15

Die Astor-Towers-Wohnanlage zählte zu den neuen vielgeschossigen Bauprojekten entlang des Flussufers, hoch aufragend und irgendwie bedrohlich, mit den Annehmlichkeiten eines Fünfsternehotels – Jacuzzi, Konferenzräume, Reinigung, Fußbodenheizung –, alles auf den riesigen Plakatwänden beworben, an denen Ivy jeden Tag auf dem Weg zu ihrem Vorbereitungskurs vorbeikam. Und doch war der Aufzug stets leer, der Teppich in den Gängen des achtundzwanzigsten Stockwerks perfekt gesaugt, der Flor steif aufgerichtet und ohne Fußabdrücke, abgesehen von ihren eigenen. Es war Thanksgiving, bereits Viertel nach drei, und sie hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen. Das Nachmittagslicht fiel durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster auf die Schieferarbeitsplatte mit der Obstschale aus Holz – Pfirsiche, Äpfel, Birnen, genauso verlockend wie die Wachsfrüchte von einem Stillleben. Sie hatte Durst. Der Kühlschrank mit Touch-Display verfügte über drei Einstellungen für Wasser: kochend, Zimmertemperatur, Eis. Sie gab drei Löffel voll Matcha-Pulver in eine große Tasse und drückte die Taste für kochendes Wasser. Milch war im Kühlschrank, aber sie konnte in den Küchenschränken keinen Zucker finden. Sie nahm ihren Tee mit an den Frühstückstisch und beobachtete die Fußgänger tief unter ihr, warm verpackt in dunkle Wintermäntel. Sie sahen aus wie aufgedunsene Ameisen, die geschäftig hin und her wuselten. Der Herbst war gekommen und gegangen wie ein lebhafter feuchter Traum; drei kurze, prachtvolle Wochen mit orangefarbenem und rotem Laub wichen kahlen Bäumen und tristem, kaltem Novemberregen. Der verhangene Himmel vor dem Fenster erschien so nah, dass man das Gefühl hatte, durch die Linse eines Teleskops zu blicken.

Während sie ihren Tee trank und eine Zigarette rauchte, ging sie im Geiste die Liste mit den nie endenden Hochzeitsvorbereitungen für die nächste Woche durch. Dekoration. Torte. Blumen. Musik. All das hätte sie glücklich machen sollen, aber das tat es nicht. Sie war müde. Versuchte, für die Aufnahmeprüfung an der juristischen Fakultät zu lernen, während sie gleichzeitig eine Hochzeitsfeier für zweihundert Gäste plante. Sie fühlte sich, als balanciere sie mit einem Sack voller Ziegelsteine auf den Schultern über ein Drahtseil. Seit ihrer Verlobung waren drei Monate vergangen, und mit jedem weiteren Tag wuchs ihre Furcht, etwas könne ihr ihr Glück entreißen. Gideon würde seine Meinung ändern und sie nicht länger heiraten wollen. Sylvia würde Gideon überzeugen, dass sie inakzeptabel war. Ihre Familie würde sich vor den Speyers blamieren. Sie würde in einen Autounfall verwickelt und zum Krüppel werden. Gideon würde sterben. Jeden Abend vor dem Schlafengehen breitete sich ein Nesselausschlag von ihrem Bauch und Rücken bis zu ihren Augenlidern aus; sie bekam Sodbrennen, und der Arzt riet ihr, sich nach den Mahlzeiten nicht immer gleich hinzulegen. Doch weil sie die ganze Zeit über so müde war, beschloss sie, vom Essen ganz abzusehen und sich stattdessen lieber auszuruhen.

Die bevorstehende Hochzeit schien Gideon überhaupt nicht zu berühren. In den Wochen nach ihrem Urlaub in Cattahasset hielt sie Ausschau nach Zeichen einer Veränderung, hoffte, dass er sich jetzt in ihrer Gegenwart endlich entspannen könnte. Sie wusste nicht, wann sie angefangen hatte, Gideon für angespannt oder verunsichert, oder was immer das Gegenteil von entspannt war, zu halten. Als sie ihn das erste Mal wiedergesehen hatte, auf Sylvias Silvesterparty, hatte er einen lockeren Eindruck auf sie gemacht. Lässig. Und dennoch erschien Ivy ebendiese unbeschwerte Lässigkeit, die auf einen unkomplizierten Charakter hinweisen sollte, wie die undurchdringlichen Gitterstäbe eines Gefängnisses, die Gideon von ihr und allen anderen abschirmten. Seit der Verlobung war er noch rücksichtsvoller, noch aufmerksamer ihr gegenüber geworden. Er sagte nie ein scharfes Wort zu ihr.

»Was gefällt dir an mir nicht?«, hatte sie ihn eines Tages gefragt.

»Mir gefällt alles an dir«, hatte seine Antwort gelautet.

Diese Sanftmut hatte Ivy zu einem falschen Gefühl von Sicherheit verleitet. Bei ihrem letzten Date bei einer bekannten Burger-Kette hatte sie den Kassierer um einen Becher gebeten, den sie an einem der Getränkeautomaten mit Wasser füllen wollte. Doch als sie davorstand, hatte sie ihre Meinung geändert und den weißen Plastikbecher anstatt mit Wasser mit Himbeerlimo gefüllt. Als sie an den Tisch zurückkehrte, warf Gideon einen Blick auf ihr Getränk und fragte: »Ist dieser Becher nicht nur für Wasser?« Zunächst wusste sie nicht, wovon er sprach, dann wurde ihr klar, dass sie für die Limo nicht bezahlt hatte. Der weiße Becher für Wasser war umsonst, der blaue für Limonade kostete zwei Dollar. Gideon beruhigte sie, es sei ja keine Absicht gewesen, niemandem sei Schaden entstanden, und ging zur Kasse, um die zwei Dollar zu bezahlen.

Der Vorfall hatte sie zutiefst erschüttert. Sie hatte impulsiv gehandelt, aus der Situation heraus. Es war so, als würde man die falsch ausgelieferten Pakete für den Nachbarn behalten oder dem Kassierer verschweigen, wenn er zu wenig berechnet hatte – niemand würde einen dabei ertappen, geschweige denn darauf hinweisen, dass man etwas Falsches getan hatte; Menschen wie Meifeng würden einen sogar für die geistesgegenwärtige Reaktion loben. Wie viele dieser grenzwertigen Sparmaßnahmen, die sie ihr Leben lang wie selbstverständlich gepflegt hatte, würde sie sich nun abgewöhnen müssen? Gideon ging von einem Versehen aus, doch was würde er beim nächsten Mal denken? Wie lange würde es dauern, bis er herausfand, dass seine Verlobte nicht dieselben Moralvorstellungen vertrat wie er?

Manchmal gewann Ivy den Eindruck, ihr würden zwei verschiedene Personen innewohnen – die freundliche, großzügige, moralisch integre Ivy, die sie in Gideons Gegenwart zu sein versuchte, und ihr unzufriedenes, praktisch denkendes, opportunistisches Ich. Sie hätte alles dafür gegeben, von Natur aus so zu sein wie Gideon – gut zu sein –, aber sie war nicht gut. Sie war eifersüchtig, kleinlich, rachsüchtig, auch wenn die Erfahrung sie gelehrt hatte, diese Charaktereigenschaften hinter einer Fassade aus Sanftmut und Bescheidenheit zu verstecken. Je gewissenhafter sie sich in Gegenwart der Speyers gab, desto schwieriger war es, ihre niederen Impulse im Zaum zu halten, wenn sie allein war.

Deprimiert von diesem wenig schmeichelhaften Porträt ihrer selbst drückte Ivy die Zigarette aus, spülte die Teetasse und ging ins Schlafzimmer. Das ganze Apartment war wie eine Kunstgalerie eingerichtet; die Räume wurden nicht durch Wände, sondern durch ein verworrenes Arrangement aus Glas, Stahl, Onyxmarmor, beweglichen Möbeln und einer Handvoll Kunstwerke abgetrennt – eine Rennbahn, Skizzen der menschlichen Anatomie, eine Reihe Schwarz-Weiß-Fotos verschiedener vergrößerter, von Adern durchzogener Hände älterer Menschen. Alles, was eine bestimmte Art selbstgefälliger Junggesellen ansprach. Das Bett stand auf einem erhöhten Glaspodest, ähnlich den Drehtischen, die man in jedem chinesischen Restaurant fand. Daneben stand ein Nachttisch, in dem sich die einzigen persönlichen Dinge in der ganzen Wohnung befanden: ein großer Stapel Papiere, juristische Dokumente, Notizblöcke, ungeöffnete Briefumschläge. Darunter war eine kleine silberne Schatulle versteckt, die Ivy einst geöffnet hatte. Eine kleine Pistole lag darin, sorgfältig in schwarzen Samt gehüllt wie ein kostbares Schmuckstück. Sie zog einen besonders dicken gelben Umschlag heraus und entnahm ihm ein Bündel Geldscheine. Sie zählte zehn Hundert-Dollar-Noten ab und schob den Rest zurück in den Umschlag.

»Roux! Bist du wach? Ich muss gehen.«

Roux öffnete blinzelnd die Augen, dann drehte er sich um und schlief wieder ein.

Sie betrachtete ihn für ein paar Sekunden. Gideon hatte einen leichten Schlaf mit der Neigung zur Schlaflosigkeit, weshalb er jeden Abend ein halbes Milligramm Melatonin einnahm. Roux’ Schlaf dagegen machte die Pistole in seinem Nachttisch überflüssig, denn ein Eindringling hätte ihn längst erschossen, bevor er ihn überhaupt bemerkte. »Frohes Thanksgiving«, murmelte sie. Die Absätze ihrer Stiefel klackerten leise auf dem Weg durch den Flur zum Aufzug. Als sie auf die Straße trat, sah sie noch einmal an der hoch aufragenden Fassade empor. Sämtliche Fenster waren dunkel.

Es war Ivy, die die Affäre begonnen hatte.

Im September hatten Gideon und sie sich mit Tom und Marybeth in einem spanischen Tapas-Restaurant zum Essen getroffen, um ihre Verlobung zu verkünden. Sie hatte ein ausgelassenes Gelage wie bei der Verlobung von Tom und Marybeth erwartet, ja, sie hatte sich sogar darauf gefreut und sich Toms zunehmende Wehmut und Marybeths hämischen Triumph ausgemalt. Doch als sie ihren Platz am Tisch einnahm, wusste Ivy sofort, dass etwas nicht stimmte. Tom brachte kaum ein Lächeln zustande, Marybeth wirkte reserviert und zerstreut. Sie schienen nicht überrascht, als Gideon ihnen von der Verlobung berichtete.

»Nun, das ging schnell«, sagte Tom.

»Ich nehme an, ihr zieht zusammen?«, sagte Marybeth.

»Erst nach der Hochzeit«, sagte Gideon. »Ivys Mietvertrag läuft ohnehin aus, und wir wissen noch nicht, wo genau sie studieren wird.«

Alle konzentrierten sich schweigend auf die Speisekarte. Ivy versuchte, die Stille mit lustigen Geschichten von ihrem gemeinsamen Urlaub zu füllen – »Das Dach hat geleckt!«, oder: »Ich war völlig ausgeknockt wegen eines streunenden Katers!« –, doch da sie für ihre Mühe nichts anderes erntete als müdes Lächeln, verstummte sie bald. Sie war sich bewusst, dass ihre Begeisterung so weit entfernt von der vorherrschenden Stimmung war wie eine grölende Menge Fußballfans von der gedämpften Feierlichkeit einer tragischen Oper.

Den restlichen Abend über sprachen Tom und Gideon hauptsächlich über die Arbeit. Tom hatte den Arm auf Gideons Stuhllehne drapiert wie ein glatzköpfiger, sommersprossiger Onkel, der seinem eifrigen Neffen Ratschläge erteilte. Ivy versuchte hin und wieder eine Frage einzuwerfen, aber ganz gleich, welche Meinung sie äußerte, Tom untergrub sie, indem er in arrogantem Ton das Gegenteil behauptete – »Wo hast du das denn gehört?«, oder: »Aber stimmt es nicht, dass …«, oder: »Denkst du wirklich …« Also versuchte Ivy stattdessen, ein Gespräch mit Marybeth anzufangen, indem sie sie um Unterstützung bei der Suche nach einer passenden Hochzeitslocation bat.

»Oh, ich glaube nicht, dass ich dir da eine große Hilfe sein kann«, erwiderte Marybeth. »Wir haben beschlossen, auf Kauai zu heiraten, an unserem Jahrestag im März, daher mussten wir irgendein tropisches Ziel anvisieren. Meinen Eltern wäre es lieber gewesen, wir hätten uns für Palm Beach entschieden, wo meine Großeltern wohnen, aber Tom und ich waren letztes Jahr schon auf drei Hochzeiten in Florida. Toms Mutter möchte die Staaten nicht verlassen, deshalb ist es Hawaii geworden. Als wäre ein Zwölf-Stunden-Flug nach Hawaii besser als ein Acht-Stunden-Flug nach Italien!«

Ivy bemerkte, wie Toms Augen in ihre Richtung zuckten, als Marybeth seine Mutter erwähnte, aber er sprach ohne Unterbrechung weiter mit Gideon. Männer mit Männern. Frauen mit Frauen. Genauso war es in der vergangenen Woche bei Dave und Liana gewesen. Ivy war zusammen mit den anderen Hausfrauen zum Treffen des Buchclubs in die Bibliothek gegangen, wo Darjeeling-Tee, Sandwiches ohne Kruste und klein geschnittenes Gemüse aus Lianas Garten gereicht wurden, während Dave und Gideon mit einigen Geschäftspartnern Tennis spielten. Sogar wenn sie mit den Speyers zusammen waren, bildeten sich mehr und mehr zwei Grüppchen: Poppy und Ivy, Gideon und Ted. Vielleicht gab es einen unausgesprochenen Ehekodex, der eine Trennung nach Geschlechtern vorsah – als würde man einem Verein beitreten, dessen einziger Sinn darin bestand, einem den Partner abzunehmen.

»Solange wir die komplette katholische Trauzeremonie in der Saint Mary’s Cathedral abhalten können und William auf dem Princeville Course golfen kann, sind alle glücklich«, fügte Marybeth hinzu. Sie nahm eine Scheibe von dem gerösteten Tomatenbrot, schnupperte daran und legte sie gleichgültig auf ihren Teller. »Ich möchte keine Nervensäge sein, Gideon«, sagte sie und wischte sich die Finger an ihrer Serviette ab, »aber hast du schon auf die Einladung geantwortet?«

»Noch nicht. Ähm …«

»Es tut mir wirklich leid, dass wir eine so kleine Gästeliste haben«, sagte Marybeth zu Ivy.

»Warum?«, fragte Ivy.

Marybeth sah Gideon an, doch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Als wir uns für die neue Location entschieden haben, mussten wir uns abgesehen von den Trauzeugen auf verheiratete Paare beschränken.«

»Oh!«, sagte Ivy, als sie die Andeutung verstand. »Ich verstehe.« Und um die heiße Röte zu überspielen, die ihr in die Wangen schoss, fing sie an, Marybeths Entscheidung zu rechtfertigen, Marybeth zuliebe, der ganzen Gruppe zuliebe. »Ihr habt ja beide auch noch eine große Familie«, sagte sie und nickte Tom verständnisvoll zu. »Außerdem sind Hochzeiten im kleinen Kreis meist ungleich angenehmer als mit vielen Fremden.« Sie sah, wie Marybeths und Gideons Gesichter kaum merklich zuckten.

»Ich wollte es dir erzählen, aber es ist mir total entfallen«, sagte Gideon ruhig.

»Es ist ja auch keine große Sache.« Ivy lachte wieder und griff nach ihrer Sangria.

Tom lächelte. »Sei nicht so gemein, Schatz«, sagte er, an Marybeth gewandt. »Jetzt, da sie verlobt sind, kannst du Ivy auf die Liste setzen, findest du nicht?«

Marybeth zögerte. Ivy spürte ihre Verlegenheit, als klar wurde, dass es ihre Entscheidung gewesen war. Ivy fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Sie hatte gedacht, Marybeth und sie wären Freundinnen. Dass Tom der Bösewicht war.

»Das ist nicht nötig«, versicherte sie. Sie schwitzte in ihrem dünnen Baumwollkleid. »Wirklich.«

»Lasst uns das Thema nicht unnötig in die Länge ziehen«, sagte Gideon kurz angebunden. »Warum denkt ihr zwei nicht zu Hause in aller Ruhe darüber nach …«

»Nein, nein, Tom hat recht«, schob Marybeth eilig dazwischen. »Wir würden uns sehr freuen, dich dabeizuhaben, Ivy. Ich lasse mir nachher von Gideon deine Adresse geben.«

Ivy überlegte, ob sie Protest erheben sollte, aber sie fühlte sich zu erschöpft.

»Die Bananenblüte im März auf Kauai ist wunderschön«, sagte Tom zu Ivy, »zumindest laut Marybeth. Die Blüten sind nicht gelb, sondern leuchtend rosa – was mir, um ehrlich zu sein, absolut schnuppe ist.«

»Mir nicht«, hielt Marybeth dagegen, anscheinend immer noch verärgert, dass Tom sie über die Klinge hatte springen lassen.

»Meine Mom hat ihr Herz an Cattahasset gehängt«, sagte Gideon, als der Kellner ihre Tapas auf den Tisch stellte. »Oder an Martha’s Vineyard. Erinnerst du dich noch an den Sommer vor dem College, Tom?«

»Und ob! Euer Finn Oaks ist ein Dinosaurier, verglichen mit unserer Prunkbude.« Wieder wandte er sich einzig und allein an Ivy. »Wir hatten einen beheizbaren Pool, im Wohnzimmer standen jede Menge Futons. Ich denke nur an Teds Flasche mit uraltem Whisky – bis zum heutigen Tag meint er, ein Waschbär wäre nachts ins Haus eingedrungen und hätte sie umgestoßen. Wir haben Blake Whitney um die Flasche herumpinkeln lassen, denn aus irgendeinem Grund hatte nur seine Pisse dieselbe Farbe wie dieser scheißteure Scotch.«

Ivy lachte dankbar und ließ sich von der Unterhaltung mitreißen. Dann konnte Tom also durchaus taktvoll sein, stellte sie überrascht fest.

Sie täuschte sich.

Tom nahm sein Glas. »Ich muss zugeben, ich habe dich unterschätzt.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie und lächelte tapfer in Erwartung einer seiner Scherze.

»Du bist wirklich schnell. Hast Gideon an die Kette gelegt. Schön für dich.«

»Wie bitte?«

»Du musst gerade reden!« Gideon deutete mit der Gabel in Toms Richtung. »Marybeth hat dich ruckzuck …«, aber Tom sprach immer noch mit Ivy und klang dabei zunehmend beschwipster.

»Jetzt erinnere ich mich an dich. Aus dem Jahrbuch der achten Klasse. Ivy Lin. Das hat meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Du bist Gideon schon damals nachgelaufen. Still und leise wie eine graue Maus. Und jetzt sieh dich an: Du hast den Stier bei den Hörnern gepackt, nicht wahr? Hast dich hochgeschlafen wie diese – wie heißt diese Chinesin, die den alten Murdoch geheiratet hat? Ich wette, du kannst es kaum erwarten, dich schwängern zu lassen …«

Gideon stand auf. »Pass auf, was du sagst«, warnte er seinen alten Freund, wobei er jede einzelne Silbe betonte, ohne zu stottern. Er war blass geworden. Der Kellner eilte herbei, um sich zu erkundigen, ob sie etwas brauchten.

Ivy zupfte an Gideons Arm. Gideon blieb stehen.

Tom wischte sich das Gesicht mit seiner Leinenserviette ab und hinterließ einen gelben Streifen von den geräucherten Anchovis mit Meerrettich.

»Komm schon, du weißt, dass ich nur Spaß mache. Ich freue mich für euch beide. Du bist mir doch nicht böse, oder, Ivy?« Er hob die Hand.

Offenbar wartete er darauf, dass Ivy ihn abklatschte. Das tat sie, doch sie hasste sich dafür, und Tom hasste sie noch mehr.

»Siehst du, Gideon? Ivy und ich sind beste Freunde. Setz dich, setz dich … Ich bin bloß so aufgeregt … Ist das Leben nicht herrlich?« Er rieb sich mit der Faust die Augen und brach zu Ivys Entsetzen in Tränen aus.

»Es tut mir leid wegen Tom«, sagte Gideon auf der Heimfahrt. »Er war nicht immer so.«

Doch, das war er, dachte Ivy. »Schon gut«, sagte sie und wechselte eilig das Thema. Hätte Gideon nur eine Sekunde länger darüber gesprochen, hätte sie angefangen zu weinen.

»Erinnerst du dich noch an Henry Fitzgerald von der Grove?«, fragte Gideon. »Er war mit mir und Tom im Lacrosse-Team.«

»Nein.«

»Henrys Dad war CEO bei Biogene Pharmaceuticals.«

»Aha …«

»Vor einigen Jahren, Dad war damals noch Senator, deckte er einige verdächtige Praktiken bei Biogene auf und schaltete die Federal Trade Commission ein, die wegen Verstößen gegen das Kartellgesetz ermittelte. Langer Rede kurzer Sinn: Mr. Fitzgerald wurde nicht nur gefeuert, sondern außerdem zu einer mehrjährigen Haftstrafe verdonnert, weil er den Medikamentenvertrieb beschränkt hatte, um die Preise in die Höhe zu treiben. Henrys Familie verlor alles. Henry fing an auszuticken. Er verließ das Team, schwänzte die Schule. Wurde beim Abschlussball mit einem Joint auf dem Schulklo erwischt. Die meisten Lehrer sehen bei so etwas weg, aber Henry hatte sich bereits so tief in die Scheiße geritten, dass sie ihn rausschmissen. Die Columbia University zog ihre Zulassung zurück. Eine Woche vor dem Abschluss haben Henry und ein paar andere Jungs versucht, mich vor dem Parkplatz fertigzumachen. Tom hatte gehört, wie sie in der Umkleide darüber sprachen, und er kreuzte mit dem Familienanwalt auf. Der erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen Henry und die anderen. Wenn sie sich mir weiter als drei Meter näherten, hätte ich Anzeige erstatten können. Das wäre eine in dem Moment eine schwere Straftat gewesen, denn Henry und die anderen hatten ihre Lacrosse-Schläger mitgebracht – laut Toms Anwalt eine potenziell tödliche Waffe.«

»Wie clever von Toms Anwalt.«

»Tom hat mich immer beschützt. Ich denke, das hat mit den Jahren paranoide Züge angenommen. Er hält jeden, der nicht mit uns aufgewachsen ist, für einen Feind. Es fällt ihm schwer, neuen Leuten und ihren Absichten zu trauen.« Der Wagen hielt vor einer roten Ampel. Ivy spürte Gideons Blick auf ihrem Profil, doch sie blickte weiter geradeaus.

»Natürlich ist das keine Entschuldigung für das, was er gesagt hat. Ich wünschte … Nun, wir suchen uns unsere Freunde nicht nach ihrer Ehrbarkeit aus.«

»Verstehe«, sagte Ivy. Das war Gideon – loyal bis zuletzt. Sie hatte stets gedacht, Loyalität setzte eine gewisse Blindheit voraus, genau wie der Glaube, doch Gideon sah Tom so, wie er war, und entschied sich dennoch dafür, ihn zu verteidigen. War das Liebe? Sie fragte sich, ob und wie Gideon zu gegebener Zeit sie verteidigen würde, dann rief sie sich Toms und Marybeths kalte, wenig überraschte Gesichter vor Augen, als Gideon ihre Verlobung verkündete, und ihr wurde klar, dass diese Zeit längst gekommen und an diesem Abend verstrichen war: Bis heute hatte Gideon sie von allem abgeschirmt.

Wenige Augenblicke später spürte sie warme Finger, die ihre Wange streichelten. Die Berührung brach ihr beinahe das Herz. Rasch wandte sie das Gesicht zum Fenster und ballte die Faust, um die Tränen zurückzudrängen. Als sie bei ihr zu Hause ankamen, hatte sie sich wieder gefasst. Ihre Straße war leer; die Gangster hatten sich zurückgezogen – wohin auch immer sich Gangster an einem ruhigen Donnerstagabend zurückziehen mochten. Vielleicht waren sie auch auf einer ihrer Touren durch Boston, raubten Leute aus oder begingen andere Straftaten. Ruhe bedeutete noch lange nicht Frieden.

Drinnen sah sie ihre Post durch, trank ein Glas Wasser und füllte die Vase mit den Casablanca-Lilien nach, die Andreas Verehrer zu ihnen nach Hause hatte liefern lassen. Die großen, sternförmigen Blütenblätter waren gewölbt wie ein entblößter Frauenhals. Endlich gestattete sie es sich, in ihr Zimmer zu gehen. Begleitet von erstickten Schluchzern, schlug sie ihr Kissen auf die Matratze, bis Andrea alarmiert angestürmt kam, das Gesicht zugekleistert mit einer tropfenden Schlammmaske. »Hau ab!«, schrie Ivy ihre Mitbewohnerin an. »Hau ab! Hau ab!«

Andrea verließ das Zimmer.

Es war so unfair, dachte Ivy, brodelnd vor Zorn. Pass auf, was du sagst. Von allen Dingen, die Gideon hätte sagen können, hatte er ausgerechnet diesen Satz gewählt. Wahrscheinlich hatte er ihn von Poppy aufgeschnappt. Sylvia hätte mit Sicherheit schärfere Erwiderungen auf Lager gehabt. Sylvia, die Roux’ Zeichnung gestohlen hatte. Sylvia, die sich immer das nahm, was sie wollte, die niemals Toms Hand abgeklatscht hätte. Meifeng pflegte zu sagen, dass Männer einen in dem Maße respektierten, wie sie einen fürchteten. Doch Ivy hatte sich vor Gideons Freunden im Grunde selbst zu einer x-beliebigen Person in seinem Leben degradiert. Einer vorübergehenden Bekanntschaft, nicht wert, dass man sie respektierte. Sie selbst hatte sich das angetan.

Es war das erste Mal, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, die Verlobung aufzulösen. Das Einzige, was größer war als ihr Verlangen nach Gideon, war ihre Eitelkeit. Also kramte sie Roux’ Telefonnummer hervor, die sie in Finn Oaks in ihren Terminplaner eingetragen hatte. Ein Monat war vergangen, seit sie miteinander geschlafen hatten. Sie rief an und fragte ihn, ob er Lust habe, sich mit ihr auf einen Drink zu treffen. »Ich würde dir gern erklären, was im Cottage passiert ist«, sagte sie. Nach einer langen Pause willigte er ein.

Er wählte eine Bar in einem zwielichtigen Stadtteil. Es war schon Mitternacht, als sie dort ankam. Sie erinnerte sich an die Zeit, weil sie auf ihr Handy geblickt hatte, um nachzusehen, ob ein Anruf von Gideon eingegangen war. Erbärmlich. Sie spielte das alte Spiel: Wenn er anruft, mache ich kehrt und gehe nach Hause. Er rief nicht an.

Poster von alten Bands bedeckten jeden Zentimeter der Wände, die Holzoberflächen in der Bar klebten von verschüttetem Bier und Ölrückständen, die man nie mehr wegbekam. Kräftige Kerle mit langen Bärten und Stahlkappenstiefeln saßen vor ihren Gläsern mit schäumendem Fassbier – die Sorte Männer, zu denen auch Roux zählte, wenn er nicht gerade seinen eine Million Dollar teuren Bugatti mit der an einen Haifisch erinnernden Karosserie und den runden Scheinwerfern fuhr.

Vier Wodka später wusste Ivy nicht mehr, wie sie in Roux’ Wohnung gekommen war. Sie erinnerte sich daran, was sie empfunden hatte, als sie die Astor Towers zum ersten Mal sah: verächtliche Bewunderung. Gut gemacht, wollte sie sagen, stattdessen zog sie ihr Kleid aus.

In jener Nacht stand sie nicht nur an der Schwelle zu einem fürchterlichen Kater, sondern war noch dazu erfüllt von Selbsthass. »Das ist eine einmalige Sache«, sagte sie kalt.

»Klar.«

Sechs Tage später war sie wieder bei ihm. Diesmal hatte Gideon ihre Verabredung zum Dinner abgesagt, nachdem sie den ganzen Nachmittag damit zugebracht hatte, einen italienischen Cioppino zuzubereiten. Sie dachte an all die Muscheln, die sie gesäubert und dann in den Mülleimer geworfen hatte, weil sie Muscheln hasste und Andrea mal wieder eine ihrer Obst-Diäten machte.

Bei ihrem dritten Treffen machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, so zu tun, als handele es sich um eine flüchtige Affäre. Als sie eintraf, legte Roux seine Hände um ihre Taille, hob sie hoch und warf sie aufs Bett. Als sie versuchte, sich ihm zu entwinden, umfasste er einen ihrer Fußknöchel und biss ihr in die Wade, wobei er zwei gerade Reihen von Zahnabdrücken hinterließ. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann Gideon und sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Sie, der es einst gelungen war, einen Mann mit einem einzigen Zucken ihrer Augenbraue ins Bett zu locken, lag nun hilflos neben ihrem Verlobten in der Dunkelheit und spürte die frostige Brise, die durch das offene Fenster hereinwehte, lauschte seinem gleichmäßigen Atem und wartete darauf, dass sie endlich einschlief, was ihr beinahe das Herz zerriss. Deshalb ging sie mit Roux ins Bett … mit Roux, der ihre Glieder spreizte, ihren nackten Körper bewunderte und flüsterte: »Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Du bist wunderschön … hier … und hier … und hier …« Ja, sie genoss es, und zwar jede Sekunde. Es war ein niederes Vergnügen, eines, das sie keuchend und erschöpft und leer zurückließ. Aber was war mit der Seele – diesem wankelmütigen Selbst, das nicht so leicht zufriedenzustellen war?

Bei ihrem fünften Treffen mit Roux saßen sie draußen auf seinem Balkon, der den Fluss überblickte, rauchten und tranken warmen Whiskey. Er erzählte ihr von seiner Mutter. »Lungenkrebs«, sagte er, als Ivy fragte, wie Irena Roman gestorben war. Als es passiert war, hatte man ihn gerade aus dem Gefängnis entlassen, und er arbeitete in New Mexico.

»Warte – du warst im Gefängnis ?«, stieß Ivy hervor.

»Nur für acht Monate. Ich war gerade erst achtzehn geworden, deshalb haben sie das Strafmaß verkürzt.«

Ivy war verblüfft. »Hast du jemanden überfallen?« Aus irgendeinem Grund war das das Erste, was ihr in den Sinn kam.

»Diebstahl. Offenbar war ich nicht so gut wie du.«

»Was hast du denn geklaut?«

»Autos. Meistens in den neueren Siedlungen, die rund um West Maplebury entstanden. Die Leute parkten ihre alten, beschissenen Vans in der Garage, während sie die Ferraris und Porsches in der Einfahrt stehen ließen, um damit vor den Nachbarn anzugeben.« Er schubste ihr seinen Tumbler zu. »Tatsächlich hatte ich die Idee von dir. Erinnerst du dich, wie du mir von den Flohmärkten erzählt hast, auf denen du mit deiner Großmutter warst? Du hast behauptet, die Reichen würden nichts wertschätzen.«

Sie schnaubte, dann schüttelte sie den Kopf. »Wir haben alte Gürtel und verbogene Löffel geklaut. Wie konntest du nur so dumm sein?«

»Ich habe meine Lektion gelernt, glaub mir. Es gibt weitaus effizientere Wege, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.«

»Zum Beispiel mit Pizzaläden?«

»Zum Beispiel mit Einfluss.«

Sie dachte darüber nach. Was war Einfluss überhaupt, wenn nicht ungenutzte Macht? Es war das Potenzial der Macht, das mächtig war. Sie hatte schon immer gewusst, dass Potenzial berauschender war als selbst die triumphalsten Erfolge.

»Wozu brauchst du die Pistole?«, fragte sie. »Sie macht mir Angst. Du könntest mich im Schlaf erschießen.«

Er verdrehte die Augen. »Hör auf, so dramatisch zu sein. Ich behalte sie aus reiner Gewohnheit.«

»Und was für eine kranke Gewohnheit soll das sein?«

»Einfluss. Ein Druckmittel.« Er grinste herablassend, was großspurig wirken sollte, aber sie durchschaute ihn sofort. Er versuchte lediglich, sie zu beeindrucken, ihr zu verstehen zu geben: Siehst du, ich habe Macht über dich.

Plötzlich kam Ivy ein Gedanke. »Wusste Sylvia, dass du im Gefängnis warst?«

»Ich mache kein Geheimnis daraus.«

Sylvia hatte Ivy erzählt, Roux habe die Highschool geschmissen, um seiner todkranken Mutter beizustehen, nicht, weil man ihn verhaftet hatte. Dann war also selbst die unverfrorene Sylvia Speyer zu Scham fähig.

»Du bist doch jetzt nicht mehr in irgendetwas … Illegales verwickelt, oder?«, fragte sie ihn.

»Ach, Ivy … es langweilt mich, über die Arbeit zu reden.«

»Du kannst es mir ruhig verraten, Känguru«, sagte sie mit ihrer Babystimme. »Ich kann Geheimnisse für mich behalten.«

Roux drückte seine Zigarette aus und sah sie mit blitzenden Augen an. Sie dachte, er würde sie nehmen, gleich hier auf dem Balkon.

»Du musst nicht Sylvia sein«, sagte er, stand auf und ging wieder hinein.

Als sie das nächste Mal zu ihm kam, erzählte Roux seine Geschichte weiter. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis fand er einen Job als Abmister auf einer Pferderanch in New Mexico. Das Geld, das er von seinen Autoverkäufen heimlich zurückgelegt hatte, investierte er nun in eine Firma für Düngemittel, die Pferdemist als Teil einer Rezeptur zur Steigerung der Getreideproduktion verwendete – denselben Pferdemist, den Roux’ Ranch produzierte. Anstelle eines festen Lohns hatte der Besitzer Roux zwei Prozent des anfänglich quasi nicht vorhandenen Gewinns der Farm versprochen. Irgendwann verdiente Roux an der Börse mit jeder Schaufel Pferdescheiße um die fünfhundert Dollar. Als Irena ihm schließlich die Nachricht überbrachte, dass sie krank sei, hing sie bereits an einem Sauerstoffgerät und hatte nur noch wenige Wochen zu leben. Die ganze Zeit über war sie Baldassare Morettis Geliebte gewesen, der Hauptgrund für den Disput zwischen Mutter und Sohn. Baldassare hatte ihr eine Wohnung neben seinem Haus mit einer privaten Pflegekraft besorgt; die Wohnung war stets voller Blumen und Kasserollen, die sämtliche Mitglieder der Familie Moretti, einschließlich Baldassares Ehefrau und Sohn, Ernesto, vorbeibrachten. Zu jener Zeit waren sie alle eine große Familie. »Ich werde mich immer an den Geruch erinnern«, sagte Roux. »Blumen.« Er war gerührt gewesen, wie sich Baldassares Familie um Irena gekümmert hatte, auch nach ihrem Tod. Die Morettis hatten die Bestattungszeremonie, das Krematorium und die Urne bezahlt, sie hatten Roux sogar angeboten, in der Wohnung seiner Mutter zu bleiben. Eins führte zum anderen, und schon bald arbeitete Roux als Lohnbuchhalter für Morettis Restaurants. Kurz darauf wurde er zum Geschäftsführer befördert und bekam grünes Licht, seine eigenen Unternehmen zu gründen; die pekuniäre Situation von Roux und den Morettis wurde ebenso undurchsichtig wie ihre Lebenssituation.

»Hört sich an, als wäre er der Pate.« Ivy lachte nervös. Roux nicht. Sie hätte ihn drängen können, weitere Details preiszugeben, aber im Grunde wollte sie gar nicht mehr wissen. So vieles in Roux’ Leben kam ihr ominös und anstößig vor. Die Pistole zum Beispiel. Nur Extremisten bewahrten Handfeuerwaffen bei sich zu Hause auf. Ein Gewehr wäre besser gewesen, ausgestellt in einem Glasschrank. Gewehre hatten mehr Klasse, man konnte sie für sportliche Zwecke verwenden, während Pistolen, versteckt in einer Schublade, eher zu den schmutzigen Dingen zählten. Und dann waren da noch die Umschläge mit Bargeld in den Schubladen und, in Wachspapier eingeschlagen, unter der Spüle. Die altmodischen Handys, die an einen Zementblock erinnerten. Außer den Morettis hatte er keine Freunde oder Familie, und Ernesto Moretti konnte man kaum einen Freund nennen. Damals in West Maplebury war er ein zorniger Rüpel mit geringem Selbstwertgefühl gewesen, der nichts anderes konnte als arrogant daherzureden, was ihn zu einem leichten Ziel für Raufbolde, aber auch selbst zu einem Raufbold machte – ein Schwächling, der noch Schwächere terrorisierte. Wenn er von Ernesto sprach, hörte Ivy denselben Spott in Roux’ Stimme wie früher. Unter dem Glanz seiner Luxusgüter war Roux’ Leben – in der Gegenwart genau wie in der Vergangenheit – ein hässliches schwarzes Loch, von dem sie sich abgestoßen fühlte, genau wie von den Obdachlosen in ihrer Straße.

Doch wenn sie diese unschönen Details ausblendete, konnte sie ihr Arrangement genießen. Roux mochte alles, was modern, bequem und vorzugsweise unerreichbar war. Er wollte den besten Service, das beste Essen, er wollte sich reich fühlen. Ivy bevorzugte die kultivierte Erziehung ihres Verlobten, aber das hielt sie nicht davon ab, in vollen Zügen Roux’ hedonistische Verschwendungssucht auszukosten. Nach dem Sex rief Roux einen ausländischen Film auf seinem supermodernen Fernseher auf und bestellte ein Festmahl, bestehend aus Amerikanischem Hummer, Kobe-Steak und Blauflossen-Thunfisch, der am selben Morgen aus Tokyo eingetroffen war. Als es kälter wurde, ließen sie sich zusammen in seiner japanischen Badewanne mit den beheizbaren Salzsteinen einweichen, und danach spülte er ihr Haar mit einer kleinen Holzkelle aus. Er hatte die Kelle einem tibetanischen Mönch abgeschwatzt, dem sie als Messbecher für seine Reisration gedient hatte. Ivy stellte sich Roux und sie als zwei unabhängige Piraten vor, die einander in Freundschaft verbunden waren und sich eine Pause von ihren Raubzügen gönnten. Er hatte seine Spielzeuge, sein Geld, seine Kunst, sein Geschäft – und sie hatte Gideon. Regeln, Gott, die Gesellschaft – nichts galt für sie in der unpersönlichen Unantastbarkeit seines Apartments.

Nach etwa einem Monat begann sie, Geld aus Roux’ Umschlägen zu stibitzen – zunächst zwanzig Dollar, dann Hunderte und schließlich Tausende. Sollte er sie jemals danach fragen, würde sie behaupten, sie wolle sich ein paar hübsche Sachen kaufen. Er selbst fand großen Gefallen am typischen Gammlerlook vieler Millionäre: Pullis mit ausgeleiertem Kragen, zerrissene Jeans, weiße T-Shirts, braune Lederstiefel. Er liebte es, sie mit Geschenken zu verwöhnen. Es machte ihn glücklich, wenn sie vor Freude über schöne Ohrringe oder eine ausgefallene Halskette jubelte, auch wenn sie die Schmuckstücke nie außerhalb der Astor Towers trug. Sie wollte nicht, dass Gideon ihre plötzliche Extravaganz bemerkte.

Es war ausgeschlossen, dass Roux ihre Diebstähle nicht bemerkte. Wenn ein Mensch einmal erfahren hat, was Hunger bedeutet, wird er jedes einzelne Reiskorn zählen, pflegte Meifeng zu sagen, aber er erwähnte das fehlende Geld mit keinem einzigen Wort, und zwar deshalb, weil nun Ivy diejenige mit Einfluss war. Sie konnte jederzeit aufhören, zu ihm zu kommen, aber er konnte nicht einfach aufhören, sie zu begehren. Und Begierde zu erwecken, so wusste Ivy, war die stärkste Form von Einflussnahme. Roux würde immer bereit sein, das zu tun, was sie sagte. Sie genoss seine aufrichtige Bewunderung, es gefiel ihr, wie er sie ansah mit seinen sanften grauen Augen, die sie an die See vor einem Sturm denken ließen. Sie liebte es, wenn er den Mund zu einem Lächeln verzog, das so viel sagte wie: Du bist schön! Du bist schön! In solchen Momenten fühlte sie, wie Wohlwollen in ihr aufstieg. In jenen Nächten war sie besonders zärtlich zu ihm, besonders leidenschaftlich, um ihm ein wenig von dem zurückzugeben, was sie ihm genommen hatte.