Austin fing gleich nach Silvester mit seinem Praktikum an. Jeden Morgen nahm er den Zug um sieben Uhr vierzig nach Manhattan und kam abends zusammen mit den übrigen Pendlern zurück. Shen fuhr mit ihm zu verschiedenen Outlets, um ihm vier Anzüge in gedämpften Blau- und Grautönen zu kaufen, außerdem gestreifte Seidenkrawatten und dünne Baumwollsocken, die Austin farblich auf die Krawatten abstimmte. Er brauchte auch ein neues Handy, weil ihm sein altes bei den Speyers heruntergefallen war und das Display jetzt einen Sprung hatte. Sein Laptop musste ebenfalls erneuert werden, da der Lüfter seinen Geist aufgegeben hatte. Das Praktikum war unbezahlt, also gab Nan ihm eine Kreditkarte für seine täglichen Ausgaben. Er nahm sich an der Penn Station gern einen Bagel und einen Joghurt-Smoothie zum Frühstück mit und aß in einem beliebten Sushi-Restaurant zu Mittag. Und weil er sich schuldig fühlte, dass er zu Hause wohnte, während seine neuen Freunde in der Firma für ihre Miete aufkommen mussten, lud er sie oft zu Sashimi-Platten ein.
»Du solltest deinen Bruder jetzt mal sehen«, prahlte Nan am Telefon. »Er ist zur Arbeit geboren. Er geht ins Bett, sobald er nach Hause kommt, und stellt sich selbst den Wecker. Er hat sich sogar ein eigenes Bügelbrett gekauft, weil er jeden Abend seine Anzüge bügelt. Und er hat endlich Freunde gefunden. Sie wollen zusammen nach Mexiko reisen. Er ist noch nie zu einer Reise eingeladen worden. Baba macht sich Sorgen, dass Mexiko zu gefährlich sein könnte. Was denkst du?«
Ivy fragte sich, wie sich ihre Eltern all diese zusätzlichen Ausgaben leisten konnten. An Weihnachten hatte Nan ihr das Geld für die Hochzeit geschickt, aufgeteilt auf vier Schecks, mit speziellen Anweisungen für Ivy, sie möge sie im Abstand von einem Monat einlösen, »damit die Banken nicht misstrauisch werden«.
Ivy wollte gar nicht wissen, wieso sie misstrauisch werden sollten. Die Tage, in denen sie Zugang zum Hauswirtschaftsordner und Scheckheft ihrer Mutter gehabt hatte, waren längst vorbei – die Lins hatten wahrscheinlich auf andere Weise gespart. Also schob sie ihr schlechtes Gewissen beiseite und sagte: »Austin wird schon klarkommen in Mexiko … Ich bin froh, dass er sich anscheinend gefangen hat.« In der Tat erwiderte ihr Bruder inzwischen ihre Anrufe und wirkte jedes Mal begeistert, wenn sie über seinen neuen Job sprachen. Er erzählte ihr, dass er Kaffee besorgte, Marktforschung betrieb, zwanzig Seiten lange Berichte schrieb und dass alle ihn für seine großartige Arbeitshaltung lobten. »Allen, mein Manager, sagt, wenn ich mich weiterhin so gut mache, bieten sie mir nach meinem Abschluss eine Vollzeitstelle an.« Ivy riet ihm nicht, keine allzu großen Erwartungen zu hegen. Sie sorgte sich um ihn, sorgte sich darum, dass seine zarte Hoffnung zerbrechen könnte.
Vielleicht konnte sie ihm den Rat nicht geben, weil sie gerade die Ergebnisse ihrer Jura-Aufnahmeprüfung erhalten hatte. Sie hatte so schlecht abgeschnitten, dass sie die E-Mail mit ihrer Punktzahl aus ihrem Postfach gelöscht hatte und dann auch noch aus dem Papierkorb. Als Gideon sich danach erkundigte, teilte sie ihm mit, dass sie gar nicht erfreut darüber war und im September erneut antreten würde. Zum Glück besaß er genügend Feingefühl, um nicht weiter nachzufragen. Stattdessen zog er sie in seine Arme. »Ich bin stolz auf dich, weil du nicht aufgibst«, sagte er.
An jenem Abend gingen sie auf ein paar Drinks ins Dresdan’s. Ivy wollte nicht, dass der Abend in eine Selbstmitleidsorgie ausartete, deshalb entschied sie sich für ihr Lieblingskleid aus dunkelbraunem Taft mit langen Ärmeln und einen schwarzen Samt-Choker mit einem kleinen Glöckchen, ähnlich wie an einem Katzenhalsband. Immer wenn sie den Kopf drehte, klingelte das Glöckchen. Ivy schlürfte einen Cocktail nach dem anderen, während Gideon ein Bier trank und ihr lachend riet, den Abend etwas langsamer angehen zu lassen. Seine Stimme kam ihr tiefer vor als sonst. Dieser schöne Mann in dem weißen Button-down-Hemd mit den aufgekrempelten Ärmeln zauberte mit dem glänzenden Zifferblatt seiner Armbanduhr einen Regenbogen an die Wand mit den Schnapsflaschen hinter der Bar und fragte sie unablässig: »Bist du glücklich? Bist du glücklich?«, und sie sagte: »Selbstverständlich. Ich habe doch dich. «
Sie erzählte auch Roux, dass sie die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte. Wie erwartet war seine Reaktion ganz anders als die Gideons.
»Ist doch klar, dass du durchgefallen bist. Du würdest eine grauenvolle Anwältin abgeben.«
»Warum?«
»Dir fehlen die kombinatorischen Fähigkeiten. Dein Handeln wird bestimmt von deinen Launen und Leidenschaften. Außerdem lässt du dich leicht von anderen beeinflussen und fährst total auf Äußerlichkeiten ab. Ich habe nie kapiert, warum du überhaupt Jura studieren willst. Ich meine, du magst vielleicht eine halbwegs gute Lehrerin abgegeben haben, aber eine Anwältin bist du nicht. Glaub mir, ich habe in meinem Leben zahllose Juristen kennengelernt, und sie alle sehen die Welt als eine einzige große Sprengfalle. Du würdest doch nicht einmal einen Güterzug heranrasen sehen, bis er dich mehr oder weniger überrollt.«
Normalerweise hätte sie sich über eine derartige Einschätzung aufgeregt, aber es war eine solche Erleichterung, endlich mit jemandem über Dave und Liana Finley und Gideons andere ambitionierte Freunde zu reden, die auf ihre mangelnden Leistungen herabschauten. Wie sollte sie jemals genügend Punkte zusammenbekommen, um an einer guten Universität zugelassen zu werden?
»Dave Finley?«, fragte Roux und zog ihre Beine auf seinen Schoß, um ihre Waden zu massieren. »Der Risikokapital-Typ?«
»Du kennst ihn?«
»Ich habe ihn bei mehreren Kunstauktionen erlebt.«
Ivy verdrehte die Augen und schmierte sich etwas Kaviar auf ein Stück Bagel. Roux liebte es, hin und wieder auf seinen Zugang zu diesen elitären Kreisen zu verweisen, um sie an seinen neuen sozialen Status zu erinnern. Gideon warf niemals mit Namen um sich. Gideon reagierte allergisch auf jegliche Form der Selbstvermarktung. Die Privatclubs, die Jacht, das Sommerhaus in Cattahasset mit seinem Shabby-Chic-Charme, die Dauerkarte für die Spiele der Celtics – all dies war das Resultat von Gideons natürlichen Vorlieben, Vorlieben, die über Generationen durch Erziehung verfeinert und weitergegeben worden waren, ganz anders als bei Roux, der wissen wollte, was etwas kostete, wie viele Exemplare gedruckt wurden, wie viele Leute auf der Warteliste standen, bevor er sich zum Kauf entschied.
»Überleg doch mal«, sagte Roux und reichte ihr eine Serviette. »Was wolltest du werden, als du klein warst?«
Was sie werden wollte? »Keine Ahnung.« Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich gewünscht hatte, berühmt zu sein. Und von ihren Eltern wegzukommen.
»Wie bist du darauf gekommen, Lehrerin zu werden?«
»Oh, das hat sich so ergeben, wie eigentlich alles in meinem Leben. Ich dachte, es wäre ein leichter Job, bis ich mir etwas anderes überlegt hätte.«
Roux sah sie durchdringend an. »Warum tust du nicht einfach das, was alle Frauen tun – kochen, putzen, auf die Kinder aufpassen? Keine Frau, die ich kenne, hat sich je darüber beschwert, dass ihr Mann die Brötchen verdient.«
»Die Frauen, die du kennst«, entgegnete Ivy kalt, »sind vermutlich zu dumm für etwas anderes. Glücklicherweise habe ich klügere Freunde.«
»Und ich habe dich für eine findige Frau gehalten … Wenn du Geld brauchst …«
»Bietest du mir gerade an, mein Gönner zu sein?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Aber nicht die, die ich will.« Sie nahm sich eine Olive, steckte sie in den Mund und spuckte sie anschließend in ihre Serviette. Zu salzig.
Roux schob ihre Beine von seinem Schoß. »Weißt du, was dein Problem ist? Du hast nie hart für irgendetwas arbeiten müssen. Du bist mit Lügen und Gerissenheit durchgekommen. Du denkst, du hättest eine schwere Kindheit gehabt, dabei warst du immer privilegiert …«
Ivy stellte den Fernseher an.
Roux war jetzt schon seit Wochen so: warm, kalt; im einen Moment sanft und zärtlich, im nächsten wütend. Seit sie ihn kannte, war er launisch gewesen, doch seine Stimmungsschwankungen kamen ihr extremer vor als sonst und stellten Ivys Geduld auf die Probe. Mehr und mehr brachte er seine Unzufriedenheit zum Ausdruck, wenn sie sich weigerte, die Nacht bei ihm zu verbringen; er bestand darauf, sie zu Spritztouren in seinem schicken Wagen mitzunehmen, die in der Privatgarage der Astor Towers parkten, und obwohl Ivy jedes Mal ablehnte, weil sie fürchtete, jemandem zu begegnen, den sie kannte, wurde Roux sauer und war so lange beleidigt, bis sie ihn auf andere Weise tröstete, meistens mit Sex. Außerdem schlug er in letzter Zeit andauernd exotische Ziele für kurze Fluchten aus dem Alltag vor. Er beschwerte sich, dass er völlig überarbeitet sei – die Besorgungen, die er für Baldy (den Spitznamen hatte Ivy Baldassare Moretti gegeben) machte, führten ihn oft aus der Stadt hinaus, und er wollte Ivy nach Kuba, in die Toskana oder nach Marrakesch mitnehmen, wo sein Freund Andre Pascal lebte. Andre hatte ihn eingeladen, eine Woche in der Villa seiner Familie zu verbringen. Dann und wann zeigte ihr Roux Fotos von Marrakesch auf seinem Laptop. Ivy lobte pflichtbewusst die Aufnahmen von blauen Sonnenschirmen unter einem dunstigen, sandverschleierten Himmel und zerfallenden orangeroten Häusern, deren Farbe an reife Mangos erinnerte. Andere zeigten Moscheen mit Buntglasfenstern, in denen olivenhäutige Männer betend auf Webteppichen knieten. Sie fühle sich, als sei sie dort, behauptete sie, sie könne die Feigen und Datteln, deren Äste sich über die Gartenmauern bogen, förmlich riechen.
»Ich buche sofort die Tickets«, sagte Roux.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich muss lernen, Roux. Ich bin gerade durch die Aufnahmeprüfung gerasselt, schon vergessen?«
»Es ist doch nur für eine Woche.«
»Ich sagte Nein.«
Er umfasste ihr Handgelenk. »Wie lange willst du mich noch warten lassen?«
Sie schlug seine Hand weg. »Ich lasse dich warten, solange ich will.«
Ivy hielt dieses theatralische Getue für das eitle Dominanzgebaren eines Mannes, der die Frau in ihre Schranken weisen wollte, für etwas, worüber sie getrost lachen konnte, anstatt es als das zu sehen, was es in Wirklichkeit war: das verzweifelte Aufbegehren eines Mannes, der nicht länger auf eine Trophäe warten wollte, für die er seinem Ermessen nach ordnungsgemäß bezahlt hatte und die daher ihm gehörte.
Anfang März kündigte eines der Start-ups in Dave Finleys Portfolio – Swingbox – seinen bevorstehenden Börsengang mit einem Marktwert von einer Milliarde Dollar an. Um das gebührend zu feiern, mietete Dave eine Penthouse-Suite im Gonford und lud scheinbar ganz Boston zu dem Spektakel ein. In der E-Mail, die er Gideon schickte, stand wortwörtlich: »Bring deine Ivy und all deine Freunde mit. Schick Nancy die Namen, damit sie sie auf die Gästeliste setzt.« Alle aus Gideons Firma würden hingehen, und er lud außerdem Tom und Marybeth sowie Sylvia und ihren neuen Freund Jeremy Lier ein. Jeremy arbeitete ebenfalls »in der Technikbranche«, obwohl seine Arbeit – zumindest wenn er sie Ivy schilderte – hauptsächlich darin zu bestehen schien, sich selbst beim Spielen von Computergames zu filmen und Dinge vom Dach seines Wohnhauses zu werfen. Er behauptete, er sei ein Dokumentarfilmer.
Ivy hatte nicht vorgehabt, ihre Mitbewohnerin Andrea einzuladen. Es war Gideon, der diesen Vorschlag machte. »Ich denke, das macht ihr Spaß. Es werden auf jeden Fall Scharen von männlichen Singles herumlaufen, die nächste Woche allesamt frisch gebackene Millionäre sein werden.« Sein Ton war humorvoll, aber nicht zynisch. Er interessierte sich nicht für frisch gebackene Millionäre, aber er verstand sehr wohl, dass eine alleinstehende Frau im heiratsfähigen Alter solche Dinge zu schätzen wusste. Ivy unterdrückte ihren instinktiven Widerwillen und versicherte Gideon, sie würde ihre Mitbewohnerin fragen.
Andrea hatte sich die Haare zu einem längeren Bob schneiden lassen, der in fransigen Wellen ihre Kinnlinie umspielte, und ihre übliche hautenge Kleidung gegen High-Waist-Hosen und maskuline Manschettenblusen eingetauscht. Dazu trug sie flache Lederslipper mit Quasten. Sie hatte einen Farbberater konsultiert, der ihr erklärt hatte, sie sei ein »kühler Herbst« und solle daher aufhören, helle Farben und auffällige Muster zu tragen. Ivy war laut Andrea ein »heiterer Frühling«, was bedeutete, dass sie schwarze Kleidung meiden sollte, die ungefähr die Hälfte von Ivys Garderobe ausmachte. Am Abend der Party standen sie Seite an Seite vor dem dreiteiligen Spiegel in Andreas Zimmer. Ivy redete sich ein, dass Andrea diesen Abend verdient habe. Andreas Vater hatte kürzlich einen Herzinfarkt erlitten, und sie war nach Toronto geflogen und hatte sich zwei Wochen lang um ihn gekümmert; und noch dazu steckte sie sich in letzter Zeit nach ihren Fress- und Saufgelagen immer wieder einen Finger in den Hals und kam mit geschwollenem Gesicht und blutunterlaufenen Augen aus dem Badezimmer. Ivy redete sich außerdem ein, dass es nichts machte, wenn sie an diesem Abend neben Andrea verblasste, die umwerfend aussah in ihrem hochgeschlossenen marineblauen Jumpsuit und den locker fallenden, gewellten Haaren; es machte nichts, weil nichts davon echt war – früher oder später würde die richtige Andrea aus ihrer makellosen Hülle schlüpfen und die schöne Illusion zerstören.
Als sie eintrafen, war das Penthouse bereits rappelvoll mit Leuten, die sich Schulter an Schulter drängten, als wären sie auf der Tanzfläche eines Nachtclubs. Ganze Gruppen spärlich bekleideter Frauen quetschten sich an Ivy vorbei und riefen unentwegt »Entschuldigung, Entschuldigung !«, während Männer in Sweatshirts und Sneakers gleich vier Drinks balancierten. Ivy und Andrea fassten einander an den Händen und bahnten sich einen Weg durch den Raum zu der riesigen Fahne mit dem Logo des Start-ups (ein viereckiges Prisma), die über ihren Köpfen flatterte wie ein Kriegsbanner. Der Wind kam von einer großen Windmaschine in einer der Ecken der Suite, sah aus wie weißer Rauch und roch nach Wassermelonenbonbons. Gideon hatte ihr getextet, dass er und die anderen unter der Fahne stünden. Ivy entdeckte ihn, Sylvia und Tom an einem kaltweißen Cocktailtisch in Form einer Tulpe. Die Oberfläche war kaum groß genug für mehr als vier Weingläser.
»Hübscher Jumpsuit.« Sylvia nickte Andrea zu, nachdem Gideon sie einander vorgestellt hatte. »Sehr aggressiv.«
Andrea beschloss, dies als Kompliment aufzufassen, und strahlte Sylvia mit freundlichem Eifer an. »Du siehst großartig aus! Der Lachston passt perfekt zu deinem Teint.« Sie begann, Sylvia mit Details über ihre lebensverändernde Verabredung mit dem Farbberater zu überschütten. Ivy entnahm Sylvias abwesendem Blick, der nicht einmal auf Andreas Gesicht, sondern auf irgendetwas dahinter gerichtet war, dass Sylvia kein einziges Wort davon mitbekam.
»Andrea ist die Violinistin, von der ich dir erzählt habe«, schaltete Ivy sich ein.
Sylvia lächelte verständnislos.
»Sie spielt beim Boston Symphony Orchestra.«
»Richtig, jetzt erinnere ich mich …«
»Ein Freund von Sylvia hat das Album komponiert, das ich dir geschenkt habe, Der Uhrmacher «, sagte Ivy zu Andrea.
»Oooh!«, rief Andrea aus. »Ich liebe …«
Ivy wandte sich an Gideon und Tom. »Wo ist Marybeth?«
»Sie hatte keine Zeit«, antwortete Gideon voller Bedauern.
»Sie hasst derartige Veranstaltungen.« Tom grinste abschätzig, um seine eigene Verachtung zu demonstrieren. »Ich habe gerade zwanzig Minuten damit verbracht, einer Gruppe von Idioten zuzuhören, die sich gegenseitig ankacken, weil sie ›nicht groß genug denken‹ und ›das hier aufmischen‹ und ›Gutes tun‹ wollen, um ›die Menschheit zu verbessern‹. Und die ganze Zeit über erzählen sie den Mädels, wie viel Eigenkapital sie in dieses kleine Unternehmen gepumpt haben. Im Bankwesen sagen die Leute wenigstens, was sie meinen: Ich will Geld machen, und zwar haufenweise.« Er bemerkte Gideons missbilligendes Stirnrunzeln, und sein Gesichtsausdruck wurde milder. »Ich weiß, ich weiß – ihr seid anders. Gemeinnützige Gesundheitsversorgung … Ich nehme an, ihr habt euch für den Rest eures Lebens der Armut verschrieben wie ein barfüßiger Mönch …«
Neben Tom hatten Sylvia und Andrea aufgehört zu reden, genauer gesagt, Sylvia schwieg nach wie vor, und Andrea war nicht so schwer von Begriff, dass sie das offensichtliche Desinteresse der anderen Frau nicht bemerkte. Sie lächelte Ivy auf eine vage, strahlende Art über den Cocktailtisch hinweg an, die ihre Nervosität widerspiegelte.
»Wie geht es mit Jeremys Dokumentation voran?«, erkundigte sich Ivy bei Sylvia.
»Seine Vision wird größer«, sagte Sylvia und trommelte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf eines der Tulpenblätter. »Er möchte raus aus dem Start-up-Status und hat vor, auch größere Organisationen mit ihren unterschiedlichen Teams zu filmen. So will er den Streik der Boeing-Maschinisten in Oregon dokumentieren. Wenn er ihn rechtzeitig fertig bekommt, wird der Film im nächsten Jahr auf der Berlinale gezeigt.«
»Das klingt ja fantastisch«, sagte Andrea.
»Er ist brillant«, bestätigte Sylvia. »Ein echter Visionär. Alles, was er macht, ist wohldurchdacht. Er leidet nicht an der Trägheit, die den Rest der Welt befallen hat. Die meisten Menschen sind bloß Schafe, verkleidet als intelligente Wesen, die darauf warten, geschlachtet zu werden.«
Andrea lachte unsicher. »Du hast ja so recht.«
»Das klingt genauso bescheuert wie die Scheiße, von der ich gerade erzählt habe«, warf Tom dazwischen.
Sylvia grinste. Es hätte so oder so ausgehen können, dachte Ivy. Sie hatte angenommen, Sylvia würde fuchsteufelswild werden, aber sie sah an Tom vorbei und winkte einem Mann zu, der mit geeisten Cocktailgläsern, verziert mit verschiedenen Fruchtscheiben, auf sie zukam. Ivy fand, dass Jeremy Lier, abgesehen von seinen grünen Augen, Roux bemerkenswert ähnlich sah – groß, schlank, breite Schultern, schmale Hüfte. Genau wie Roux kleidete er sich mit ungezwungener Lässigkeit – Turnschuhe, graue Beanies und Umhängetaschen aus Cord –, aber Ivy wusste inzwischen, dass sie Jeremy deshalb keineswegs für einen ums Überleben kämpfenden Künstler halten durfte. Bei diesen Leuten war der Verzicht auf überflüssige Wohlstandsinsignien angesagt – Geld war kein Thema.
»Ups, ich wusste nicht, dass noch zwei kommen«, sagte Jeremy, als er die Cocktails abstellte. Andrea bot an, die Drinks für sie und Ivy zu holen, um Jeremy einen weiteren Gang zu ersparen. »Ich komme mit«, bot Ivy an, doch Andrea wehrte ab, das sei nicht nötig. Sie schien erleichtert, eine Aufgabe zu haben. Noch bevor sie zehn Schritte zurückgelegt hatte, näherte sich ihr ein dürrer junger Mann mit schwarz gerahmter Brille und affektiertem Lächeln. Er trug eins der gelben T-Shirts mit dem Aufdruck SWINGBOX TO YOUR NEW REALITY , die kostenlos in der Lobby verteilt wurden.
»Und tschüss!«, raunte Ivy Gideon zu. »Wir werden sie für den Rest des Abends nicht wiedersehen.«
»Kommt sie klar?«
»Sie ist ein großes Mädchen.« Ivy lächelte angestrengt. »Lass uns keine Spaßbremsen sein.«
Ein berühmter DJ betrat die Bühne, und alle schwärmten Richtung Tanzfläche. Sylvia und Jeremy schlenderten davon, um Ausschau nach dem beheizten Pool zu halten. Tom debattierte mit einem silberhaarigen Mann über die moralischen Grundlagen beim Verkauf von Social-Media-Daten. Gideon war in sein Handy vertieft, vermutlich checkte er seine E-Mails. Er wirkte erschöpft; das Licht, das der kaltweiße Tulpentisch reflektierte, ließ seine hervorstehenden Wangenknochen aussehen wie Marmor. Ivy kuschelte sich an ihn und schlang ihren Arm um seine Taille. In Momenten wie diesen, inmitten einer Menge aus lärmenden Fremden, suchte sie seine Nähe, die für sie eine Art Selbstbestätigung war, am meisten.
Auf einem trapezförmigen Podest auf der anderen Seite des Raumes erblickte sie die hoch aufragende Gestalt von Liana Finley, die in einem aufwendig verarbeiteten Seidenkimono die Hüften schwang. Sie hatte eine Federboa um den Hals geschlungen wie einen blauschwarzen Hermelin. Gideon fasste Ivy am Ellbogen und entschuldigte sich, er müsse einmal zur Toilette. »Kann ich dich kurz allein lassen?«, rief er ihr ins Ohr.
Ivy deutete auf das Podest. »Ich tanze mit Liana.«
»Ich komme dann zu dir«, sagte Gideon und ließ ihren Ellbogen los. Ivy holte sich an der Bar einen Drink und drängte sich durch die schwitzende Menschenmenge. Liana zog sie sofort aufs Podest. Wortlos schlang sie die Federboa um Ivys Hals und umtanzte sie mit erhobenen Armen, den Kopf in den Nacken geworfen. Ivy hörte Pfiffe. Jemand rief: »Yeah, Liana!« Die Musik wurde noch lauter. Ivy lachte, Champagnerdünste kitzelten ihr angenehm in der Nase. Sie fühlte die Blicke Hunderter Gäste auf ihrem sich windenden Körper, der sich an den von Liana schmiegte. Wenn sie sich doch nur immer so fühlen könnte, als würde sie im Traum fliegen! Ihr Blick schweifte wundersam losgelöst durch den Raum und taxierte diejenigen, die sie taxierten – im Ergebnis ein durchaus wohlwollender Austausch. Grelle Neonlichter zuckten, Mädchen kreischten begeistert. In einer dieser Blitzlichtsekunden sah Ivy Roux in der Ecke neben dem Podest stehen, der sie beim Tanzen beobachtete.
Er war es, definitiv. Oder doch nicht? Vielleicht hatte sie sich geirrt. Die Lichter zuckten weiter, und wieder blitzte Roux’ Gesicht auf. Ivy sah seine schwarzen Haare, die blasse, hochgewachsene Gestalt in weißem T-Shirt und schwarzer Jeans.
Sie hörte auf zu tanzen. Liana versetzte ihr einen schmerzhaften Stoß mit der Hüfte, dann umfasste sie Ivys Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie ihr ins Gesicht sehen musste. Seltsam, wie unmenschlich Menschen aussahen, wenn man sie aus der Nähe betrachtete. Sämtliche Kriterien von Attraktivität wurden irrelevant, reduziert auf Formen und Kurven und Linien. Es war, als würde man in das Gesicht eines Nutztieres schauen, für das man keine Verwendung mehr hatte. Ivy versuchte, ihren Körper synchron zu Lianas zu bewegen, doch sie verlor den Fokus und hörte weder die Musik noch das Geschrei der Leute. Roux’ Blick hielt sie wie in einer unsichtbaren Box gefangen, isoliert von der Außenwelt. Sie befreite sich von Lianas Federboa und sprang vom Podest. Ein Männerarm schnellte vor, scheinbar um ihr Halt zu geben, doch in Wirklichkeit, um ihr mit der Hand über den Hintern zu streichen. Sie versuchte, Roux über die Köpfe der anderen hinweg zu entdecken, doch sie war zu klein, selbst in ihren Zehn-Zentimeter-Stilettos, um mehr zu sehen als die riesige Fahne, die im künstlichen Wind flatterte. Sie hatte ihn verloren.
Ivy bahnte sich einen Weg durch sämtliche Räume des Penthouse, dann sah sie Jeremy und Sylvia im Jacuzzi. Neben ihnen tobte eine wilde Poolparty.
»Woher habt ihr die Badesachen?«, fragte sie und beugte sich etwas steif in ihrem kurzen Kleid zu den beiden hinunter.
»Sie verteilen sie dort drüben«, sagte Sylvia und deutete auf einen Tisch an einer der Wände, wo zwei Osteuropäerinnen in Hausmädchen-Uniform den Gästen fluoreszierende Badeanzüge und Schwimmshorts reichten. Einige Männer am Ende der Schlange beschlossen, nicht länger zu warten, zogen sich aus und machten splitterfasernackt eine Arschbombe ins Wasser.
»Ekelhaft«, befand Sylvia. »Das ist der Grund, warum wir nicht in den Pool gehen.« Ihre Augen zuckten zu Ivy, die noch immer unbeholfen über ihnen kniete. »Spring rein«, schlug sie vor.
Ivy zögerte. Sie wollte hier keine Wurzeln schlagen, aber sie wollte auch nicht wieder in die Menge eintauchen. Der warme, moschusartige Chlorgeruch erinnerte sie an die Schwimmhalle in der Schule. Sie zog die Schuhe aus, setzte sich an den Rand des Jacuzzi und steckte die Beine ins blubbernde Wasser. Jeremy und Sylvia unterhielten sich miteinander und gaben sich kaum Mühe, Ivy in ihr Gespräch miteinzubeziehen. Es machte ihr nichts aus. Ihre Gedanken schweiften hierhin und dorthin, sie sah Mädchen mit ungesund blass wirkenden jungen Männern in gelben T-Shirts für Fotografen posieren – Männer, die laut Gideon in der nächsten Woche Millionäre würden. Schon jetzt entwickelten sie die Arroganz, die dem Geld vorausging. Man konnte es an der rücksichtslosen Art erkennen, mit der sie einander packten und sich gegenseitig in den Pool warfen, wo sie sich in dem Bewusstsein, beobachtet zu werden, auf Schwimmtieren in Form von Flamingos räkelten. Ivy hörte nur mit halbem Ohr zu, als Sylvia zu Jeremy sagte: »… immerhin war er ein großer Kunstmäzen. Ihr zwei hättet euch gut verstanden.«
»Du meinst diesen italienischen Mafioso?«
»Er ist Rumäne.«
Ivys Kopf schnellte zu Sylvia herum. »Wen meinst du?«
»Den Typen, den ich gedatet habe, Roux Roman. O ja, du hast ihn ja kennengelernt … Ivy war im letzten Sommer mit in Cattahasset«, erklärte sie Jeremy. Sie schien völlig vergessen zu haben, dass Ivy und Roux einander schon lange gekannt hatten, bevor sie ihm begegnet war. »Übrigens: Mein Cousin Francis arbeitet bei der Drogenbehörde und hat ihn überprüft. Roux ist für mehrere Kredithaie tätig, die zum Schein verschiedene Restaurants betreiben, außerdem einen Käseladen im North End und diverse Sandwich-Shops. Sie besitzen wohl auch einige Casinos in Las Vegas. Zunächst war ich überrascht, dass sie einen Außenseiter wie ihn angeheuert haben, aber ich nehme an, es gibt nicht genügend Familienmitglieder … Und dann hat er noch diese alten Lagerhäuser gekauft und in Bodegas umgewandelt – oh, Mist, da kommt er wieder … Glaubt ihr, er stalkt mich?«
Tatsächlich. Sylvias scharfe bernsteinfarbene Augen hatten Roux neben den Trauben von gelben und weißen Luftballons am Rand der Menge entdeckt.
»Denkst du, er ist deinetwegen hier?«, fragte Ivy, außerstande, ihre Ungläubigkeit zu verbergen.
»Warum sonst sollte er hier sein?«, fragte Sylvia mit zu Schlitzen verengten Augen zurück. »Ich musste schon öfter einstweilige Verfügungen erwirken.«
»Hat er sich dir genähert?«
»Noch nicht«, gab Sylvia zu. »Ich habe gesehen, wie er vorhin gekommen ist. Er geht sonst nie zu solchen Veranstaltungen – und er wusste , dass ich heute Abend hier sein würde, um Gideon zur Seite zu stehen.«
»Du machst mich ganz eifersüchtig«, sagte Jeremy und küsste Sylvias Haar. Sylvia kitzelte ihn unter dem Kinn.
Jeremys grüne Augen weiteten sich. »Glaubt ihr, der Kerl hat schon mal jemanden umgebracht?«
»Mit Sicherheit«, antwortete Sylvia. »Als ich ihn das eine Mal in seinem Haus in Evansville besucht habe, waren da diese Handwerker. Es waren zwei, doch statt der typischen Handwerkerkleidung trugen sie Anzug und Krawatte, während sie den Keller mit Beton ausgossen. Darunter war Erde, sonst nichts. Zumindest nichts, was nicht schon längst verbuddelt worden war …« Ihr Blick bohrte sich in Roux’ Rücken, als wollte sie ihn herausfordern, herüberzukommen und ihr zu widersprechen, aber er drehte sich nicht in ihre Richtung, obwohl Ivy überzeugt war, dass er sie längst gesehen hatte.
»Über die Bostoner Mafia würde ich wahnsinnig gern mal einen Film machen«, sagte Jeremy. »Wenn ich mir doch nur irgendwie Zugang verschaffen könnte – zum Boss. Glaubst du, der Typ würde mit mir reden? Mir ein Interview geben?«
»Das bezweifle ich, mein Süßer«, sagte Sylvia. Sie fächelte sich mit den Händen Luft zu. »Lass uns rausgehen. Ich werde bei lebendigem Leibe gekocht.«
***
Ivy hatte das Gefühl, sie müsse in Bewegung bleiben, wie ein Hai, der in dem Moment sterben würde, in dem er sich ausruhte. Ihr fiel ein, dass Gideon auf dem Podest nach ihr Ausschau hielt, wo sie mit Liana getanzt hatte. Wie lange war es her, dass er zur Toilette gegangen war? Sie kehrte zur Tanzfläche zurück, aber Liana war fort. Stattdessen hatte eine Schar von Frauen in den kostenlosen Badeanzügen ihren Platz eingenommen, ausgelassen, barfuß, die Haare nass vom Poolwasser.
Gideon war nicht zu sehen. Sie drängte sich zu einer Ecke des Raumes durch, dann zur nächsten, um sich den Anschein von Zielstrebigkeit zu verleihen. Sie entdeckte Andrea mit dem dürren jungen Mann von vorhin auf einem der aufblasbaren Sofas. Er saß im Schneidersitz da und sah aus wie Andreas kleiner Bruder oder Teenager-Sohn. Eine fleischige Frau mit lavendelfarbenem Haar prallte gegen Ivy. Sie fingen ein Gespräch über die Gefahren von Indoor-Pools an. Die Frau streckte ihr ihren Gras-Vaporizer entgegen. Ivy nahm zwei tiefe Züge, dann gab sie ihn zurück. »Ich liebe Ihre Haare. Meine Mitbewohnerin würde Sie einen ›stürmischen Winter‹ nennen.« Die Frau grinste. »Kommen Sie.« Ivy folgte ihr ins Treppenhaus. Sie nahmen Stufe um Stufe und hielten sich dabei an dem schmiedeeisernen Geländer fest, das in endlosen Spiralen unter der Glaskuppel in die Höhe führte. »Ivy, Mädchen!«, dröhnte eine Männerstimme über ihren Köpfen. Dave Finley stand in einem orangeroten Anzug auf dem obersten Absatz, den Hemdskragen geöffnet, unter dem seine sommersprossige Altmännerhaut zum Vorschein kam.
»Ich freue mich, dich zu sehen, meine Liebe! Ich habe dir noch gar nicht zu eurer Verlobung gratuliert.«
Hatte er doch, und zwar mehrfach, aber sie bedankte sich trotzdem und warf einen Blick über die Schulter. Die Frau mit den lavendelfarbenen Haaren war nicht mehr da.
»Hast du Gideon gesehen?«, fragte sie.
»Ich habe Gideon letzten Sommer gesagt: ›Du hast dir ein Einhorn geschnappt, Gideon. Eine Frau mit Schönheit, Köpfchen und gesundem Menschenverstand. Eine absolute Rarität.‹« Er zielte mit einer gelben Spielzeugpistole, die mit Seifenblasen schoss, auf Ivys Haare.
»Hör auf!«, rief sie und atmete eine Seifenblase ein.
Er drückte immer wieder ab.
»Aufhören!«
Dave packte sie und presste seinen Mund auf ihren. »Wie schön du bist«, stieß er atemlos hervor, als er sich von ihr löste. »Ich habe eine Suite im achten Stock, wenn du eine kleine Führung möchtest.«
»Du bist so betrunken!« Ivy lachte und versuchte, das Ganze als Scherz abzutun. »Hast du die Federboa von deiner Frau gesehen? Einfach fabelhaft!«
»Was?«
»Man weiß nicht, ob sie aus Fell oder Federn ist. Heutzutage tragen die Leute kaum noch Pelz, weil sie behaupten, das sei unmenschlich. Wie dem auch sei: Liana sieht aus wie ein prächtiger Pfau. Der lange, schlanke Hals, die seidigen Haare …«
Wie erwartet, konnte Dave in betrunkenem Zustand keine gesprächige Frau ertragen, deshalb unterbrach er Ivy, indem er seine Pistole in Richtung Glasdach abfeuerte und den Namen seiner Frau rief.
Ivy floh. Endlich erreichte sie das Dach. Dort saßen Gideon und Tom auf gepolsterten Liegestühlen unter einem Heizstrahler. »Ich habe dich überall gesucht«, sagte sie außer Atem und hatte das Gefühl, jeden Moment in hysterisches Gelächter auszubrechen.
»Du solltest mir dankbar sein, Ivy«, sagte Tom. »Ich habe deinen Verlobten soeben vor einer Gruppe hungriger Cougars gerettet. Wir konnten gerade noch entkommen.«
»Vielen Dank, Tom. Danke, dass du Gideon immer rettest. Du bist so ein Held .«
Gideon bewegte die Lippen, aber sie konnte sich nicht auf das konzentrieren, was er sagte. Ein Rauschen füllte ihre Ohren, wie Wind, der über eine Graswiese strich.
»Ich kann dich hier oben nicht hören«, sagte sie und gestikulierte mit den Händen. »Können wir woanders reden?«
Gideon stand auf und nahm ihren Arm. »Lass uns reingehen.« Er führte sie in den Wartebereich für die Toiletten. »Geht es dir gut?«
Sie erwiderte, sie habe wohl einen Drink zu viel gehabt und fühle sich ein bisschen beschwipst. Hinter Gideon tauchte eine dunkelhaarige Gestalt auf. Ivys Herz setzte einen Schlag aus, doch es war nur eine der Angestellten mit einem Armvoll Handtücher, die voller Flecken waren – Ivy tippte auf Kool-Aid-Brause.
»Komm, wir spritzen dir etwas Wasser ins Gesicht«, schlug Gideon vor. Als sie sich nicht rührte, führte er sie persönlich in die Damentoilette.
»Ich bin Dave im Treppenhaus begegnet«, sagte sie.
»Ja, ich war auch schon bei ihm. Er ist ziemlich betrunken.«
»Wusstest du, dass er eine Suite im achten Stock hat?«
»Wirklich? Das muss nett sein.«
Er weiß es, dachte Ivy, als sie in Gideons ausdrucksloses Gesicht blickte. Er weiß es, und er will es mir nicht sagen. »Komm her.« Sie schob Gideon in eine der Kabinen und schloss die Tür ab. Er war eher verwirrt als überwältigt; dann, als er begriff, was sie von ihm wollte, entgleisten seine Gesichtszüge. Er nahm ihre Hände und drückte sie an seine Lippen. Aber sie wollte keine Zärtlichkeit. Sie machte sich los, kniete sich vor ihn, zog ihm die Hose herunter und nahm ihn in den Mund. Sie war absichtlich grob, angemacht und gleichzeitig abgestoßen von seinem schwammigen Glied, das hart wurde und gegen ihre Zunge drückte. Seine Hände auf ihrem Kopf waren warm und fühlten sich an wie eine Krone. Eine Minute später richtete sie sich auf. Den Rücken gegen die Kabinenwand gedrückt, schlang sie ein Bein um seine Hüfte und führte ihn in sich hinein. Sie bewegten sich im Gleichtakt, mit kleinen, sanften Bewegungen, dann konnte sie nicht länger an sich halten und stellte den Fuß auf den Toilettensitz. Er rutschte aus ihr heraus. Sie versuchte erneut, aber als sie darum kämpfte, ihn wieder in sich hineinzubekommen, stieß Gideon sich den Ellbogen an der Wand und gab einen leisen Schrei von sich. »Nehmt euch ein Zimmer, das ist ja ekelhaft «, sagte eine Frau in der Nachbarkabine. Gideon erstarrte. Er wurde blass und presste voller Scham die Lippen zusammen. Ivy sah ihren Verlobten wie aus weiter Ferne an. Seine Beschämung kam ihr traurig vor. Sie war traurig, weil er sich schämte, traurig, weil sie diejenige war, die ihn in diese Verlegenheit gebracht hatte.
Ohne ein Wort zu sagen, zog er seine Hose hoch. Sie strich ihr Kleid glatt. Wie Diebe, die sich getrennt voneinander aus dem Staub machten, schlichen sie sich zurück auf die Party und mischten sich unter die anonyme Menge.