Abi fliegt aus der Pension in Toronto, in der sie die letzten paar Jahre gelebt hat, weil eine ihrer Camels ein Feuer verursacht hat. Sie spielt es herunter und behauptet, es sei keineswegs lebensgefährlich gewesen und man hätte damit bestenfalls Marshmallows rösten können. Ihr Plan lautet, für eine Weile wieder zu den Einheiten zu ziehen, aber Eli schlägt ihr vor, nach Montreal zu kommen und sich seine große neue Wohnung im obersten Stock eines Dreifamilienhauses mit ihm zu teilen. »Es wäre ein Neuanfang. Du könntest sozusagen reinen Tisch machen«, sagt er. Und sie: »Als gäbe es für mich Neuanfänge. Oder als könnte ich je wieder rein sein.«
Er rechnet nicht damit, dass sie kommt, aber sie kommt, mit ihrer Mary-Poppins-Tasche. Es ist Anfang September, die Geschwister sind dreiundzwanzig und fünfundzwanzig, und es ist sieben Jahre her, seit sie zuletzt zusammengelebt haben. Die neue Wohnung liegt im selben Block wie eine Fabrik, die einen kleinen, mit Crememasse gefüllten Schokoladenkuchen herstellt, der als Jos. Louis bekannt ist. Auf der anderen Seite liegt eine Bagel-Bäckerei. Wenn der Wind aus der einen Richtung weht, riecht es nach Schokolade, kommt er aus der anderen, riecht es nach Hefe. Das Viertel heißt Mile End, was ausdrücken soll, dass es eine Meile von der Innenstadt entfernt ist. »Es ist nicht Hell’s Kitchen«, sagt Abi, »aber ganz okay.«
Die Wohnung: zwei Schlafzimmer nach vorne heraus, das von Abi mit Balkon, ein winziges Arbeitszimmer für Eli, ein großes Wohnzimmer, eine Küche nach hinten heraus mit einem zweiten Balkon, der auf eine Gasse hinausgeht. Eli streicht die Wände weiß, putzt die Fenster mit Essig, wischt zwanghaft an jedem Schmierstreifen herum, kauft in einem nahegelegenen Geschäft einen neuen Staubsauger, dessen Logo einen Elefanten mit einem Dreck-einsaugenden Rüssel zeigt. Putzen beruhigt ihn so wie Joggen, der Geruch von Vim, Ajax, Palmolive macht ihn high, deshalb stört es ihn nicht weiter, dass Abi höchstens einmal ihre dreckigen Teetassen auswäscht. Er ist glücklich, wenn er schrubben, scheuern, fegen kann. Sie nennt ihn ihre Stepford-Frau.
Im ersten Stock wohnt eine Gesangslehrerin, und wenn sie Unterricht gibt, schweben die Klänge wie ein gedämpftes Schlaflied nach oben in die Wohnung der Geschwister. Im Viertel leben Schauspieler, Maler, Schriftsteller, Tänzer und Bildhauer, und Eli hofft, dass sie eine Inspiration für Abi sein werden, die seiner Meinung nach eine Künstlerin auf der Suche nach ihrer Kunstform ist. Er drängt sie zu schreiben, vielleicht sardonische kleine Essays über modernes Leben à la Fran Lebowitz oder sardonische kleine Erzählungen über modernes Leben à la Tama Janowitz. Er selbst besucht einen Kurs über Literatur aus Quebec und arbeitet als Übersetzer. Von dem Geld, das er damit verdient, kauft er sich und Abi als Mitglieder im Musée des beaux-arts de Montréal ein, und sie besuchen es oft. Die Ausstellungen sind Balsam für ihre Seelen, ähnlich wie ein Glas Whiskey. Außerdem unternehmen sie mit der Polaroid-Kamera nächtliche Streifzüge durch die Stadt, und Abi schießt stimmungsvolle Fotos durch die Fenster geschlossener Geschäfte, beispielsweise von den in einem Waschsalon aufgereihten himmelblauen Waschmaschinen mit ihren offenstehenden Türen.
Sie hat eine Idee für ein Fotoprojekt: Auf der ganzen Welt will sie Frauen namens Abigail Jones aufspüren und fotografieren. »Cindy Sherman fotografiert immer wieder sich selbst in unterschiedlichen Aufmachungen und Umgebungen. Das hier wäre das absolute Gegenteil. Keine Fotos von mir, sondern nur von Frauen mit meinem Namen. Von anderen Versionen von mir.«
Vielleicht könnte sie ein Reisestipendium bekommen, um sich auf die Suche nach diesen Frauen zu machen, schlägt Eli vor. Die Künstler und Künstlerinnen der Nachbarschaft bewerben sich ständig um Stipendien. »Wie willst du dein Projekt nennen?«
»Namensschwestern.«
Wird sie es wirklich durchziehen? Garantiert wird sie, obwohl ihre Mutter immer behauptet hat, Abi sei faul und habe kein Durchhaltevermögen. Er nimmt Abi mit in Kneipen und führt Nachbarn und Freunden seine kluge, lustige, hübsche Schwester vor wie eine auf Besuch weilende Berühmtheit, und wie eine Berühmtheit zeigt sie kaum Interesse an ihnen, amüsiert sie erst mit ihrem Charme und blendet sie aus, sobald sie anfangen, über ihr eigenes Leben zu sprechen. Als Eli ihr deswegen Vorhaltungen macht, verdreht sie die Augen und sagt: »Die Hölle, das sind die anderen.«
»Das empfinde ich ja genauso, aber wenigstens tue ich so, als würde ich zuhören.«
»So tun als ob ist dasselbe wie Lügen.«
»Und ich? Bin ich für dich auch die Hölle?«
»Du bist nicht die anderen. Du bist eine andere Version von mir selbst.«
»Eine XX-Version?«
»XY! Verdammt, du kannst die Geschlechter ja immer noch nicht auseinanderhalten.«
»Erzähl mir was Neues.«
Sie fallen zurück in ihren alten Austausch von Schlagfertigkeiten. Am Anfang fürchtet er, ihre Anwesenheit könne ihn an die Vergangenheit erinnern, die zu vergessen er sich solche Mühe gegeben hat, und ja, das tut sie, aber sie holt ihn auch aus der Einzelhaft seines Kopfes heraus. Seine Obsessionen und Zwänge bessern sich zwar nicht, aber immerhin werden sie auch nicht schlimmer.
Ein Beispiel: Er sieht sich im Kino einen Film an, in dem eine Frau bügelt. Dabei fällt ihm ein, dass er zwar ein Bügeleisen besitzt, es aber nie benutzt, und er empfindet das zwingende Bedürfnis, es wegzuwerfen. Er bekommt das verdammte Bügeleisen einfach nicht mehr aus dem Kopf, es brennt sich in seine Gehirnzellen ein. Er kann sich nicht mehr auf den Film konzentrieren und geht, nein, rennt nach Hause, wirft das Bügeleisen in einen Müllcontainer, beruhigt sich. Wird wieder normal, oder so normal, wie Eli Jones es sein kann.
Nur Abi kann er diese verrückten Sachen gestehen, die er macht. Sie sieht Logik, wo andere keine erkennen: »Du hast recht, wir haben dieses Bügeleisen nicht gebraucht. Bon débarras.«
Umgekehrt ist es bei Abi so: Wenn man sie fragt, wie es ihr geht, antwortet sie »Mal so, mal so« und dreht die Hand hin und her wie um zu sagen »Comme çi, comme ça«. Es gibt Tage, an denen sie sich stundenlang in ihrem Zimmer verkriecht, eine Camel nach der anderen raucht, ein Buch nach dem anderen liest und nur zum Vorschein kommt, um eins ihrer ewig langen, Fingerspitzen-schrumpelnden Bäder zu nehmen. Aber zumindest ist die Kakerlake unter Kontrolle und Eli hat keine Angst mehr, dass sie in der krallenfüßigen Wanne eine Diane-Arbus-Nummer abziehen könnte. Sie redet sogar davon, wieder zur Schule zu gehen und ihren Highschool-Abschluss nachzuholen.
Der Dezember jedoch bringt einen Wechsel ins Dunkel mit sich – für Abi, für Eli, für alle in der Stadt. Es fängt an einem Mittwochabend an, als Eli auf dem Laufband im Trainingsraum vor Schweiß trieft. Draußen wird es schon dunkel, es ist nach Hund, ein gutes Stück in Richtung Wolf. Durch das Fenster der Halle sieht er einen Krankenwagen vorbeirasen, dann ein Polizeiauto, hört die Sirenen. Dann noch ein Krankenwagen, zwei weitere Streifenwagen. Normalerweise läuft er 60 Minuten, keine Minute mehr, keine Minute weniger, heute jedoch hört er nach siebenundzwanzig Minuten auf, zieht sich nicht um, duscht nicht, zieht einfach seinen Parka über den Trainingsanzug und verlässt das Gebäude. Sein Bauchgefühl sagt ihm, er soll verdammt nochmal machen, dass er hier wegkommt. Der Trainingsraum ist Teil der Université de Montréal und etwa eine Meile von Mile End entfernt. Schnee stöbert über den Boden, Schlaglochpfützen sind zugefroren und rissig und sehen aus wie zerschmetterte Spiegel, die jahrelanges Unglück bringen.
Weitere Streifenwagen rasen vorbei, den Berg hinauf in den Campus. Den Rucksack auf dem Rücken joggt Eli nach Hause. Im Hintergrund heulen die Sirenen weiter. Als er die aneinander gereihten Edelboutiquen und Nobelrestaurants auf der Laurier Avenue erreicht, rennt er.
Zu Hause sitzt Abi auf der Treppe, die zu ihrer Wohnung führt. Sie trägt ihren Kimono, eine Strickmütze, einen Schal und Handschuhe, weil es auf der Treppe immer kalt ist. Neben ihr steht eine offene Weinflasche.
»Was ist?«, fragt er.
Sie kommt die Treppe herunter. Zum allerersten Mal sieht er Tränen in ihren Augen, und ihr Weinen ängstigt ihn mehr als die durch die Nacht heulenden Sirenen.
Sie drückt ihn fest an sich. »Ich hatte solche Angst, du wärst tot«, sagt sie.
»Wieso sollte ich tot sein?«
Mehr oder weniger ahnt er die Antwort, bevor sie ihm den Grund nennt.
Oben in der Wohnung besteht sie darauf, dass sie in sein Arbeitszimmer gehen, einen kleinen, fensterlosen Raum von der Größe eines begehbaren Kleiderschranks. Sie macht die Tür von innen zu, als sei das Zimmerchen ein sicherer Raum, in den kein Buhmann eindringen kann. Das einzige Licht kommt von der grünen Bankierlampe auf seinem Schreibtisch. Er holt seinen Ghettoblaster, sie eine Flasche Wein. Sie sitzen auf dem Boden, Abi noch mit der Mütze auf dem Kopf, deren Ohrenklappen sie aussehen lassen wie einen Labrador. Der Schweiß trocknet auf Elis Haut und lässt ihn bis ins Mark frieren. Sie reichen die Weinflasche zwischen sich hin und her, trinken direkt aus der Flasche, bekleckern sich mit Pinot Noir, während sie sich im Radio die Eilmeldungen über die dramatischen Ereignisse anhören.
An diesem Abend ist ein bewaffneter Mann am Polytechnikum der Universität Amok gelaufen und hat zwei Dutzend Menschen angeschossen, bevor er sich selbst den Schädel wegpustete. Die Geschwister hören mit weinverschmierten, vor Entsetzen offenen Mündern zu. Als sich herausstellt, dass der Wahnsinnige es vor allem auf Frauen abgesehen hatte und mindestens ein Dutzend von ihnen getötet hat, macht Abi das Radio aus. Sie können es nicht mehr ertragen, noch länger zuzuhören.
»Ein Dutzend Frauen«, sagt Eli fassungslos.
»Ein Dutzend heute, ein Dutzend morgen, ein Dutzend am Tag darauf«, sagt sie. »Und immer so weiter.«
In den nächsten Tagen verlässt Abi die Wohnung kein einziges Mal, auch nicht, als Eli vorschlägt, an einer Mahnwache für die insgesamt vierzehn getöteten Frauen teilzunehmen. Er würde auch ohne sie gehen, aber sie will nicht alleingelassen werden. Sie will nicht einmal, dass er zum Perrette’s gleich um die Ecke geht. Er ist nicht sicher, ob sie Angst hat, ein Verrückter könne ihn auf der Straße abknallen, oder dass einer einbricht und sie ermordet. Vielleicht beides.
Sie bittet ihn, seinen Schreibtisch, den Computer, den Drucker und den Aktenschrank in sein Schlafzimmer zu stellen, damit sie ihren Futon in das kleine Zimmerchen bringen kann, das sie inzwischen als Panikraum bezeichnen. Hier fühlt sie sich weniger panisch. Sie hat nichts dagegen, dass er den Ghettoblaster bei seinen französischen Chansons auf volle Lautstärke dreht, aber Nachrichten, in denen es um die Morde geht, sind verboten. Auch herumliegende Zeitungen darf es nicht geben. Zum Glück haben sie keinen Fernseher. »Lass mich in Unwissenheit leben«, sagt sie zu Eli.
Ihre Mutter ruft an, aber die Geschwister ignorieren die Nachricht, die sie auf ihrem Anrufbeantworter hinterlässt. Während Eli Rosinenmuffins bäckt, ruft Joy noch einmal an. Dieses Mal geht er ran. »Du hast doch Kurse an dieser Universität belegt, oder?«, will sie wissen.
»Ja, aber ich war an dem Abend nicht da«, lügt er.
Pal kommt an den Apparat. »Wie geht es Abi? Hol sie ans Telefon, ja?«
»Es geht ihr gut, aber sie ist nicht da. Sie ist in der Bibliothek.«
Als die Muffins fertig sind, bringt er einen Teller damit zum Panikraum und klopft an die Tür. Abi ruft »Herein.« Sie liegt auf ihrem Futon, einer kuscheligeren, dickeren Version des Papp-Manhattans, und liest einen Roman von Shirley Jackson. Eli setzt sich zu ihr, und sie knabbern die warmen Muffins. Abi isst drei, mehr als alles, was sie seit dem Amoklauf auf einmal gegessen hat.
»Die Einheiten haben angerufen, um zu hören, wie es uns geht. Ich habe gesagt, dass du nicht da bist.«
Abi schüttelt den Kopf und starrt eine Weile auf die Krümel auf ihrem Schoß. »Er hat gesagt, dass es in manchen Kulturen etwas ganz Normales ist, aber er wusste nicht, in welchen. Ganz klar ist er kein Anthropologe.«
Wie bitte? Was? Eli kann ihr nicht folgen. Und hätte fast gesagt: Deine Gedankensprünge werden immer chaotischer.
»Er hat gesagt, es wäre aus reiner Liebe passiert. Das Wort ›rein‹ hat er immer wieder verwendet. Ich war rein, er war rein, unsere Reinheit war schön und spirituell, und ich« – hier gibt sie einen rasselnden Seufzer von sich –, »ich habe drei Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass es reiner Schwachsinn war.«
»Oh Gott«, sagt Eli, der ihr endlich folgen kann. »Es tut mir so leid.« Ihm tun all die furchtbaren Dinge leid, die Männer Frauen und Mädchen antun. Ebenso seine eigene, feige Reaktion, seine übereilte Flucht, und dass er selbst jetzt noch am liebsten sagen würde: »Lass mich in Unwissenheit leben.«
»Als ich es ihr gesagt habe, hat sie mit dem Finger vor mir herumgewedelt und gesagt: ›Mädchen, du solltest deine Schlafzimmertür abschließen.‹ Hätte ich sie abgeschlossen und drei Jahre lang verschlossen gehalten, wäre nichts Schlimmes passiert. Er hätte keinen Zusammenbruch gehabt. Weihnachten wäre nicht ruiniert gewesen. Wir wären eine glückliche F-Wort gewesen und hätten Weihnachten mit Mistelzweigen, Eierpunsch und einer Krippe gefeiert.«
»Wieso halten wir eigentlich immer noch Kontakt zu ihnen?«, fragt Eli. »Wir hätten sie ein für alle Mal mit einem Tritt aus unserem Leben rausbefördern sollen. Denken wir vielleicht, wenn wir lange genug warten, bekommen wir eine Antwort oder eine Erklärung von ihnen, die Sinn ergibt?«
Abi sieht ihn grimmig an. »Vielleicht denken wir, wenn wir lange genug warten, lernen sie, uns auf normale Weise zu lieben … auf die reine Weise.«
Für die Feiertage hängen die Geschwister Mistelzweige auf, machen Eierpunsch und bauen auf einer Fensterbank eine Krippe aus Nannys alten Red-Rose-Tee-Figuren auf. Der rote Fuchs, ihr kleines Jesuskind, liegt in einer leeren Streichholzschachtel, die als Krippe dient. Rund um den Fuchs scharen sich Humpty Dumpty, der Lebkuchenmann, Mutter Gans und die anderen Märchenfiguren.
Die Einheiten werden über die Feiertage in der Stadt sein, und die Geschwister haben sie für den Vierundzwanzigsten zum Essen eingeladen. Dieses Weihnachtsessen, dieser Réveillon, wird eine Art letztes Abendmahl werden. Das Weihnachtsgeschenk der Geschwister an sich selbst ist eine neue Große Flucht, die Große Entfremdung genannt. Das Wort »Entfremdung« gefällt ihnen, es entspricht ihrem Verhältnis zu den Einheiten, seiner Fremdartigkeit. Beim Essen werden sie nicht die Vergangenheit heraufbeschwören, nicht versuchen, den Einheiten eine Entschuldigung zu entlocken. Was hätte das für einen Sinn? Hätten Pal und Joy sagen wollen, dass es ihnen leidtut, hätten sie das vor Ewigkeiten getan. Anders als in Shirley Jacksons Roman werden sie ihre Eltern auch nicht mit Arsen in der Zuckerdose vergiften, obwohl Abi diese Möglichkeit in Erwägung gezogen hat. Stattdessen werden sie die Einheiten am Ende des Abends zur Tür bringen und dort etwas Einfaches und Direktes sagen wie: »Das war’s, Leute. Wir wollen euch nie wieder sehen.« Und ehe Pal oder Joy reagieren können, werden sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen und den Schlüssel zweimal umdrehen. Sie werden vom Karussel abspringen, aus der Tretmühle aussteigen, Jones-Town hinter sich lassen. Tschüss, Bye-bye, auf Nimmerwiedersehen, salut. Ihr Plan klingt ein bisschen kindisch, wie etwas, was sich rachsüchtige Zwölfjährige ausgedacht haben könnten. »Passt doch«, sagt Abi zu Eli, »weil wir ihretwegen bis ans Ende unseres Lebens in unserer Kindheit feststecken werden.«
In der Woche vor Weihnachten ruft Junior aus Brooklyn an, wo er Jura studiert, und fragt, ob er über die Feiertage nach Montreal kommen kann. »Ich brauche eine Auszeit vom amerikanischen Irrsinn«, sagt er.
Eli warnt ihn vor dem kanadischen Irrsinn und vor amoklaufenden, schießwütigen Verrückten.
»Klingt wie jeder ganz normale Tag hier«, sagt Junior.
Eli erzählt ihm auch vom Irrsinn der Großen Entfremdung. Junior ist der Einzige, dem Eli die grausigsten Details der Jones-Saga erzählt hat. Er hat die Katze schon vor mehreren Jahren aus dem Sack gelassen, bei einem spätnächtlichen, halb-betrunkenen Anruf, nachdem Junior ihm gestanden hatte, er habe seine Freundin geschwängert und ihre Abtreibung bezahlt. »Du bist der Einzige, dem ich das sage, Bruder.« Das veranlasste Eli zu seiner eigenen großen Enthüllung. Als Junior hörte, was Pal Abi angetan hatte, weinte er am Telefon – nur ein bisschen, aber immerhin, und Eli dachte: Dieser Mensch ist viel zu empfindsam, um Anwalt zu werden.
Am Tag nach Juniors Anruf meldet sich der Pate und sagt, dass er im neuen Jahr zu einer seiner Damenbekanntschaften nach Toronto ziehen wird, und Eli lädt auch ihn zum Réveillon ein. »Bring Caroline mit, wenn sie Zeit hat«, sagt er. Das Zerwürfnis zwischen ihm und dem Paten währte nicht lange, aber Eli hat sich danach nie wieder wie sein Sohn gefühlt. Jetzt fühlt er sich wie eine der Ehemaligen des Paten, wie jemand, zu dem der Mann noch Kontakt hält, an dem ihm aber nicht mehr so viel liegt.
Pals ältester Bruder, Richard, wird ebenfalls über die Feiertage in Montreal sein, und Pal ruft an um zu fragen, ob er auch kommen kann. Richard Jones ist zwar katholisch aufgewachsen, aber dennoch ein Geistlicher der protestantischen United Church of Canada geworden, der jetzt in Nordontario lebt. Reverend Rick, der Sprachen liebt und gleich mehrere beherrscht, ist der einzige Onkel, den Eli ertragen kann, deshalb ist er einverstanden.
Der Réveillon wird eine Art Jones-Ratatouille werden.
Zeugen dabei zu haben, könnte es schwerer machen, mit den Einheiten zu brechen, fürchtet Eli, aber Abi ist anderer Meinung: »Je mehr wir sie verwässern, desto leichter können wir sie aus uns rausspülen.«
»Frohe Weihnachten!«, rufen die Einheiten unisono, als Eli ihnen am Abend des Vierundzwanzigsten die Haustür öffnet. Die Eltern stehen auf dem Absatz vor der Tür, Pal mit einem mannsgroßen Ficus aus Plastik in den Armen, der aussieht wie etwas, was man in Zahnarztpraxen oder den Lobbys billiger Hotels findet.
»Euer Weihnachts- und Einweihungsgeschenk«, sagt Joy und zermalmt ihre Kippe unter ihrem Stummelabsatz. Ihr Lippenstift hat die Farbe von Blutorangen, eine künstliche Magnolie steckt in ihren Haaren. »Wie ich Abi und dich kenne, würdet ihr eine echte Pflanze ja doch nur umbringen, deshalb kriegt ihr dieses Monster.«
Pal schiebt sich so dicht an Eli vorbei, dass die Blätter der Pflanze über sein Gesicht schaben. Sie ist das kitschigste Geschenk, das Eli je bekommen hat. »Danke«, sagt er, als sein Vater das Ding die Treppe hochschleppt.
Joy folgt Pal auf dem Fuß, und Eli will die Tür gerade wieder schließen, als ein Taxi vorfährt und mit laufendem Motor neben dem brandneuen New Yorker seines Vaters anhält. Ein junger Mann steigt aus. Er ist groß und schlank, aber kräftiger als früher, mehr Fahnenmast als Bohnenstange. Der Afro ist raspelkurzen Haaren gewichen. Auch die Schildpattbrille ist neu.
Obwohl Eli keinen Mantel anhat, läuft er die Treppe hinunter. Er hat Junior nicht mehr gesehen, seit der ihn in dem Sommer besucht hat, in dem er von der Polizei zusammengeschlagen wurde.
Junior stellt seinen Koffer in den Schnee, und die beiden umarmen sich fest. Junior riecht nach teurem Eau de Cologne, wahrscheinlich aus irgendeiner schicken Manhattaner Boutique, während Eli nach Zitronen-Scheuermilch riecht.
»Hältst du dich einigermaßen, Bruder?«
Eli langzuckt.
»Ich dachte, damit hast du aufgehört?«
»Wenn die Einheiten in der Nähe sind, habe ich Rückfälle. Sie sind gerade eben eingetrudelt, mit einer riesigen Plastikpflanze, die aussieht wie aus Der kleine Horrorladen.«
Junior lacht. »Ach du je.«
»Es wird dir noch leidtun, dass du gekommen bist.«
»Spinnst du?«, sagt Junior. »Ich studiere Familienrecht. Euch Jones’ zu beobachten ist für mich Feldforschung.«
Die Papiertischdecken sind mit Rudolphs bedruckt, deren rote Nasen laut Abi auf eine Mischung aus Rum und Rosacea zurückzuführen sind. Die Rentiere überziehen zwei im Wohnzimmer zusammengeschobene Tische, einen davon haben sie von der Gesangslehrerin unter ihnen ausgeliehen.
Als Ältester bei diesem Réveillon sitzt Reverend Rick am Kopf des Tischs, dem Platz des Vaters. Er hat die gesträubten, buschigen Raupenaugenbrauen, die Eli eines Tages wohl auch bekommen wird. »Wer will das Tischgebet sprechen?«, fragt Reverend Rick.
Die anderen acht an den Tischen versammelten Jones, unter ihnen kaum ein Kirchgänger, rutschen auf ihren Stühlen herum. Vor ihnen stehen Teller mit vegetarischem Chili, von dem Eli einen großen Topf gekocht hat, mit vielen roten und grünen Paprikaschoten drin, die dem Ganzen ein festliches Aussehen verleihen sollen.
»Gib du uns die Ehre, Ricky«, sagt Falschgeld. Er, der zweitälteste Onkel, ist uneingeladen zusammen mit Reverend Rick gekommen, der bei ihm wohnt, zufälligerweise nur ein paar Blocks entfernt. Falschgeld sitzt am anderen Tischende, dem Platz der Mutter. »Schließlich bist du der einzige Nichtsünder unter uns«, sagt er zu Reverend Rick.
»Wenn das nur wahr wäre«, erwidert Reverend Rick.
»Ich kann das Gebet sprechen«, bietet sich Abi an.
Seit der Ankunft der Gäste hat sie kaum etwas gesagt, außer dass sie Junior wegen seiner adretten Anwaltsfrisur und -kleidung aufgezogen hat. Bügelfaltenhose! Hornbrille! Pullover mit Zopfmuster! In der Hand hält sie ein Weinglas, in dem ein Goldfisch bequem herumschwimmen könnte. Jetzt stellt sie es ab. Was sie gebetsmäßig wohl für ein Ass im Ärmel hat? Eli und Junior werfen sich Blicke zu, wohl wissend, dass Abi mit Gott absolut nichts am Hut hat.
Sie zieht einen Zettel aus der Tasche ihres Kimonos. Er sieht aus, als hätte sie ihn aus einem Notizbuch herausgerissen. Sie faltet ihn auseinander. »Ich werde das Gebet vorlesen«, sagt sie, räuspert sich und fängt an: »Anne-Marie, Anne-Marie, Annie, Annie, Barbara, Barbara.« Über den Tisch hinweg sieht sie Pal an, der den Blick in seinen Schoß gesenkt hat wie ein betender Sünder. »Geneviève, Hélène, Maryse, Maryse«, fährt Abi fort. »Maud, Michèle, Nathalie, Sonia … Amen.«
Sie faltet den Zettel zusammen und steckt ihn wieder in ihre Tasche. Sie muss die Namen aus der Ausgabe der La Presse haben, die Eli mitgebracht hat, bevor Zeitungen aus der Wohnung verbannt wurden. Wie lange trägt sie diese Liste schon mit sich herum? Ist sie der Grund dafür, dass sie diesen Kimono ständig anhat?
»Freundinnen von dir?«, fragt der Patenonkel.
»Es sind die vierzehn«, antwortet Caroline ihrem Vater. Sie braucht nichts weiter zu erklären, die Zahl vierzehn sagt alles. »Gutes Gebet«, lobt sie Abi. Die beiden waren als Kinder wie Essig und Öl, aber jetzt, als Erwachsene, vermischen sie sich ganz gut. Sie sitzen nebeneinander, und Caroline tätschelt Abis Arm.
»Mehrere der Frauen hatten denselben Vornamen«, ergänzt Eli, als sei diese Übereinstimmung der rätselhafteste Teil der Tragödie. »Zwei Annies, zwei Anne-Maries, zwei Barbaras, zwei Maryses.«
»Wir alle, alle Frauen, sind Annie, wir alle sind Barbara«, sagt Caroline. Ihre Haare sind inzwischen so schwarz wie die ihres Vaters, für eine Rolle gefärbt. Praktisch jedes Mal, wenn Eli sie sieht, hat sich ihr Stil geändert. Heute ist sie in ihrem 50er-Jahre-Abschlussballkleid eine Femme fatale à la Bettie Page.
»Eli besucht Kurse an dieser Universität«, teilt Joy allen Anwesenden mit.
»Ich war an dem Abend nicht da«, lügt er wieder.
»Das klingt, als wärst du, falls du dagewesen wärst«, sagt Abi, »hingerannt und hättest Leben gerettet.«
Wenn seine Schwester trinkt, kann sie verletzend und gemein sein. Sie hat ihn mehr als einmal in Kneipen in Verlegenheit gebracht. »Oh, ich habe den geriebenen Käse vergessen«, ruft er als Vorwand dafür, den Raum verlassen zu können. »Fangt schon mal ohne mich an.« Damit springt er auf und geht in die Küche. Auf dem Boden ein Weinfleck. Er wischt ihn mit einem Schwamm weg, kämpft gegen den Drang an, auch den restlichen Boden zu wischen, langzuckt einmal, zweimal, dreimal und holt dann den Cheddar aus dem Kühlschrank. Auf dem Schneidebrett reibt er ihn, aber so hastig, dass er sich den Daumenknöchel blutig scheuert. Er hält die Hand unter den Wasserhahn und denkt, was für ein Fehler es war, diese ganzen Jones einzuladen. Anfänglich war er aufgeregt und voller Erwartung, ein Kind, das sich auf Santa freut, jetzt jedoch fühlt er sich völlig erschöpft, dabei hat der Abend kaum angefangen.
Als er wieder an den Tisch kommt, steckt Pal mitten in einer Geschichte, in der es darum geht, wie er Abi gerettet hat, als sie sich mit zehn die Nase gebrochen hat. Sie war von einer Reifenschaukel gesprungen, der Reifen schwang zurück und traf sie im Gesicht. »Das Blut!«, sagt Pal. »Es waren ganze Ozeane! Ich bin über jede rote Ampel gerast, um sie in die Notaufnahme zu bringen. Erst dachte ich, sie würde von da an mit einer Boxernase herumlaufen müssen, aber alles ist wirklich schön verheilt. Es ist eine noble Nase geworden. Was, Abi?«
Abi bläht die Nasenlöcher. »Ich liebe meinen Daddy«, sagt sie und lässt ihre Kleinmädchenstimme noch kleinmädchenhafter klingen.
»Und weißt du noch, wie Eli fast an einer Kaugummikugel erstickt wäre, als er zwei war?«, sagt Joy. »Du hast ihn auf den Kopf gestellt und ihm auf den Rücken gehauen, bis das Ding rausgeflogen kam.«
»Und einmal habe ich ihn aus dem Brome Lake gezogen«, macht Pal weiter. »Du hast ausgesehen wie eine ertrunkene Ratte, Junge. Ich dachte schon, ich müsste dich mit Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben, aber dann hast du angefangen zu husten und bist von selbst zu dir gekommen.«
Mund-zu-Mund, denkt Eli. Quelle horreur.
»Hast du in Korea irgendwem das Leben gerettet?«, fragt Falschgeld.
Pal verstummt und schüttelt den Kopf.
»Oder ging es da mehr darum, Leben zu nehmen?«
»Benimm dich, Bill«, tadelt Reverend Rick.
»Einmal habe ich einem Kerl zwar nicht direkt das Leben gerettet, aber so was Ähnliches«, sagt der Pate. »Einem Radfahrer, der sich im Herbst auf dem Plateau hingelegt hatte. Als ich ihn fand, saß er neben seinem demolierten Fahrrad am Straßenrand und sah total belämmert aus. Er hatte sich Ellbogen und Knie ziemlich übel aufgeschürft und muss auch hart mit dem Kopf aufgeschlagen sein, denn er konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal an seinen Namen. Ich habe ihn untergehakt und ins Hôtel-Dieu-Krankenhaus gebracht und bin ein paar Stunden bei ihm geblieben.«
»Ich habe auch einmal jemanden gerettet«, sagt Falschgeld. »Er hatte sich eine Überdosis gespritzt, und ich bin mit ihm ins Krankenhaus gerast.«
»Und wer hat ihm die Drogen gegeben?«, fragt Joy. »Soll ich raten?«
»Trotzdem habe ich ihn gerettet«, gibt Falschgeld zurück.
»Es reicht«, ruft Caroline. »Schluss mit großen, starken Männern, die Leben retten.«
»Wir sind nun einmal nicht alle schlecht«, kommt es von Falschgeld. »Ein paar von uns sind durchaus rechtschaffene, anständige Leute… Ich natürlich nicht. Ich bin ein ziemlich mieses Arschloch.«
Alle Jones lachen, sogar Abi.
»Aber es muss unter uns den ein oder anderen geben, der gut ist«, beharrt Falschgeld. »Anwesende Geistliche vielleicht?«
»Bring mich nicht zum Lachen«, sagt Reverend Rick.
»Und was ist mit dir, Yankee Doodle?«, will Falschgeld von Junior wissen. »Bist du gut?«
»Ich habe gute und schlechte Tage«, sagt Junior.
»Ach was, Junior ist ein guter Junge«, widerspricht Joy. »Weißt du noch, wie du dich gegen die Rassisten im Komplex gewehrt hast, die dagegen waren, dass Kinder bestimmter ethnischer Gruppen mit Schulbussen in andere Bezirke gebracht wurden, um der Rassentrennung in den dortigen Schulen entgegenzuwirken? Du hast eine Petition pro Umverteilung aufgesetzt und sogar manche von diesem weißen Abschaum dazu gebracht, sie zu unterschreiben.«
»Und wieder läuft alles darauf hinaus, dass nicht alle Männer schlecht sind«, sagt Abi. »Und wer wird dabei vergessen?«
»Wir«, antwortet Caroline. »Wir Frauen.«
»Wir sind angearscht«, dies wieder von Abi. »So wie immer.«
»Ach, hört auf zu jammern und esst euer Chili«, sagt Joy. »Ist übrigens echt gut, Eli. Und schmeckt als wäre richtiges Fleisch drin. Was ist das für ein Zeug?«
»Texturiertes Soja.«
»Iihh«, macht Joy. »Hätte ich bloß nicht gefragt.«
Reverend Rick erklärt Eli die spanische Sprache, sagt ihm, dass Pronomen vor Verben wegfallen, »weil die Endungen der Verben einem sagen, ob ich, du, er / sie / es, wir oder sie sprechen.« Normalerweise flippt Eli bei Grammatik total aus, aber im Moment ist er viel zu angespannt. Er fürchtet nämlich, dass sich die Einheiten am Ende des Abends einfach verdrücken könnten, bevor er und Abi die Große Entfremdung in die Tat umsetzen können. Was, wenn sich die Gäste alle zusammen verabschieden? Sie können die Einheiten schließlich nicht im Beisein der anderen vor den Kopf stoßen, oder? Das wäre furchtbar für alle. Er beobachtet die inzwischen in der ganzen Wohnung verteilten acht Jones, als seien sie Douglas-Patienten und er der Oberpfleger der Station. Joy und der Pate, die in der Küche den Abwasch machen, kriegen sich kaum ein vor Lachen, dann singt Carol das Lied des kleinen Mädchens, das sich zu Weihnachten ein Nilpferd und nichts als ein Nilpferd wünscht, wobei er perfekt eine Kleinmädchenstimme, eine Shirley-Temple-Stimme, imitiert. Währenddessen schmücken Junior und Caroline, miteinander flirtend, den Ficus mit Toilettenpapiergirlanden. Sie sind drei Schritte vom Mistelzweig entfernt, drei Schritte davon entfernt, sich darunter zu küssen. Auf dem vorderen Balkon raucht Falschgeld einen Joint, bellt allen Passanten ein »Joyeux Noël!« zu, das wie ein Fluch klingt, und bewirft sie gelegentlich mit Schneebällen. Am meisten versetzt Eli jedoch in Panik, dass Abi und Pal im Panikraum sind. Der Raum soll eine sichere Zuflucht sein, also was zum Teufel hat Pal da drin zu suchen? Den letzten Heiligabend hat Eli allein in seiner alten Wohnung verbracht und sich ungeliebt gefühlt; dieses Jahr ist er in seiner neuen Wohnung von Jones-Massen umgeben und fühlt sich völlig neben sich selbst.
»Lass mich bloß nicht mit dem spanischen Konjunktiv anfangen«, sagt Reverend Rick. »C’est pas du gâteau.«
Wäre Eli dreißig Jahre früher auf die Welt gekommen, wäre aus ihm vielleicht auch ein asexueller Geistlicher wie Reverend Rick mit seiner Bügelfaltenhose, seinem Pullunder und seinen braunen Kreppsohlenschuhen geworden. Was denkt er denn da schon wieder? Sein Onkel mag zwar wie ein Eunuch wirken, aber vielleicht nagelt er seine Vorhaut an Holzbretter, weil es ihm einen Kick gibt, oder rammt sich Glühbirnen in den Hintern. Woher soll Eli das wissen? Das Habit macht noch keinen Mönch, wie die Franzosen sagen.
Eli entschuldigt sich, um zur Toilette zu gehen, aber in Wirklichkeit will er wissen, was im Panikraum los ist. Oh Gott, jetzt ist auch noch die Tür zu. Abi und Pal sind zusammen in einem winzigen Zimmer mit geschlossener Tür, und Eli denkt: Waggon. Als er aus dem Bad zurück ist, klopft er an die Tür. »Der Nachtisch ist fertig«, lügt er.
»Verpiss dich, Jones«, ruft Abi.
Eli zieht sich zurück, geht zum Mistelzweig und dem mit Toilettenpapier geschmückten Ficus.
»Eli, du hast mir nie gesagt, wie kultiviert dein Liebhaber ist«, sagt Caroline.
»Er ist nicht mein Liebhaber«, gibt Eli zurück, obwohl er und Junior, ja, miteinander geschlafen haben, als Junior das letzte Mal in der Stadt war.
»Bruder, du hast mir nie gesagt, wie sinnlich deine Freundin ist«, sagt Junior.
»Sie ist nicht meine Freundin«, obwohl sie, ja, miteinander geschlafen haben, immer wieder einmal, seit der Pate ihn vor Jahren rausgeworfen hat.
Die beiden sehen Eli gespannt an, als sei er ein dressierter Pudel, der gleich einen lustigen kleinen Tanz aufführen und einen Gummiball auf der Nase balancieren wird.
»Darf ich dich daran erinnern«, sagt Eli zu Junior, um den Überschwang seines Freundes zu dämpfen, »dass du in Brooklyn eine Freundin hast, die Kriminalrecht studiert?« Und zu Caroline. »Und du, mein Kohlkopf, hast einen Flickschuster mit Löchern in den Schuhen.«
Caroline wendet sich an Junior und sagt über Eli: »Dein Liebhaber ist eine furchtbare Spaßbremse.«
Und Junior zu Caroline: »Und deiner hat einen Stock im Arsch.«
Dieses letzte Abendmahl wird Elis Tod sein. Hätte er einen Christuskomplex, würde er damit rechnen, um Mitternacht an das Kreuz auf dem Mount Royal genagelt zu werden. Er erhascht den Zimtduft des Apfelstreusels, den er im Ofen hat. Er sollte unbedingt danach sehen, nicht dass er noch anbrennt. In der Küche sind Joy und der Pate mit dem Abwasch fertig. Nebeneinander lehnen sie an der Arbeitsplatte. Joy, die verspielt und unartig aussieht, schlägt mit dem Geschirrhandtuch nach dem Paten. Als der Zeitschalter des Backofens klingelt, sagt der Pate: »Dürfte ich?« zieht sich Topfhandschuhe über, einer schwarz, einer weiß, holt das große Blech mit Apfelstreusel heraus und stellt es auf das Schneidebrett. Joy löffelt das dampfende Dessert in Schalen, und der Pate holt die Sahne aus dem Kühlschrank und kippt einen guten Schuss in jede der Schalen. Es ist, als hätte Eli plötzlich ein neues Einheitenpaar, ein bizarres zwar, aber weniger bizarr als das ursprüngliche.
Wie wäre ihrer aller Leben wohl verlaufen, hätte die schwangere Joy Pal vor dreiundzwanzig Jahren rausgeschmissen und sich mit dem Elvis-Notar zusammengetan? Vielleicht hätte diese eine Entscheidung nicht nur Pals Verbrechen verhindert, sondern, dem Schmetterlingseffekt entsprechend, auch den Tod der vierzehn Frauen.
Mit Hilfe Joys und des Paten stellt Eli die Dessertschalen auf die Tische, und alle Jones versammeln sich aufs Neue. Falschgeld kommt wieder rein, eingehüllt in eine Wolke aus Marihuanadunst, ein bekiffter Pig-Pen. Pal kommt aus dem Panikraum, einen eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht. Nicht belämmert, sondern eher wie ein Wolf im Schafspelz. Nur Abi fehlt. Die Anwesenden machen sich über den Nachtisch her und singen Loblieder auf Eli. »Ahornsirup ist die geheime Zutat«, verrät er, und seine eigene Stimme klingt für ihn sirupsüß, als sei diese Jones-Zusammenkunft eine weihnachtliche Hallmark-Produktion.
»Geh und hol deine Schwester«, sagt Joy, und Eli geht und klopft noch einmal an ihre Tür. »Ich bin’s«, sagt er und rechnet damit, dass sie ihn auch dieses Mal wegschicken wird.
»Komm rein«, befiehlt sie.
Er tut es. Sie sitzt mitten auf ihrem Futon, die Knie an die Brust gezogen. Er schließt die Tür und setzt sich zu ihr, und sie sieht ihn mit schmalen Augen an. »Falls du denkst, ich hätte ihm für 40 Mäuse einen runtergeholt, liegst du falsch«, sagt sie.
Er wird sie an dieses verdammte Kreuz nageln. »Was ist passiert, Jones?«
»Ich habe verlangt, dass er sich entschuldigt, und das hat er getan.«
»Ach, ich dachte, genau das wollten wir nicht tun?«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Ohne mich zu fragen?«
»Ich brauche mir keine Erlaubnis von dir einzuholen. Du bist irrelevant.«
»Bin ich nicht«, faucht er und klingt wie ein rotznäsiger kleiner Bruder. Nicht zu sagen wagt er: Mich haben sie auch kaputtgemacht.
»Als er sagte, dass es ihm leidtut, hatte er Tränen in den Augen«, sagt Abi.
»Krokodilstränen. Was hat er sonst noch gesagt?«
»Das geht nur ihn und mich was an, okay?«
Es geht immer ausschließlich seine Schwester und seinen Vater was an. Wenn er könnte, würde Eli die nagende Eifersucht, die er fühlt, aus seinem Körper herausreißen wie ein unbedeutendes kleineres Organ, ohne das er problemlos leben könnte.
»Wir spülen sie aber doch trotzdem aus uns raus, oder?«, fragt er, obwohl er bereits weiß, dass das, was rausgespült wurde, die Große Entfremdung ist.
»Brauchen wir nicht. Er hat gesagt, dass es ihm leidtut, mehrmals. Und ich habe seine Entschuldigung angenommen.«
»Er war vielleicht fünfzehn Minuten hier drin. Wie können fünfzehn Minuten auslöschen, was er drei Jahre lang getan hat?«
Abi plustert die Wangen auf wie ein Kugelfisch und lässt die Luft langsam wieder entweichen. »Was bringt es schon, die ganze Zeit wütend und verbittert zu sein?«, sagt sie. »Das ist, als würde man in Batteriesäure baden. Schlecht für die Haut.«
»Je te comprends pas. Je te comprends vraiment pas.«
»Ich liebe den Typ immer noch.«
Sie sagt »Typ«, als sei Pal eine alte Highschool-Flamme, jemand, an dem sie immer noch hängt.
»Er ist meine längste Beziehung mit einem Mann.«
»Ach Jones«, stöhnt Eli.
»Ich will ihn nicht leiden sehen.«
»Interessiert es ihn, ob du leidest? Dass du leidest?«
»Ja, tut es.«
»Das kaufe ich ihm nicht ab.« Beim Essen hat sie gesagt, Frauen seien immer angearscht. Was ist aus ihrer wütenden, intensiven Seite geworden? Fünfzehn Minuten allein mit Pal, und schon ist das alles weg?
»Hör zu«, sagt sie. »Ich dachte, du bist froh, dass ich mich besser fühle.«
»Fühlst du dich denn besser?«
Ihre Ausdruckslosigkeit verwandelt sich in ein sprödes Lächeln.
»Okay, okay, wenn du dich besser fühlst«, sagt er, »fühle ich mich auch besser.«
Zurück zur Ausdruckslosigkeit. »Weil du eine Version von mir bist.«
Er hofft inbrünstig, dass dem nicht so ist. »Komm jetzt, es gibt Apfelstreusel.«
»Wie viele Kalorien?«
»Mit oder ohne Sahne?«
»Ohne.«
Damit sie mitkommt, lügt er: »Nur hundert pro Portion.«
Die Gäste gehen einer nach dem anderen, wodurch sich Eli auf dem Absatz vor dem Haus einzeln von ihnen verabschieden kann.
Caroline lässt ihre Zunge in sein Ohr schnellen und flüstert ihm dann zu: »Keine Ahnung, was dein Liebhaber in dir sieht. Er könnte was viel Besseres haben.«
Der Patenonkel holt eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und überreicht sie Eli. Sie ist von einem Laden namens »Bye-Bye Mon Cowboy«, geschrieben mit Lassos anstelle der Os. »Ich habe dort ein Paar Cowboystiefel für dich vorbestellt. Frag nach Jean-Michel. Er wird deine Füße ausmessen und dir die genau richtige Größe besorgen. Wenn du diese Babys liebst, werden sie deine Liebe erwidern.«
Vielleicht liebt der Patenonkel ihn doch.
Reverend Rick verabschiedet sich dreisprachig: »Muchas gracias, lieber Neffe. Joyeux Noël et bonne année.« Er legt Eli die Hand auf den Kopf, die Finger gespreizt, die Berührung federleicht.
Falschgeld sagt: »Wenn du für die Feiertage ein bisschen Hasch oder Heroin brauchst, lass es mich wissen.« Sein breites Feixen enthüllt einen fehlenden Seitenzahn, die Lücke sieht aus wie eine verborgene Tür in seinen Mund. »Ich mache dir einen guten Preis. Un prix d’ami.«
Pal und Joy sind die letzten. Sie sind in Verdun untergekommen, in der Wohnung eines weiteren Bruders von Pal, der über Weihnachten an einem kubanischen Strand Zigarren raucht. Abi begleitet Eli nach unten, um die Einheiten zu verabschieden. Zu viert stehen sie auf dem Absatz vor der Tür. Es schneit. Pal öffnet den Mund und fängt Schneeflocken mit der Zunge ein. »Ich habe den ganzen Abend nur Wasser getrunken, jetzt schlucke ich Schnee«, sagt er, selbst erstaunt darüber, dass er schon seit über einem Jahr trocken ist.
»Es war wirklich nett von euch, alle einzuladen«, sagt Joy zu Eli. Sie sieht glücklicher aus als seit Jahren. Er fragt sich, wieso. Weil Pal trocken ist? Weil sie ein paar Stunden mit dem Patenonkel verbringen konnte? Oder weil die Jones einen Abend ohne »Szene«, wie sie es nennen würde, hinter sich gebracht haben?
»Danke für den Abwasch und dass du den Boden gefegt hast«, erwidert Eli. »Und für die Pflanze Audrey.«
»Vergiss nicht, sie zu gießen. Ha!«
Abi sagt kein Wort. Sie ist nicht beschwipst genug, um umzukippen, aber viel fehlt nicht. Jetzt streckt sie die Arme aus und schlingt sie unbeholfen um Pals Taille, wobei sein Parka ein knisterndes Geräusch von sich gibt. »Ich liebe meinen Daddy«, wiederholt sie. Aber anders als beim Essen ist ihr Ton nicht spöttisch, sondern traurig, voller Bedauern.
Pal reagiert verschämt, seine Augen werden rührselig. Er küsst Abi auf den Kopf, als sei sie wieder acht Jahre alt.
Joy sieht Eli an und verdreht die Augen, als ginge es um einen Insiderwitz.
»Je ne veux plus jamais vous revoir.«
Eli hat gerade gesagt, dass er ein für alle Mal mit den Einheiten fertig ist, aber da ihr Französisch de la marde ist, sagen sie nur: »Pardon?«
Und er macht einen Rückzieher. »Schnallt euch an und fahrt vorsichtig«, übersetzt er falsch.
Die Einheiten gehen die Treppe hinunter zur Straße – Pal klappert dabei mit den Schlüsseln in seiner Tasche, Joy hält die Magnolie in ihren Haaren fest, die der Wind durchpustet –, und steigen in das leichenwagenähnliche Auto, das Pal sich geleistet hat. Als der dunkelgraue New Yorker losfährt, würde Eli die Haustür am liebsten zuknallen, aber er ist nun einmal ein Weichei und schließt sie leise, um die Nachbarn nicht zu stören.
Abi ist bereits auf der Treppe. Sie sieht nicht glücklich aus, sieht nicht so aus, als ginge es ihr besser. Eli folgt ihr. Oben holt sie sich eine halbleere Flasche Bordeaux aus der Küche und verzieht sich, ohne ihren Bruder eines Blickes zu würdigen, in den Panikraum. Eli geht in die Küche, wischt mit einem Schwamm über die Arbeitsfläche, obwohl Joy bereits das allermeiste saubergemacht hat. Dass er und seine Mutter einen Reinlichkeitsfimmel haben, hat, anders als die Amerikaner sagen, absolut nichts mit Gottesfurcht zu tun.
Junior nimmt ein Bad. »He, Mr Jones«, ruft er. »Komm tuut swit her.«
Eli geht zum Badezimmer, klopft, geht rein.
Junior liegt in der Wanne mit den Klauenfüßen, die vor Schaum überquillt, als hätte er die ganze verdammte Flasche Schaumbad hineingekippt. Sein Gesicht ist mit einer hellgrünen Paste beschmiert – Abis Avocado-Gesichtsmaske.
»Du bist ein richtiges Mädchen geworden«, sagt Eli.
»Danke für das Kompliment. Willst du reinkommen?«
Eli schließt die Tür und zieht sich aus.
»Ich hatte ganz vergessen, dass du untenrum ein Rotschopf bist«, sagt Junior, als Eli nackt in die duftenden Schaumbläschen steigt. Das Wasser ist heiß, hat die wunderbare Temperatur kurz vor zu heiß. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen Junior. Der streicht mit seinen warmen, nassen Händen über Elis Gesicht und greift sich dann den Tiegel mit der Gesichtsmaske, der auf dem Rand der Wanne neben Juniors zusammengeklappter Brille steht. Mit den Fingerspitzen verteilt er die grüne Paste auf Elis Wangen. Sie fühlt sich angenehm und kühl an; Eli würde sie am liebsten ablecken, als sei es Pistazieneis.
»Auf Französisch sind ›Avocado‹ und ›Advokat‹ ein und dasselbe Wort«, sagt Eli. »Un avocat. Wie das wohl kommt?«
»Vielleicht weil beide außen hart und innen weich sind?«
»Ha, das stimmt, Junior. Du bist innen weich.«
»Wohingegen du hart bist.« Junior pikst Eli in den Bauch.
Eli empfindet sich selbst tatsächlich als innen hart. Eine Überlebensnotwendigkeit.
»Und, hast du sie durchgezogen?«, fragt Junior. »Deine Große Entfremdung?«
»Es war letztendlich doch nicht das letzte Abendmahl«, antwortet er voller Bedauern. Er muss unbedingt härter werden, zäher, fieser.
»Mach dir keine Sorgen, Baby. Es wird weitere letzte Abendmahle geben.«
»Weitere letzte Abendmahle? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?«
»Hm – eher ein Oxymoron.«
Während die Paste auf seinem Gesicht fest wird, entspannt sich Eli in Juniors Armen. Er weiß es noch nicht, aber nie wieder werden die vier Jones aus seiner engsten F-Wort gemeinsam an einem Essenstisch sitzen. Das heutige Abendmahl war das letzte.
»Wisst ihr, nach deiner Schlaftabletten-Nummer, Abi, hat mein Dad gesagt: ›Die beiden leiden an Todessehnsucht, Junior. Meide sie wie die Pest.‹ Als hättet ihr Typhus oder Tuberkulose. Und als ich neulich zu ihm gesagt habe, dass ich über Weihnachten zu euch fahre, hat er gesagt: ›Sind die zwei tatsächlich noch am Leben?‹«
Junior sitzt auf dem Canapé im Wohnzimmer, je einen Arm um die Geschwister geschlungen. Abi und Eli haben die Köpfe auf seine Schultern gelegt, die nicht mehr so knochig sind wie damals in Cook County. Er streicht mit den Fingern durch ihre Haare.
Es ist nach Mitternacht, die Zeit, zu der ihnen eigentlich fröhliche fette Elfen Geschenke bringen müssten – zu dumm, dass die Geschwister keinen Kamin haben. Das einzige Licht im Wohnzimmer kommt von der funkelnd-weißen Lichterkette, die Eli um den Ficus gewunden hat. Er hatte sie für den Balkon gekauft, ist aber nie dazu gekommen, sie aufzuhängen. Jetzt fragt er sich, ob sie vielleicht zu heiß wird und die Toilettenpapiergirlande in Brand setzt.
»Dein Dad wollte, dass du bei uns eine Große Entfremdung durchziehst«, sagt Abi, die nicht mehr so weinbeschwipst ist. »Aber du hast zu uns gehalten.« Sie hebt die Hand und streichelt Juniors taufrische Avocadowange.
»Du solltest uns adoptieren«, murmelt Eli, groggy und total geschafft vom Stress des Réveillons.
»Ja, adoptier uns und nimm uns mit nach New York«, fährt Abi fort. »Deine eigenen Hoffnungen und Träume spielen keine Rolle. Leg deine Pläne auf Eis und kümmere dich stattdessen um uns, deine siechen Kinder, den kleinen Typhus und die kleine Tuberkulose.«
»Es wäre keine allzu große Verpflichtung, Junior«, versichert Eli ihm. »Angesichts unserer Todessehnsucht werden wir nicht lange auf dieser Welt weilen.«
»Jetzt weiß ich wieder, wieso ich euch zwei liebe«, sagt Junior. »Und hasse.«
»Wir können nervig sein«, gibt Abi zu.
»Lästig.«
»Niederträchtig.«
»Halsstarrig.«
»Anbetungswürdig.«
»Böswillig.«
»Hört auf damit«, schimpft Junior wie ein Vater, der sich nicht mehr zu helfen weiß. »Sonst kommt es noch zu einer Kindstötung.« Er zieht Abi und Eli enger an sich und drückt ihnen die Kehlen zu.
Härter, zäher, fieser. Wagt es ja nicht, Eli Jones in die Quere zu kommen, sonst tritt er euch die Zähne aus. In seinen neuen, komplett schwarzen Stiefeln, die er gerade im Bye-Bye Mon Cowboy abgeholt hat, stapft er durch die Park Avenue und weicht Pfützen aus, weil deren salziges Schmelzwasser das Leder angreifen würde. Vor zwei Tagen hat Junior den Zug zurück zur Penn Station genommen, und Eli wäre froh, sein Freund wäre noch hier und könnte sehen, wie tough er gekleidet ist. Schwarze Stiefel, schwarzer Parka, schwarze Strickmütze. Er sollte Abi dazu bringen, ihn in dieser Aufmachung zu fotografieren und das Foto an Junior in Brooklyn und den Paten in Toronto schicken. Gerade als er das denkt, kommt er an einem Fotogeschäft vorbei, das für die Woche zwischen den Jahren Preisnachlässe verspricht. Er bleibt stehen, geht rein und kommt zwanzig Minuten später mit einer neuen Nikon mit Zoom-Objektiv raus. Ein Geschenk für Abi, obwohl sie ausgemacht hatten, sich nichts zu schenken, da Abi total pleite ist. Die Nikon wird sein Beitrag zu Namensschwestern sein. Irgendwo in Montreal versteckt muss es die ein oder andere Abigail Jones geben. Seine Schwester könnte damit anfangen, in der näheren Umgebung zu fotografieren, bevor sie ihren Radius ausweitet, bis er irgendwann die ganze Welt umfasst. Oder sie könnte die Schaufenster im Viertel fotografieren, die allmählich in nach-weihnachtlicher Tristesse versinken. Hauptsache, es lockt sie aus der Wohnung, in der sie sich seit den Morden verkriecht.
Zu Hause klopft er an die Tür des Panikraums. Keine Antwort. Vielleicht schläft sie. Das Mädchen schläft ja praktisch nur noch. Er dreht den Knauf und drückt die Tür auf. Decken und Laken sind auf dem Futon zusammengeknüllt und sehen fast aus wie das Nest, das Barney und Bernice sich immer gebaut haben. Er geht in Abis eigentliches Schlafzimmer, um dort nachzusehen. Ihre Mary-Poppins-Tasche ist da, sie selbst aber nicht. Er versucht es im Badezimmer. Sie liegt nicht leblos und mit glasigen Augen in der Badewanne. Also ist sie endlich ausgegangen. Er redet sich selbst ein, dass er erleichtert ist, ist es aber nicht. Wenn sie in den Waschsalon gegangen ist, in die Bibliothek, oder sonst wohin, könnte genau dort ein schießwütiger Irrer umgehen.
Sie kommt nicht zum Abendessen nach Hause. Vielleicht ist sie in ein Restaurant gegangen, obwohl sie nie auswärts isst (auch zu Hause isst sie kaum etwas). Vielleicht hat sie einen Freund oder eine Freundin getroffen (sie hat keine). Vielleicht ist sie im Rialto und sieht sich den neuen Woody Allen an (obwohl sie immer sagt, dass er Manhattan nie übertreffen wird). Um sich abzulenken, macht Eli Polaroid-Fotos von der Wohnung, Nahaufnahmen vom kleinen Fuchs-Jesuskind, den Blättern des Plastikficus, den schwarz-weißen Fliesen im Badezimmer. Die Nikon liegt noch in ihrer Verpackung in seinem Schrank und wartet geduldig auf Abis Rückkehr.
Sie kommt die ganze Nacht nicht nach Hause. Er schläft unruhig. Am nächsten Morgen überlegt er, ob er die Polizei, die Krankenhäuser, die Einheiten anrufen soll. Non, non, il ne veut pas exagérer.
Er putzt die Wohnung von vorn bis hinten, saugt sogar das Innere der Fußleistenheizkörper. Flitzt zum Staubsaugerladen am St. Laurent Boulevard, um weitere Beutel zu kaufen. Als er danach sucht, sieht er Abi am Fenster vorbeigehen und rennt nach draußen und den Bürgersteig entlang, ohne darauf zu achten, dass seine Cowboystiefel durch Pfützen platschen.
Er holt sie ein. Sie trägt einen Dufflecoat. In Kanada heißen die Dinger »Canadienne«. Er hat diesen Mantel, der ein bisschen fadenscheinig ist, noch nie an ihr gesehen.
»Oh, hi«, sagt sie beiläufig.
»Woher hast du den Mantel?«
»Geht dich nichts an.«
»Okay, okay, alles cool. Tu as découché.«
Sie ignoriert ihn.
»Découcher«, redet er weiter. »Was meinst du? Gibt es in anderen Sprachen auch Verben, die sich als ›Ich bin gestern Nacht nicht nach Hause gekommen, weil ich mit einem dahergelaufenen Fremden, den ich irgendwo aufgelesen habe, geschlafen habe‹ übersetzen lassen? Oder gibt es dieses découcher ausschließlich im Französischen?«
»Jones, halt bitte den Mund. Ta gueule, okay? Mir ist nicht nach Reden zumute. Bring mich einfach nach Hause.«
Er vermutet, dass sie in irgendeiner Bar einen Typen kennengelernt hat. Oder ein Mädchen. Seit sie sich mit dreizehn in Jodie Foster in Das Mädchen am Ende der Straße verliebt hat, behauptet sie, sie sei bi. Es wäre schön, wenn sie eine Jodie in ihrem Leben hätte, irgendein Mädchen, das ihr Auftrieb geben und Eli einen Teil der Last abnehmen würde. Er korrigiert sich: Abi ist keine Last. Sie ist eine Künstlerin, vielleicht die nächste Cindy Sherman. Aber als sie nach Hause kommen, gibt er ihr die Nikon nicht, sondern verwahrt sie weiter in seinem Schrank und wartet auf den perfekten Kodak-Moment, wartet darauf, dass sie wieder miteinander reden, wieder Vertraute sind.
Ein paar Tage später verschwindet sie erneut, dieses Mal das ganze Wochenende, hinterlässt ihm aber immerhin eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter – zwei Worte: »Je découche.« Am Montag kommt er vom Lebensmitteleinkaufen zurück und packt gerade in der Küche die Papiertüten aus, als er die Canadienne bemerkt, die über die Rückenlehne des Canapés im Wohnzimmer geworfen worden ist.
Er geht zum Panikraum, klopft an die Tür. »Jones, ich mache Käseomelette. Willst du auch was?«
Keine Antwort. Er sollte nicht einfach bei ihr reinplatzen, tut es aber. Mädchen, du solltest deine Schlafzimmertür abschließen, hätte er um ein Haar gesagt. Doch dann sieht er sie auf der Seite liegen, die Augen offen, aber glasig. Ein Spuckefaden tröpfelt aus ihrem Mund. Betrunken, denkt er. Betrunken um zwei Uhr nachmittags. Ein Jones trocken, ein anderer hackedicht. »Abi, alles okay?« Er kniet sich neben den Futon, berührt ihr verschwitztes Gesicht, streicht klebrige Haarsträhnen beiseite. Sie zuckt zusammen, murmelt etwas, hört auf, setzt wieder an. Sie spricht mit ihrer alten nasalen Stimme, aber als weltweit einziger lizensierter Marsianisch-Übersetzer versteht er: »Anne-Marie Anne-Marie, Annie Annie, Barbara Barbara, Maryse Maryse …«
Auf dem Bett liegt eine Zigarrenkiste, die aussieht wie die, in der er Bernice beerdigt hat, außer dass die hier keinen Stadtplan von Manhattan zeigt, sondern Bonhomme Carnaval, das unheimliche Schneemann-Maskottchen Montreals mit seiner roten Zipfelmütze. Abi verwahrt ihre Bleistifte und Kugelschreiber in dieser Kiste. Das weiß er. Weswegen also klappt er den Deckel auf? Nur so ein Gefühl.
Keine Stifte in der Kiste. Stattdessen eine Spritze, Wattebäusche, ihr Stahl-Feuerzeug, ein Teelöffel, ein Gummischlauch. Der Schlauch hat dieselbe Farbe wie Bernstein, Bernstein, der ganze Insekten verschluckt.
An diesem Abend geht er ins Le Rapace, eine Bar in der St. Laurent. Chinesische Glückslaternen in der Farbe von Joys Lippenstift hängen an der Decke. Die Wände sind olivgrün gestrichen. Lederhocker reihen sich an der Theke aneinander. Auf der Theke steht eine ausgestopfte Eule mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Stück Treibholz, die Augen so rund und gelb, dass sie nach Trickfilm aussehen. Im Hintergrund läuft der gespenstische Zeitlupen-Soundtrack von Twin Peaks. Die Sängerin klingt, als sei ihre Stimme in einem Leichensack aufgenommen worden.
Eli bestellt ein Glas Wein und setzt sich nach hinten in die Nähe des Kickers, wo die Roten darauf warten, gegen die Blauen anzutreten. Er ist schon einmal im Le Rapace gewesen, mit Caroline, die ihn dort warnte, der Flickschuster hätte gesagt: »Sag dieser kleinen Tunte, dass ich ihm die Fresse einschlage, wenn er nochmal mit dir schläft.«
An diesem Abend ist nicht viel los, es sind vielleicht zehn Gäste da, so kurz nach den Feiertagen und dazu noch an einem Montag. Eli trägt seine Cowboystiefel, um härter zu wirken, und hat sein zweites Glas Wein vor sich, als der Mann, auf den er wartet, hereinkommt und an die Theke geht. »Comme d’habitude«, sagt er zum Barkeeper, der ihm einen Whiskey on the Rocks vorsetzt.
Der Mann sieht aus wie wie eine größere, dümmere, glücklichere Version von Pal.
»Bill«, ruft Eli.
Falschgeld dreht sich um.
Eli deutet auf den Stuhl an seinem kleinen Tisch, und Falschgeld kommt herübergeschlendert. Beim Réveillon hat Eli mitbekommen, wie der Onkel zu Caroline sagte, das Le Rapace sei sein zweites Zuhause und er komme praktisch jeden Abend auf einen Absacker hierher. »Bienvenue chez moi«, sagt er zu Eli.
»Setz dich«, erwidert der.
Der Mann zieht seine Schaffelljacke aus und setzt sich. Seine Elmer-Fudd-Mütze behält er auf. Seine Hose sieht aus, als hätte er sie extrem weit hochgezogen, aber vielleicht wirkt sie auch zu kurz, weil seine Beine so ewig lang sind. Er ist der Größte der Jones: eins fünfundneunzig. Mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck schwenkt er sein Glas, sodass die Eiswürfel gegen die Wände klirren.
»Hast du ihr die Drogen gegeben?«
Falschgeld lächelt. »Sie hat nach den Feiertagen ein bisschen was Aufmunterndes gebraucht. Wir können doch alle ein bisschen was Aufmunterndes brauchen, um das neue Jahr glücklicher anzufangen.«
»Versprich mir, dass du das nie wieder tun wirst.«
»Jetzt hör mir mal zu, Eli Jones. Du bist nicht deiner Schwester Hüter. Abi ist ein großes Mädchen. Und es ist besser, sie kommt zu mir, als dass sie zu irgendeinem Idioten da draußen geht. Mein Stoff ist sicher. Sogar Ricky hat ihn probiert. Und hat ihm das Prüfsiegel der United Church of Canada verliehen.«
Reverend Rick, der sich eine Nadel in den teigigen Arm sticht, ist kein Bild, das Eli vor seinem inneren Auge haben möchte.
»Da draußen weißt du nie, was du bekommst. Mein Stoff ist sauber – hundert Prozent reine Liebe.«
»Wenn du ihr nochmal was verkaufst, dann –«
»Dann was? Beißt du mich dann? Die verdammte Lassie ist angsteinflößender als du.« Falschgeld gibt ein kleines Bellen von sich: »Wuff! Wuff! Wuff!«
»Ich sage es Pal.«
»Dem Schlappschwanz?« Falschgeld sieht aus, als wolle er sich kaputtlachen. »Was will der denn machen? Mich thermoelektrisch exekutieren?«
»Schläft sie manchmal bei dir?«
»Ja, ich lasse sie bei mir pennen. Aber keine Sorge, ich kümmere mich gut um sie. Ich kümmere mich um die ganze Familie.«
Bringt er sie auch ins Bett?
»Schläfst du mit ihr?«
Ein breites Grinsen, das den fehlenden Zahn enthüllt. »Blödsinn. Sie ist nicht meine tasse de thé. Ich dachte, das wüsstest du. Ich dachte, du und ich, wir teilen die Liebe für denselben Earl Grey.«
Eli trinkt seinen Wein auf einen Zug aus und stellt das Glas auf den Tisch, ohne seinen Onkel anzusehen, aber er spürt den Blick des Mannes, der darauf wartet zu hören, mit welch albernem Kinderkram sein babygesichtiger Neffe als Nächstes herausrücken wird.
Eli sieht hoch. »Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag.«
»Geht nichts über gute Vorschläge. Schlag los.«
»Du gibst ihr keinen Stoff mehr, dafür kannst du mich ficken.«
Falschgelds Loft liegt über einer Garage. Auf dem Dach erhebt sich eine riesige, erleuchtete Reklametafel, die ein vor Senf triefendes, dick belegtes Montrealer Rauchfleischsandwich anpreist. Das Loft selbst ist völlig anders, als Eli es sich vorgestellt hat: überall liegen Bücher. Regale und noch mehr Regale voller Bücher. Sogar in den Küchenschränken stapeln sie sich. Sie erfüllen die Wohnung mit einem muffigen Geruch. Kein Wunder, dass Abi ganze Tage hier in dieser Bibliothek verbracht hat.
»Ich wusste gar nicht, dass du liest«, sagt Eli.
»Oh, ich stecke voller Überraschungen. Wie eine Piñata. Wenn du auf mich draufhaust, weißt du nie, was dabei rauskommt.«
»Womit genau verdienst du nochmal dein Geld?«
»Gelegenheitsjobs«, sagt Falschgeld. »Je gelegenheiter, desto besser.«
Trotz des muffigen Geruchs sieht das Loft sauber aus, und das breite Bett, das genau in der Mitte steht, möglicherweise genau unter dem vor Senf triefenden Sandwich, ist à la Joy perfekt gemacht, obwohl Falschgeld nie in der Armee war.
Der Mann setzt sich auf die Bettkante. »Fast hätte ich gesagt: ›Willkommen in meiner bescheidenen Behausung‹, aber ich bin nicht bescheiden. Ich bin manchmal ein anmaßendes, überhebliches Arschloch. Da muss ich unbedingt noch dran arbeiten.«
Er ist von Ironie zu Selbstironie übergegangen, was Eli lieber ist, und sieht seinen immer noch stehenden Neffen an. »Du bist ein schöner Junge«, sagt der Onkel. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du schön bist?«
»Nein«, spöttelt Eli, als sei es absurd, so etwas zu sagen, aber das Kompliment rührt ihn, und er denkt: Also wirklich, Jones, mehr braucht es nicht? Irgendein alter Knacker braucht dir nur vorzulügen, dass du hübsch bist?
Falschgeld zieht Hemd und Unterhemd so schnell und geschickt aus, dass man meinen könnte, er sei Houdini. Er nimmt Elis Hand und legt sie auf die Schuppen der verblassenden blauen Schlange, die auf seiner Brust eintätowiert ist. Seine Haut ist heiß, als sei das Feuer aus dem Maul der Schlange real. Er hat nicht viele Brusthaare, nur ein paar, genau wie Pal. Die Haare auf seinem Kopf sind zerzaust von der albernen Mütze, die er Gott sei Dank abgenommen hat. Eli streckt die freie Hand aus und streicht eine hochstehende Strähne glatt, eine kleine Geste, die sich zutiefst intim anfühlt.
Falschgeld steht wieder auf, knöpft Elis Flanellhemd auf und zieht es ihm aus. »Kann ich dich umarmen?«
Eli nickt und denkt: Je me déteste, aber noch hasst er sich nicht. Er hat zu viel Angst. Hinterher wird genug Zeit für Selbsthass sein.
Sein Onkel zieht ihn an seine Brust, die sehnig und muskulös ist. Er muss auf dem Boden des Lofts eine Menge Liegestütze machen. Er küsst Eli auf den Kopf, genau wie Pal Abi geküsst hat, und Eli erschaudert.
»Ich werde dir nicht wehtun, versprochen«, flüstert Falschgeld. »Ich halte meine Versprechen. Ich stehe zu meinem Wort.«
Er labert Scheiße, das weiß Eli, aber auch falsche Ehrlichkeit hat ihren Charme.
Falschgeld drückt ihn auf die Bettkante und zieht ihm die Stiefel aus. Am rechten muss er ziemlich lange zerren. An den Armen des Mannes treten die Adern deutlich vor, und Eli fragt sich, ob das vom Heroin kommt.
»Ich muss mir auch so ein Paar besorgen«, sagt Falschgeld.
»Bye-Bye Mon Cowboy. Auf der Wellington.« Elis Mund ist wie ausgedörrt, als sei seine Spucke komplett eingetrocknet.
»Kann ich dich küssen?«
Wird sein Onkel bei jedem weiterem Schritt um Erlaubnis bitten? Kann ich dich umarmen? Kann ich dich küssen? Kann ich in dich eindringen?
Falschgeld drückt ihn aufs Bett, kniet sich über ihn, hebt sein Kinn an, beugt sich vor, küsst Elis Wangen und nähert sich dann seinem Mund. Umfasst Elis Nacken und knetet eine Stelle, als befinde sich dort eine Verspannung, die er lösen muss.
Eli schließt die Augen. Wenn er sie geschlossen hält, könnte diese Person, dieser neue Liebhaber, der ihm die Zunge in den Mund steckt und ihm das Gesicht mit seinen Bartstoppeln zerkratzt, einfach jeder sein. Während der Küsserei hört er draußen ein Scheppern. In der Gasse ist eine Mülltonne umgekippt, vielleicht umgestoßen von einem Waschbären, der zu dieser milden Mitternachtsstunde im Januar nach Nahrung sucht. Ein Bild aus seiner Kindheit schießt ihm durch den Kopf: ein Waschbär, der hinter dem Perrette’s Katzenfutter aus einer Schale frisst. Abi konnte sich in seinen Körper verkriechen, und Eli wäre froh, er könnte sich jetzt in den Waschbären hinter dem Loft seines Onkels hineinversetzen. Dort wäre es sicher. Kuschelig. Wie im pelzigen Kostüm eines Mannschaftsmaskottchens.
Als Falschgeld von ihm runterrutscht, öffnet Eli die Augen. Sein Onkel steht schwer atmend neben dem Bett. Elis Spucke glitzert auf dem Gesicht des Mannes. Er betrachtet Eli, lässt den Blick über den Körper des Jungen hinweghuschen, als sei es zu viel, alle Teile auf einmal wahrzunehmen. Dann macht Falschgeld seinen Gürtel auf, zieht die Hose runter und schleudert sie von sich. Seine Erektion wölbt die weiße Boxershorts, ein Tropfen Präejakulat zeichnet sich als dunkler Fleck darauf ab. Dann zieht er die Shorts herunter und befreit seinen langen, dünnen Penis, der leise wippt.
»Oh Gott«, sagt Eli und lacht. Wendet den Blick von seinem nackten Onkel ab und sieht dann wieder hin. »Oh Gott!«
»Was?« Falschgeld klingt verärgert.
»Wir haben den gleichen Schwanz«, sagt Eli und lacht wieder, ruiniert die Stimmung – nicht, dass sie romantisch gewesen wäre, aber trotzdem. »Meine Schamhaare sind im Gegensatz zu deinen nicht schwarz, aber unsere Schwänze sind praktisch gleich.«
»Zeig«, sagt Falschgeld.
Es ist ein Uhr fünfunddreißig, als Eli die elf Ziffern wählt. Er betrachtet die fröhlichen Lichter an seinem Ficus, während fünfhundert Kilometer entfernt in einem kleinen Bungalow, den er, wie er sich schwört, nie betreten wird, ein Telefon klingelt – einmal, zweimal, dreimal.
»Hallo?« Die Stimme klingt ruppig, aufgeschreckt.
»Ich bin’s.«
»Junge? Bist du das?«
Eli stöhnt gequält und voller Selbstekel auf und fängt an zu weinen.
»Eli, was ist? Ist was mit deiner Schwester? Was hat sie jetzt schon wieder angestellt? Sag schon, ist mit Abi alles in Ordnung?«
Pal nimmt an, dass es um seine Tochter geht, nicht um seinen Sohn. Natürlich tut er das. Und es geht tatsächlich um Abi, aber auch um Eli. Er ist auch relevant.
Er schnieft und wischt sich die Augen. »Du musst kommen und sie zurücknehmen«, sagt er zu seinem Vater, als sei Abi eine ungebärdige Katze, die er an die Tierhandlung zurückgeben möchte. »Ich kann mich nicht mehr um sie kümmern. Sie ist auf Drogen, sie ist auf Heroin.«
Herr im Himmel, unsere Heroin ist auf Heroin, denkt Eli, dabei ist Abi diejenige, die auf derart alberne Wortspiele steht. Jetzt würde er am liebsten erst recht losheulen.
»Verdammt. Ist sie da? Kann ich mit ihr reden? Gib sie mir.«
»Sie schläft, in meinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Im Augenblick hat sie keine Drogen, glaube ich zumindest, aber sie wird sich welche besorgen.« Er ist eine Petze, ein Verräter, einer, der seine Schwester den Löwen zum Fraß vorwirft. Wieder stöhnt er, lauter, ändert seine Meinung aber nicht. »Bitte komm«, bettelt er. »Ich habe dich noch nie im Leben um etwas gebeten, außer um zwei lächerliche Rennmäuse, deshalb musst du das hier für mich tun, Pal.«
Im Hintergrund sagt Joys schläfrige Reibeisenstimme: »Was für eine neue Hölle ist das jetzt schon wieder?«
»Okay, Junge, ganz ruhig, ich komme. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Du kannst bis morgen früh warten«, sagt Eli.
»Nein, ich bin jetzt sowieso wach. Und mache mich gleich auf den Weg. Alles wird gut, Junge. Dein Vater kommt.«