Brooklyn nun einmal.«

»Jetzt sofort?«

»Ja.«

»Und was ist mit Sylvia?«

Roux zuckte die Achseln. »Ich habe ihr gesagt, sie soll bei Gideon und dir mitfahren.« Er wirkte abgelenkt, gehetzt, dabei schien er es alles andere als eilig zu haben, denn er schloss seine Reisetasche nur zögerlich und sah sich noch einmal im Zimmer um, bevor sein Blick schließlich auf ihr landete. »Viel Glück mit allem«, sagte er und wartete darauf, dass sie die Tür freigab. Aber sie wollte nicht zur Seite gehen. Wollte sich ihm in den Weg stellen.

»Willst du nicht wissen, warum ich zu dir gekommen bin?«, stieß sie mit rauer Stimme hervor.

»Nein, nicht wirklich.«

»Warum hast du Sylvia nicht gesagt, was zwischen uns war?«

»Was war denn zwischen uns?« Seine Gleichgültigkeit war undurchdringlich.

»Sylvia hat mir erzählt, du wusstest, dass ich hier sein würde. Trotzdem hast du überrascht getan, als du mich gesehen hast.«

Er schwieg.

»Bist du meinetwegen hergekommen?«

»Alles dreht sich immer nur um euch«, erwiderte er kühl. »Du und Sylvia habt vieles gemeinsam.«

»Ich habe mich gefreut, dich wiederzusehen«, sagte sie.

»Das ist mir entgangen.«

»Wir waren gute Freunde.«

»Freunde?« Er starrte sie mit offenem Mund an, dann ließ er seine Reisetasche fallen. Sein Gesichtsausdruck erinnerte sie an die Wasserspeier-Buchstützen in der Nische im Flur – in Ivys Augen ein vielversprechendes Zeichen.

»Weißt du eigentlich, was passiert ist, nachdem du in jenem Sommer abgehauen bist? Ich bin zu eurem Haus gegangen. Deine Großmutter hat mich verflucht. Deine Mutter hat mir verboten, jemals wieder in deine Nähe zu kommen. Dein Dad war ebenfalls da – er musste übersetzen, aber ich habe die Botschaft auch so verstanden. In ihren Augen war ich ein schlechter Mensch – ich hatte dich verdorben. Ist das nicht seltsam? Eltern kennen ihre eigenen Kinder nicht.«

Ivy versuchte, sich zu verteidigen – sie sei außer Landes gewesen, ihre Eltern seien ohne ihr Wissen umgezogen –, aber Roux fuhr mit beißender Stimme fort: »Du hättest mir nach deiner Rückkehr wenigstens eine beschissene Postkarte schicken können – Hallo, hier ist Ivy; ich bin noch am Leben

»Ich dachte nicht, dass dich das interessiert!«, rief sie aus. Was gelogen war. Sie wusste, dass sie ihm etwas bedeutet hatte, aber das war ihr damals gleich gewesen.

»Hast du dich wirklich gefreut, mich hier zu sehen?«

»Selbstverständlich.« Sie zögerte. »Du warst schließlich der Erste für mich. Das habe ich noch nicht einmal Gideon erzählt.«

Er verzog die Lippen. »Damals hast du etwas anderes behauptet.«

»Ich habe gelogen.«

»Ich habe auch gelogen. Ich will es sehr wohl wissen.«

»Was willst du wissen?«

»Warum du heute Abend zu mir gekommen bist.«

Da war sie. Die Stimme aus ihrem Traum. Das Glücksgefühl ließ ihre Beine zittern. Sie sah nun deutlich, dass sich die Menschen in zwei Kategorien einteilen ließen: diejenigen, die handelten, und diejenigen, die auf die Vorgaben der ersten Kategorie reagierten.

Sie ging zu ihm. Roux’ Augen, die ihr entgegenblickten, sahen aus wie die Schuppen eines wunderschönen Fisches. Ihr Herz bebte vor Schmerz. Er brachte seine Lippen an ihre Augenlider, küsste erst eins, dann das andere, bevor er eine lange Spur von Küssen von ihrer Schläfe zum Mund hinterließ, zuerst sanft, doch als sie in seine Unterlippe biss, umfasste er ihren Nacken mit beiden Händen und küsste sie so heftig, dass ihre Zähne zusammenstießen. Keiner von beiden atmete, bis einer den anderen an sich riss – näher, näher! Ihre Hände glitten unter sein Shirt. Sie drückte die Handfläche gegen seinen Bauch, spürte, wie sie sich hob und senkte, wenn er atmete. Er umschloss ihre Handgelenke und drückte ihre Hand fester auf seine Haut. Sie spürte seine Rippen. Er gab ein Geräusch von sich, als hätte er Schmerzen, und sie wusste, dass er ihr völlig ergeben war. Der Laut löste etwas in ihr aus: Sie verspürte ein süßes, flammendes Bedürfnis tief im Innern; ihr Rückgrat gab nach, genau wie ihre Beine; ihr Schritt wurde feucht. Er umfasste ihre Pobacken, hob sie hoch und machte zwei Schritte zurück. Sie fielen aufs Bett; sie landete auf ihm.

Mit einer einzigen Bewegung zog er ihr das Kleid aus und warf es auf den Fußboden. Sie setzte sich mit gegrätschten Beinen auf ihn und öffnete ihren BH , den sie neben das Kleid warf. Dass sie einander nicht zum ersten Mal nackt sahen, machte es nur noch aufregender – sie konnten das Vorspiel überspringen. Er setzte sich auf und nahm ihre Brustspitze in den Mund. Sie stöhnte auf und fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare, bis er seinen Kopf zurückfallen ließ und sie ihn auf den Mund küsste. Langsam glitten ihre Lippen tiefer. Sie grub die Zähne in seinen Hals. Irgendwie hatte er Hose und Unterhose abgestreift. Ihre Augen begegneten sich. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Knie; er zog sie über seinen Schoß, dann senkte sie sich auf ihn herab. Die Matratze quietschte.

Sie warfen gleichzeitig die Köpfe zurück. Ivy stieß einen zischenden Laut aus, während sie die Hüften kreisen ließ, winzige Bewegungen, die ein Zittern durch ihren ganzen Körper schickten. Sie beugte sich vor und legte ihre Hände auf seine, dann drückte sie die Beine fester um seine Hüften – sie würde jeden Moment kommen –, und fing an, sich vor und zurück zu bewegen. Roux’ Mund war zu einem Oval verzogen. Sie war schweißbedeckt. Haut traf auf Haut und löste sich wieder, traf zusammen und löste sich. Jedes Mal, wenn sie ihn in sich versenkte, entlockte sie ihm ein Geräusch, das sie dazu antrieb, schneller zu werden, ihn zum Gipfel des Verlangens und weiter zu bringen. Sie öffnete die Augen. Roux’ Kopf war auf das Kissen gesackt; er hatte die Augen geschlossen.

Langsam stieß sie die Luft aus, der Raum um sie herum wurde wieder scharf. Ihr erster Gedanke galt dem Fenster – Gott sei Dank war es geschlossen; niemand am Strand hatte sie hören können. Ihr zweiter Gedanke war der, dass es nicht lange dauern würde, bis die Speyers zurückkamen, um schlafen zu gehen. Trotzdem erlaubte sie es sich, sich neben Roux aufs Bett gleiten zu lassen und die Wange an seine Brust zu legen.

»Hast du noch Zigaretten da?«

Roux deutete auf seine zerknüllte Jeans. Ivy zog eine zerknautschte Schachtel Camel aus der Hosentasche. Er zündete eine für sie an, dann eine für sich. Er hielt die Zigarette in der linken Hand, die rechte hatte er in dem feuchten Tal zwischen ihren Oberschenkeln versenkt. Sie nahm eine Kaffeetasse vom Nachttisch und stellte sie als Aschenbecher aufs Bett. »Ich werde morgen mit Gideon Schluss machen«, sagte sie, als die Flut der Glückseligkeit, ausgelöst vom Nikotin, ihr Gehirn erreichte. »Bleib heute Nacht hier. Ich habe nächste Woche nichts vor. Ich kann morgen mit dir nach New York fahren.«

Es war verblüffend, Roux ohne den üblichen Spott, ohne jede Ironie oder Verächtlichkeit lächeln zu sehen. Sein Lächeln war einfach nur das – ein Lächeln. Er lächelte, weil er glücklich war. »Du bist schön«, sagte er und strich mit der Hand über ihr Bein. Ihr Herz flatterte vor Freude und Kummer. Schön … Roux war der erste Mensch auf Erden, der sie »schön« genannt hatte.

»Was wirst du Sylvia sagen?«, fragte sie. Seine Hand unterbrach die Liebkosungen, und für eine Sekunde verspürte sie Furcht. Doch dann runzelte er die Stirn und antwortete, er würde ihr die Wahrheit sagen, dass es zwischen ihnen ohnehin nie etwas Ernstes gewesen war. Dass er seine Freundin verlassen wollte, fühlte sich entgegen Ivys Erwartungen enttäuschend an. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Roux sich zwischen ihnen hätte entscheiden müssen. »Warum warst du dann mit ihr zusammen?«, wollte sie wissen.

»Wegen ihres Gesichts, weswegen sonst?«

Ivy sah aus dem Fenster, wo die Schatten der Eiche wie riesige Palmwedel über das Glas strichen. »Ich sollte jetzt besser gehen. Die Speyers können jeden Moment zurückkommen. Wirst du bis morgen auf mich warten?«

Sie hörte das Dröhnen seiner Stimme, das von ihrem Trommelfell widerhallte, als er mit den Lippen über ihre Schläfe strich und sagte: »Natürlich.« Plötzlich begriff Ivy, dass das Leben immer so leicht sein konnte. Eine Zigarette nach dem Sex. Pläne, im Bett geschmiedet. Ehrliche Doppelzüngigkeit anstatt der weitaus anstrengenderen doppelzüngigen Ehrlichkeit.

Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Römer 8, 18. Der Geistliche schloss die Bibel. Lasset uns beten.

Ivy schloss die Augen, erfasst von Unsicherheit. Hatte sie vergangene Nacht schon wieder eine Dummheit begangen? Sie stellte sich Gideons Gesicht vor, wie er mit herabgezogenen Mundwinkeln an seinem Laptop saß, distanziert und ungerührt, blind – oder gleichgültig – gegenüber ihrem Leid. Ihr Herz wurde hart. Anschließend versuchte sie, sich das herrliche Leben auszumalen, das sie mit Roux erwartete. Sie würden Neuengland verlassen, würden die eisigen Winter, die nervtötenden Verkehrskreisel und die bröckelnden Backsteingebäude hinter sich lassen für … ja, wofür? Sie dachte an das Loch in Roux’ Socke. Die verwaschene Jeans. Wenigstens hatte er etwas Geld und einen hübschen Wagen. Vielleicht konnten sie damit quer durchs Land fahren, Burger essen und Bier trinken, während sie sich wie das verliebte Paar aus einem Countrysong-Video durch die Glücksspielstädte treiben ließen … Sie würden nach Kalifornien fahren, eine Ranch kaufen, einen Zitronenhain anpflanzen – was eine mögliche Version von Erfolg war.

Die Gemeinde um sie herum erhob sich und schlug die Gesangbücher auf. Die Stimmen hallten durch die Kirche: Sammeln wir am Strom uns alle, wo die Engel warten schon … Ivy ließ den Blick über die Kirchenbank schweifen. Die vier Speyers hatten die Köpfe gesenkt und sangen voller Inbrunst; die Sonne, die durch die Kirchenfenster hereinfiel, umgab ihre blonden Schöpfe mit einem Heiligenschein. Wenn du mich liebst, wirst du mich ansehen, dachte sie, die Augen auf Gideon geheftet. Wo sonst sollte man Gott um ein Zeichen bitten, wenn nicht in der Kirche? Er hob nicht den Kopf. Sah sie nicht an.

Als sie wieder in Finn Oaks waren, fragte Gideon, ob sie Lust auf einen letzten Strandspaziergang mit ihm habe. Es gebe da etwas, was er ihr sagen wolle. Sie wünschte sich beinahe, sie könne ihm die Mühe ersparen; er sah so blass und ernst aus in seinem schwarzen Sonntagsanzug und mit den beiden tiefen Falten zwischen den Augenbrauen, als wäre er gerade eben auf einer Beerdigung gewesen. Doch dann begegneten ihre Augen denen von Roux, der sie über die Kücheninsel hinweg ansah. Er nickte unmerklich, und sie lächelte tapfer, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

Sie folgte Gideon über den Rasen, der ihr während der vergangenen Woche so vertraut geworden war, und den schmalen Pfad mit den leuchtend fuchsiafarbenen Japanrosen und den nach dem Regen der letzten Tage so üppig wuchernden Sträuchern entlang zum Strand. Auf dem Weg hinunter zum Wasser spürte sie den Sand, feucht und weich, zwischen ihren Zehen. Gideon ging barfuß, die Hose aufgekrempelt bis zur Wade. Sie trat in seine Fußstapfen. Obwohl sie ihre Sandalen anbehalten hatte, konnten ihre Füße sie nicht ausfüllen.

Sie sprachen nicht viel miteinander. Gelegentlich deutete Gideon auf eines der Nachbarhäuser: Siehst du das mit dem Flachdach unserem Haus gegenüber? Die Scollocks leben das ganze Jahr über hier … Sie haben keine Kinder und bleiben meistens für sich … Mr. Scollock geht wegen seiner Arthritis jeden Morgen im Meer schwimmen … Die Clarks wohnen dort drüben … Erst der Small Talk, dann das Geschäftliche. Für Leute wie die Speyers folgte alles einer Ordnung.

»Es ist schön, dass ihr so gut mit euren Nachbarn auskommt«, sagte Ivy.

»Das hier« – Gideon machte eine ausladende Armbewegung in Richtung Ozean – »liegt mir im Blut. Ich habe ständig Heimweh nach diesem Ort. Als ich klein war, habe ich meine Eltern überredet, mitten im Winter von Andover hierher zu fahren, damit ich auf die Felsen klettern konnte. Die schönsten Sommer habe ich in Finn Oaks verbracht. Mein erster Kuss, mein erstes … Nun, du weißt schon.« Sie blieben an einem abgelegenen Teil des Strandes stehen, der den Blicken der Clarks und Scollocks verborgen blieb. Ineinander verschlungener Seetang lag ausgebreitet auf einem Stück Treibholz wie ein verrottender Kadaver. Ivy versuchte, sich einen jungen, nackten Gideon auszumalen, der sich auf diesem öden, stinkenden Stück Strand wälzte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er sich derart gehen ließ. Aber genau das hatte er einst getan. Nur nie bei ihr.

»Das ist lange her«, sagte Gideon, hob einen Kieselstein auf und warf ihn ins Wasser. »Aber ehrlich – ich hätte nichts dagegen, meine Kinder hier großzuziehen. Hat es dir gefallen?«

Das hatten die Speyers Ivy die ganze Woche über gefragt: Gefällt es dir, hast du gut geschlafen, amüsierst du dich? Und ganz gleich, wie sie sich fühlte, hatte sie stets mit ehrlicher Überzeugung geantwortet: Ja, ich liebe es hier. Weil es immer besser war, dazuzugehören, als nicht dazuzugehören.

»Es kommt mir so vor, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet, hierherzukommen«, sagte sie und spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Was brachte es, etwas anderes zu behaupten, wenn es ohnehin gleich enden würde?

Sie schlenderten weiter die Küste entlang bis zu einer Felsformation, die ein großes Stück ins Wasser hineinreichte und so breit war, dass man darauf ins Meer hinauswandern konnte. Die Sonne war hinter grauen Wolken verschwunden. Eine mächtige Welle krachte gegen die Steine und besprühte sie mit salziger Gischt. Diese Mahnung der See, so schonungslos und gleichgültig gegenüber ihrem Schmerz, trieb Ivys Entschlossenheit an die Oberfläche wie der Seetang, der auf dem Treibholz ausgebreitet lag. Besser, sie selbst war diejenige, die ging. »Da gibt es etwas, was ich dir sagen möchte.« Sie drehte sich um. Gideon war auf ein Knie gegangen.

Die Hand, die ihre jetzt umschloss, war kalt und fest. Obwohl er direkt vor ihr kniete, klang Gideons Stimme wie aus weiter Ferne zu ihr – wie ein Signal, brummend, gesendet von einem weit entfernten Ort. Sie verstand nur einzelne Worte und zusammenhanglose Sätze: »… unerwartet … Du hast gesagt, dass du mich liebst … völlig unvorbereitet … Ich habe einige … Ich möchte dich nicht verlieren …« Am Ende kam seine Stimme zurück: »Ich möchte, dass du meine F-f-frau wirst. W-willst du m-mich heiraten, Ivy?«

Machte er Witze?, fragte sie sich. Nein, nein, nicht Gideon. Er würde niemals einen Scherz dieser Größenordnung machen. Außerdem war sein Gesicht so weiß, seine Lippen so blutleer, dass sie beinahe blau wirkten.

Eine Woge warmen Glücks ergriff sie, durchtränkte sie wie Wasserdampf, der an einem kalten Abend aus einem Eimer mit heißem Wasser aufstieg. Ihre Schultern verkrampften sich, ihr Mund stand offen. Eilig schlug sie die Hand davor. Wie sollte sie ihm danken? Wie ihre überbordende Freude ausdrücken?

»Ivy?«

»Ja! O ja!«

Dann lagen sie sich in den Armen und lachten. Er zog eine schwarze Samtschatulle aus der Tasche und öffnete sie. Der Stein war ein wunderschöner Saphir, umrahmt von kleinen Diamanten. Gideon nahm ihre linke Hand und schob ihr den Ring über den Fingerknochen. Er war zu groß. Sie machte eine Faust, um ihn daran zu hindern, direkt wieder abzurutschen.

»Wir werden ihn kleiner machen lassen«, versprach Gideon.

»Hast du den die ganze Woche über bei dir gehabt?« Hatte sie alles falsch interpretiert?

»Er gehört Grandma Cuffy«, sagte Gideon. »Mom hat ihn für mich aufbewahrt. Ich habe sie heute Morgen darum gebeten.« Ivy saugte jedes Wort in sich auf und gab ein leises Keuchen von sich. »Was Sylvia anbelangt …«, fuhr Gideon fort, »ich weiß, dass sie dich wirklich mag. Sie hat mir die ganze Woche über gesagt, wie wundervoll du bist, wie gut du in unsere Familie passt. Ich hoffe, du gibst ihr eine Chance.«

»Das spielt doch keine Rolle«, sagte Ivy, und das tat es tatsächlich nicht. »Ich war nur schlecht gelaunt. Habe mir Dinge eingebildet.«

»Sie hat das Herz am rechten Fleck.«

Ivy legte einen Finger auf seine Unterlippe. »Weißt du … Ich dachte, du würdest mit mir an den Strand gehen, um Schluss zu machen.«

Er zuckte überrascht zurück. »Warum?«

»Als ich dir gestanden habe, dass ich dich liebe, hast du Du bedeutest mir wirklich viel gesagt.« Er setzte zu einer Erklärung an, aber Ivy fügte hinzu. »Und dann hatten wir den Streit wegen dieser Katze.«

»War das denn ein richtiger Streit?« Sein Tonfall machte klar, dass er das nicht so empfand.

Ivy versuchte, ihre frühere Gewissheit zu rechtfertigen – warum war sie so wütend gewesen, so sicher, dass Gideon sich zurückzog? –, aber wie jemand, der am Ende eines Zwölf-Gänge-Menüs keinen Hunger mehr hatte, konnte sie sich auf keinen einzigen handfesten Beweis besinnen, dass Gideon oder seine Familie ihr Unrecht getan hatten. Trotzdem flackerte ein kleines Flämmchen der Sturheit in ihr auf, die darauf beharrte, dass sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte, doch es wurde erstickt von Gideons liebevoller Umarmung.

»Du hast mich nicht aussprechen lassen«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich liebe dich.«

»Du tust was ?«, wisperte sie.

»Ich liebe dich.« Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Beweg dich nicht. Ich glaube, eine Möwe hat gerade auf deine Schulter gemacht.«

»Meine Großmutter sagt, von einem Vogel angekackt zu werden, ist eines der glücklichsten Omen … Wir sind von den chinesischen Göttern gesegnet, Gideon!«

Sie lachten, bis sie Seitenstechen bekamen.

Poppys ungeschminkte Augen waren groß vor Erwartung. »Seid ihr …« Ivy hielt die Hand hoch. Poppy gab ein unterdrücktes Jubeln von sich. »Wir werden heiraten!«, rief Gideon.

Alle schnappten nach Luft. »Oh, mein kleiner Junge!«, stammelte Poppy. Ted streichelte seiner Frau den Rücken. »Wusstest du davon, Poppy?«, fragte er. Sylvia lief durchs Wohnzimmer zu Ivy und küsste sie auf die Wange. »Ich freue mich so«, flüsterte sie. Dann zog Poppy Ivy in ihre Arme. Ihre Umarmung hatte nichts Zartes, Ivy spürte, wie ihre Rippen gegen die von Gideons Mutter prallten. Poppys knochige Schultern drückten gegen ihr Brustbein. Gideon und sein Vater umarmten einander. »Ich bin stolz auf dich, Giddy«, sagte Ted, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Gideon aus wie der verschmitzte kleine Junge, den Ivy von der Highschool in Erinnerung hatte. In dem Moment wusste sie, dass Sylvia sich getäuscht hatte, was ihre Kindheit betraf, zumindest die ihres Bruders. Gideon war vermutlich stolz auf seinen Vater gewesen, stolz darauf, der Sohn eines Senators zu sein, und darauf bedacht, genauso unerschütterlich den Weg seiner Vorfahren einzuschlagen – jener Leute auf den Schwarz-Weiß-Fotos im Cottage, über die er an ihrem ersten Tag in Finn Oaks voller Bewunderung gesprochen hatte.

Als Poppy sie freigegeben hatte, stand Ivy am Rand des fröhlichen Kreises. Die Speyers drängten sich um Gideon, lachten und weinten und beendeten die Sätze der anderen. In all dem Getümmel entdeckte Ivy Roux, der ein paar Schritte entfernt stand und die Szene in sich aufnahm wie der Zuschauer einer gelungenen Farce. Entschlossen trat sie zu ihm.

»Ich nehme an, du kommst jetzt doch nicht mit mir nach New York«, sagte er.

»Hör mal«, sagte sie leise und sah sich verstohlen um, da sie sichergehen wollte, dass niemand zuhörte. »Wir haben gestern Nacht eine Dummheit begangen. Wir waren beide betrunken. Können wir nicht einfach so tun, als sei nie etwas passiert und die Sache vergessen? Es bringt doch nichts, die anderen zu verletzen und diesen Augenblick zu ruinieren.« Wie alle von ihrem eigenen Glück geblendeten Menschen sah sie ihn in der aufrichtigen Erwartung wohlwollenden Vergebens an – wie hätte man in Anbetracht des bevorstehenden heiligen Bunds der Ehe auch anderes erwarten können?

Roux beugte sich vor. Ivy dachte, er würde sie küssen. Sie trat einen Schritt zurück. Sein Lächeln war angespannt, seine Mundwinkel weiß, und irgendwie war es schockierender, als wäre er wütend gewesen. »Du hast dich kein bisschen verändert«, sagte er mit lauter, deutlicher Stimme.

»Denk an Sylvia«, zischte sie.

»Was ist mit mir?«, rief Sylvia zu ihnen hinüber.

Roux sah seine Freundin an. »Lass uns Schluss machen.« Sylvias Miene erstarrte, dann erschien ein höhnischer Ausdruck auf ihrem Gesicht. Es war das menschlichste Gesicht, das Ivy je an ihr gesehen hatte.

»Es würde niemals funktionieren«, sagte Roux. »Du kannst deine Sachen bei mir abholen, sobald du zurück bist.« Sein verächtlicher Blick schweifte über sie alle, dann verweilte er auf Gideon, der sich vor seine Schwester stellte.

»Ist das wirklich die passende Zeit und der passende Ort, Roux?«, fragte Gideon.

Roux schüttelte den Kopf. »Du armseliger Wichser.« Dann warf er seine Reisetasche über die Schulter und ging. Hinter ihm fiel die Haustür mit einem lauten Knall zu.

Keiner rührte sich. Dann sagte Poppy: »Auf Nimmerwiedersehen!«, und strich sich einen unsichtbaren Fussel vom Rock. »Ich habe dich gewarnt, dass so etwas passieren würde, Sylvia«, sagte sie schroff. »Warum hörst du nie auf mich? Warum hört eigentlich nie irgendwer auf mich?«