Das nächste Arschloch, das uns die Ehre gibt, ist Eli Jones«, sagt der Herausgeber, der bei der Vorstellung der neuen Anthologie in einem Saal des Brownstone Hotel den Moderator macht.
Unter spärlichem Applaus betritt Eli die Bühne.
»Eli ist den ganzen weiten Weg aus Montreal gekommen«, fährt der Herausgeber fort, der für Black Ink Press arbeitet und einen Hochglanzzylinder und ein T-Shirt mit aufgedruckten Smoking-Aufschlägen trägt. »Was heißt ›Arschloch‹ in la belle Provinz, Eli?«
»Trou de cul.«
»Truda Kull«, versucht es der Herausgeber.
»So ähnlich.«
Arschloch lautet der Titel der Anthologie, die auf dem Tisch am Halleneingang zum Verkauf ausliegt. Vorne auf dem Einband ist das Hinterteil eines Mopses abgebildet, den Stummelschwanz hochgereckt, sodass der schwarze Anus deutlich zu sehen ist. Auf der Rückseite prangt das eingedrückte Gesicht des Hundes. In allen Geschichten im Buch geht es um absolut unsympathische Gestalten, niemand darunter, an den man sich im wirklichen Leben ankuscheln wollte, aber wieso sollte man sich in der fiktiven Welt nicht beispielsweise in den Kopf eines Serienmörders hineinversetzen wollen, der den Nachbarschaftshunden die Köpfe abhackt?
Der Herausgeber verlässt die Bühne, und Eli tritt ans Pult. »Anders als die anderen Vorlesenden an diesem Abend«, sagt er ins Mikro, »bin ich kein Schriftsteller, sondern habe dieses Stück übersetzt. Es stammt von einem montrealer Schauspieler und Bühnenautor namens Steve Côté. Falls ihr also findet, dass die Story scheiße ist, beschwert euch bei Steve, nicht bei mir.«
Im Publikum wird gelacht. Es müssen etwa hundert Leute da sein. Sie sitzen zu dritt oder viert an kleinen, von Kerzen beleuchteten Tischen oder lehnen an den Wänden. Von einigen der Schriftsteller, die an diesem Abend lesen, hat Eli schon gehört, sie sind echte Literaten. Deshalb ist er nervös, nicht gleich-wird-mir-schlecht-nervös, aber presque. Statt des uralten Tricks, sich das Publikum nackt vorzustellen, stellt er sich die Leute als von Beruhigungsmitteln zugedröhnte Klapsmühleninsassen vor, die in Pals Flanellschlafanzug und Joys pinken Flauschpantoffeln im Douglas herumhängen.
Das Stück, das er übersetzt hat, handelt von einem fünfundzwanzigjährigen Mann (Elis Alter), den niemand ernst nimmt, weil er eher klein ist, Grübchen in den Wangen hat und wie ein Engel aussieht. Er selbst jedoch sieht sich als kleinen Kamikaze-Kämpfer, der zwar »Bitte« und »Haben Sie recht vielen Dank« zu Kellnern, Polizisten und Staatsbediensteten sagt, dabei aber die ganze Zeit darüber fantasiert, allen den Schädel einzuschlagen, 7-Elevens niederzubrennen und Dunkin’-Donuts-Filialen in die Luft zu jagen. »Cherub« wurde als kurzer Monolog für die Bühne geschrieben, also hat Eli das Stück auswendig gelernt und sich trotz seiner eins achtzig in diesen kleingewachsenen Irren hineinversetzt, wobei sein eigenes Babygesicht sehr hilfreich war. Für die Rolle hat er sich einen Bostoner Akzent zugelegt, verschluckt die Rs und verlängert die Vokale, um eine gewisse Distanz zwischen sich selbst und den unverschämten, ichbesessenen Erzähler zu legen.
Nicht, dass Eli Jones im realen Leben nicht auch unverschämt und ichbesessen sein kann. So zum Beispiel hat er Abi, obwohl er sie seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, strikt verboten, zur Lesung zu kommen, weil er fürchtet, sie könne einen Wein nach dem anderen in sich hineinschütten und schließlich vor diesen ganzen Literaten, die er beeindrucken will, auf spektakuläre Weise umkippen. Und wer kommt keine Minute nachdem er mit »Cherub« angefangen hat auf die Bühne zugewankt und lässt sich auf den Stuhl fallen, auf dem er bis eben gesessen hat? Sie trägt einen Kunstpelz, ein Chewbacca-braunes Ding, das ihr bis zu den Knien reicht. In der Hand hat sie ein Glas Rotwein, mit dem sie ihm zuprostet.
Sein wütender Blick sagt: »Was zum Teufel willst du hier, Jones?«
Ihr Grinsen antwortet: »So leicht wirst du mich nicht los.«
Aber sie benimmt sich, sitzt aufmerksam da, so wie sie früher immer auf ihrem Bett saß, ganz Ohr, wenn er ihr aus Das schöne Biest vorgelesen hat. Und obwohl er es nur ungern zugibt, schraubt ihre Anwesenheit an diesem Abend sein Lampenfieber auf praktisch Null herunter. Während er das Arschloch bewohnt, bewohnt Abi ihn und sagt ihm, dass er seine Sache gut macht.
Am Ende des kleinen Monologs senkt Eli die Stimme, bis sie nur noch ein unheimliches Flüstern ist. »Tief in mir drin steckt eine Zeitbombe«, sagt er in seiner Rolle, die Lippen fast am Mikrofon. »Sie beschützt mich vor den ganzen Idioten da draußen und hält mich, wie ich hoffe, davon ab, mich eines Tages selbst in einen Idioten zu verwandeln.«
Er vollführt eine steife kleine Verneigung und sagt: »Haben Sie recht vielen Dank.«
Leute applaudieren, jemand pfeift, Abi steht klatschend auf. Er nickt scheu, fühlt sich jetzt, wo er wieder in seinen eigenen Körper zurückgekehrt ist, unbehaglich. Dann hastet er von der Bühne und stolpert fast auf der Treppe nach unten.
Das High nach der Lesung fühlt sich an wie ein Zuckerrausch, als hätte er eine große Schüssel Cap’n Crunch-Frühstücksflocken gegessen. Die anwesenden Schriftsteller äußern sich anerkennend, klopfen ihm auf die Schultern, einer gibt ihm die High Five. »Du solltest ans Theater gehen, Eli Jones«, sagt Susie Gaynor, als er an der hufeisenförmigen Bar zwei Gläser Portwein bestellt. »Du hast etwas so Dramatisches.« Er hat ihr Buch gelesen, Der Konjunktiv-Modus, in dem es um siebzehn Zeiten zum Verzweifeln geht. Jede Story der Sammlung hat einen Titel im Konjunktiv: »Sei es, wie es will«, »Wünschte, du wärst hier«, »Möge Gott die Königin schützen« und so weiter. Susie Gaynor benutzt Sprache, als sei jedes Wort ein Steinchen, das sie akribisch in ein Mosaik einfügt. Hingerissen würde er am liebsten auf die Knie fallen und ihre hohen Schnürstiefel küssen; stattdessen murmelt er ein undramatisches Danke und hastet zurück zu Abi, wobei er den Portwein fast verschüttet.
Sie hat einen abgeschiedenen Tisch für zwei im hinteren Teil der Cocktail-Lounge des Hotels gefunden. Über dem Tisch hängt ein herzförmiges Brett mit einem aufmontierten, räudig aussehenden Hirschkopf mit sumpfig-grünen Glasaugen.
Statt ihres Markenzeichens, dem unergründlichen Pokerface, zeigt Abi heute einen selig-weggetretenen Flower-Power-Ausdruck. Sie trägt ein langes T-Shirt-Kleid mit U-Ausschnitt, das mit manischem Kindergekritzel in allen erdenklichen Farben bedruckt ist, und um den Hals eine Kette aus aufgefädelten Buntstiftstummeln, deren Spitzen nach unten zeigen. Der Chewbacca hängt über der Stuhllehne.
»Was für ein Outfit«, sagt Eli.
»Hat meine Freundin gemacht.«
»Freundin-Freundin oder Geliebte-Freundin?«
»Letzteres. Sie heißt Tina, entwirft Klamotten und ist verdammt kreativ. Ich bin zu ihr in ihre Wohnung in The Annex gezogen. Schönes Viertel.«
»Ein Toast auf die talentierte Tina.« Er hebt sein Glas, um mit seiner Schwester anzustoßen.
»Bist du überrascht?«
»Überrascht, dass es so lange gedauert hat. Bist du glücklich? Du siehst irgendwie glücklich aus.« Trotzdem hat ihre Glückseligkeit etwas Gekünsteltes, wie ein auf eine Vogelscheuche aufgemaltes Smileygesicht. Ist er einfach nur nicht daran gewöhnt, sie so zu sehen, oder müsste ihr Antidepressivum neu eingestellt werden?
»Glücklich ist übertrieben, Jones. Aber ich habe Tina, die einfach toll ist. Und ich habe einen neuen, ganz großartigen Therapeuten, der will, dass ich die Abendschule besuche. Außerdem rauche ich nicht mehr so viel und war bei ein paar Treffen der Anonymen Süchtigen.«
Eli hebt sein Portweinglas und zieht fragend eine Augenbraue hoch.
»Oh, ich fange mit den harten Sachen an.«
Kein Einwand von Eli, der inzwischen ausschließlich Wein trinkt, aber davon viel zu viel.
»Allerdings habe ich letzten Monat etwas Dummes gemacht.« Abi beugt sich näher zu ihm. Ihre Stimme ist fast ein Flüstern, obwohl niemand in ihrer Nähe sitzt.
Sein Blick geht an ihr vorbei. An der Bar spendiert der Herausgeber einigen der Arschloch-Schreiberlinge zur Feier des Tages eine Runde Bier. Eli sollte dort sein und mittrinken, sich an den Herausgeber ranschmeißen und ihm einen großartigen Roman aus Quebec ans Herz legen, den er vor kurzem gelesen hat.
»Und was hast du gemacht?«, fragt er Abi und verkneift sich den Zusatz »dieses Mal«, der jedoch im Ton mitschwingt.
»Meine Freundin ist Diabetikerin, und ich habe mir ihr Insulin gespritzt.« Sie verdreht die Augen, als hätte sich jemand anderes dieses unmögliche Verhalten geleistet, aber doch nicht sie, doch nicht Abi Jones.
»Macht Insulin denn high? J’comprends pas.«
»Wenn man sich zu viel spritzt, absorbieren die Körperzellen den ganzen Blutzucker. Es ist praktisch wie eine Überdosis doppelt gefüllter Pop-Tarts.« Sie lacht ihr Betty-Geröllheimer-Lachen. »Das Gehirn bekommt keine Glucose mehr und klinkt sich aus, man verliert das Bewusstsein und schläft den Schlaf der Toten. Jedenfalls hat Tina schnell gemerkt, was los war und hat mich ins Krankenhaus geschafft. Die haben mir ein Gegenmittel gegeben, und alles war wieder gut.«
Eli sieht den Hirschkopf an. »Hilf mir, Bambi«, sagt er. »Hilf mir, meine Schwestaa zu verstehen.« Das »Schwester« spricht er in dem Bostoner Akzent, den er sich für die Lesung zugelegt hatte.
Abi wirft ihm mit zur Seite geneigten Kopf einen kummervollen Blick zu, ihre Augen sind auf einmal so sumpfig-grün wie die des Hirschs. »Es waren wieder die Hände«, sagt sie. »Die Hände, die auf mich runterdrücken.« Sie betrachtet ihre eigenen Hände, die auf dem Tisch liegen. Sie sind klein, keine Ringe an den Nikotin-verfärbten Fingern, kein Nagellack auf den Nägeln, die kürzer geschnitten sind als die von Eli.
»Aber jetzt geht es dir gut«, sagt er hoffnungsvoll. »Es geht dir besser. Du bist sogar irgendwie glücklich. Die Hände sind weg.«
»Ja, die Hände sind weg. Vielleicht für immer. Wäre das nicht toll? Wäre das nicht ein gottverdammtes Wunder?«
»Ich trinke auf die nicht mehr vorhandenen Hände.«
Sie stoßen noch einmal miteinander an. Eli kippt den Rest seines Portweins, der süß ist, runter. Nicht doppelt-gefüllte-Pop-Tarts-süß, aber vielleicht süß genug, um seinen Zuckerrausch wieder aufleben zu lassen.
»Noch einen Drink?«
Sie schüttelt den Kopf, sie hat ihren Port noch nicht ausgetrunken. Eli geht los, um sich selbst noch ein Glas zu holen, und um das gruselige Bild von Abi als mit Insulinspritzen gespicktes Nadelkissen aus dem Kopf zu bekommen. Sie bohren sich in ihre Unterarme, Knöchel, ihren Hals, Po, ihre Augen. Ihre Heroin-Eskapade von vor zwei Jahren steckt ihm noch in den Knochen.
An der Bar sitzt der Herausgeber auf einem Hocker. Seine Wangen und seine Nase sind gerötet von Rosacea. Auf dem Schoß hält er den Zylinder, mit der Öffnung nach oben, als könne ein Kaninchen herausspringen. Als er Eli sieht, ruft er: »Unser Übersetzer!«
Eli stürzt sich in seine halb-eingeübte Rede über den Roman aus Quebec, den er zu übersetzen hofft, C’est pas moi, je le jure! von Bruno Hébert. »Der Erzähler ist ein eigensinniger, verstörter Junge, dessen Fantasiewelt in seine Realität einsickert.«, erklärt er. »Der Titel bedeutet ›Ich bin es nicht gewesen, das schwöre ich‹. Aber das ist reine Ironie, weil der Erzähler der Autor im Alter von sechs Jahren ist. Das Buch ist halb-autobiografisch, aber wer kann schon sagen, was erdichtet ist und was nicht.«
Der Herausgeber grinst Eli anzüglich an, legt ihm die Hand auf die Schulter, drückt sie, beugt sich näher. Er riecht nach Whiskey, riecht nach Pal. »Normalerweise schlafe ich nicht mit Kerlen«, sagt der Mann, »aber für dich würde ich eine Ausnahme machen.«
Hat Eli sich verhört? Er weicht einen Schritt zurück.
»Ich will dich nur auf den Arm nehmen«, sagt der Herausgeber und boxt Eli in die Schulter, spielerisch, aber es tut weh. »Gehört alles heute zu meiner Masche. Ich bin ein Arschloch. Verstehst du? Ein Truda kull.«
»Oh, okay, ja«, sagt Eli mit einem gekünstelten Lachen.
Zum Glück kommt in diesem Moment der Barkeeper, Eli bestellt einen Pinot Noir. Der Herausgeber setzt seinen Zylinder wieder auf, aber schief, sodass man eher an den schiefen Turm von Pisa als an Abraham Lincoln denkt. Eli bezahlt seinen Wein, entschuldigt sich und fühlt sich, obwohl die Anmache ein Scherz war, plötzlich demoralisiert, degradiert, demoliert und all die anderen deprimierenden Wörter mit ›d‹, die Abi ihn irgendwann einmal auswendig hat lernen lassen. Er trinkt einen großen Schluck Wein und geht zurück in die Lounge, aber seine Schwester sitzt nicht mehr an ihrem Tisch. Auch der Chewbacca ist weg. Nur zwei leere Gläser sind noch übrig.
Eli sieht dem Hirsch in die Augen. »Wo ist meine Schwestaa?«, fragt er. »Ist sie gegangen?«
»Ist sie«, sagt der Hirsch. »Dieses Mädchen hat sich schon vor Ewigkeiten abgemeldet.«
»Ich liebe dich, Jones. Je t’aime beaucoup«, lautet die Nachricht, die Abi ein paar Wochen später, als er sich gerade die Spätvorstellung von Besinnungslos im Rialto ansieht, auf seinem Anrufbeantworter hinterlässt. Sie spricht mit hingehauchter Zeichentrickfilm-Teenie-Stimme, so wie er sich die Stimme von Pebbles Feuerstein vorstellt, und er denkt, dass sie es als Witz meint, nur so tut, als sei sie wieder ein kleines Mädchen, obwohl sie selbst damals nie gesagt hat, dass sie ihn liebt. Vielleicht ist sie betrunken oder bekifft; vielleicht ist sie völlig zugedröhnt von einer zu hohen Dosis eines neuen Antidrepressivums.
»Gute Nacht, kleiner Bruder. Bonne nuit. Bye-bye. Bye-bye.«
Arschloch, das er ist, löscht Eli die Nachricht und ruft nicht zurück.
Pal ruft Eli nie an. Selbst vor einem Jahr, als er sich tausend Dollar für die ins Wackeln geratene P. A. L. leihen wollte, ließ er Joy anrufen und um das Darlehen bitten. Aber an einem Morgen Anfang Juni, zwei Wochen nach Abis »Gute Nacht«-Nachricht, klingelt Elis Telefon. Es ist Pal: »He, Junge, hier ist dein alter Herr.«
An diesem Morgen sitzt Eli an seinem Schreibtisch und übersetzt eine Broschüre über eine Kampagne zur Bekämpfung von Kakerlaken in Sozialbauwohnungen. Als er Pals Stimme hört, weiß er tout de suite, dass sein Vater wegen der Kakerlake von Miss Abi Jones anruft. »Was hat sie angestellt?«, fragt er ohne Umschweife.
»Ach, nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste«, sagt Pal, aber seine Stimme – delirium-tremens-zittrig – verrät, dass es allen Grund zur Sorge gibt.
»Was ist passiert?«
»Wir machen so was ja nicht erste Mal mit, und sie hat sich noch jedes Mal wieder berappelt. Das Mädchen ist zäh.«
»Pal, sag mir, was sie verdammt nochmal gemacht hat, okay?«
»Sie hat sich Insulin gespritzt.«
Die Rückkehr der doppelt-gefüllten Pop-Tarts.
»Ihre Mitbewohnerin ist Diabetikerin«, sagt Pal.
»Haben die Ärzte ihr ein Gegenteil gespritzt?«, fragt Eli. »Ich meine natürlich, ein Gegenmittel. Die gibt es nämlich, wenn man zuviel Insulin genommen hat.«
»Die Ärzte tun, was sie können. Wir warten alle darauf, dass sie wieder wach wird. Es war deine Mutter, die darauf bestanden hat, dass ich dich anrufe.«
»Soll ich kommen? Ich kann den Zug nehmen und in ungefähr sechs Stunden da sein.«
»Nein, nein, nicht nötig. Sie wird zu sich kommen; sie wird durchkommen. Sie wird wieder. Ich stehe hier in einer Telefonzelle, und jemand anderes wartet. Also werde ich dich nicht länger aufhalten.«
»Ruf mich an und sag mir Bescheid, sobald sie zu sich kommt, okay?«
Als er aufgelegt hat, fällt ihm wieder ein, was Abi im Brownstone Hotel gesagt hat: den Schlaf der Toten schlafen. Seine Schwester liegt im Koma, während er hellwach ist, aufgekratzt und kribbelig, als hätte er siebzehn Espressos getrunken. Am liebsten würde er den Mount Royal hochrennen, auf das verdammte Kreuz klettern, aber er kann die Wohnung nicht verlassen, weil er dann Pals Anruf verpassen könnte. Also legt er Daniel Bélanger auf und spielt Les Insomniaques s’amusent so laut, dass er jeden Moment damit rechnet, dass seine Nachbarn an die Tür hämmern. Er macht gefühlt hundert Liegestütze, gefühlt tausend Sit-ups, eine Million Hampelmänner. Als das Album durch ist, legt er Jean Leloup auf, und während der ingrimmige Wolf in L’Amour est sans pitié über die Brutalität der Liebe singt, klingelt das Telefon erneut. Eli dreht die Lautstärke runter und reißt den Hörer hoch.
»Hallo?«, meldet er sich, während sein Herz gegen seine Rippen hämmert.
»Eli, hier ist deine Mutter.«
»Ist sie wach?«
»Dieses Mal hat sie es fertiggebracht, dieses dumme, dumme Mädchen.«
»Aber Pal hat gesagt, dass sie wieder in Ordnung kommt«, beharrt er, jammert er. »Dass sie durchkommt!«
»Dem Idioten darfst du doch kein Wort glauben! Der lebt doch wie immer in seiner verdammten Fantasiewelt. Du setzt dich jetzt sofort in einen Zug, Eli, hast du mich verstanden. Und kommst so schnell es geht her.«
Ihre Haare, zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, liegen auf dem Kopfkissen, zusammengehalten von einem einfachen Gummiring. Gummiringe rauen die äußere Schicht der Haare auf und machen sie krisselig. Hat Abi das im Lauf der Jahre nicht hundert Mal zu ihm gesagt? Er wird in eine Drogerie gehen und einen Haargummi aus Seide kaufen – nein, klauen –, sonst wird sie ihn zur Sau machen, weil er zugelassen hat, dass die Krankenschwestern ihre Haare ruinieren. Sie hängt an einem Atemgerät, ein Schlauch führt in ihre Luftröhre. Er wird in ihrem Mund durch ein Ding an Ort und Stelle gehalten, das wie ein riesiger Schnuller aussieht. Ein weiterer Schlauch führt in ihre Nase, ein dritter in ihren Arm, hier ist die Einstichstelle mit einem X aus weißem Klebeband fixiert. Ein letzter Schlauch kommt unter dem Laken hervor und endet am Fuß des Bettes in einem großen Plastikbehälter, der so ähnlich aussieht wie die, in denen man diese blaue Scheibenwischerflüssigkeit kaufen kann, doch die Flüssigkeit in diesem Behälter ist uringelb.
Eine Krankenschwester kommt herein, um nach Abi zu sehen. Ist es dieselbe, die ihn am Morgen, als er ankam, in ihr Zimmer geführt hat? Er kann es nicht sagen. Alle hier sind für ihn gesichtslose Androiden. »Wenn wir sie mit einer Nadel in die Fußsohle piksen, zuckt sie«, sagt die Androide. »Das ist ein gutes Zeichen.«
Er nickt, nimmt es ihr aber nicht ab. Er sieht keine guten Zeichen. Die Augenlider seiner Schwester sind nicht ganz geschlossen, es gibt einen schmalen Schlitz, vielleicht einen oder zwei Millimeter, durch den Licht einfallen kann, und wenn er sein Gesicht dicht vor ihres schiebt und die richtige Stellung findet, kann er durch diesen Schlitz ihre Augäpfel sehen. Ihre grün-mit-braunen-Scheißesprenkeln-durchsetzten Pupillen bewegen sich nicht. Sie sind so kalt und leer wie die Augen eines ausgestopften Tiers.
Als die Krankenschwester weg ist, zieht er sich einen Stuhl ans Bett, der so laut über den Boden kreischt, dass selbst Tote aufwachen würden, aber kein Mucks von Abi. Er fühlt sich genauso unwohl wie immer in Krankenhäusern und Anstalten. Seine Schläfen pochen von einem Kater. Im Zug gestern Abend muss er ein halbes Dutzend Miniflaschen Rotwein gekippt haben. Um elf Uhr abends, nach Ende der Besuchszeit, kam er in der Stadt an und verbrachte eine schlaflose Nacht im selben Bed and Breakfast, in dem er auch wegen der Arschloch-Veranstaltung abgestiegen war.
Er sitzt da, tätschelt den dünnen Arm seiner Schwester, den, in dem kein Infusionsschlauch steckt, nimmt ihre Hand in seine. Hänsel und Gretel, für immer im Schwarzwald verloren. Ihre Handfläche fühlt sich so schwielig an wie eine Katzenpfote, also dreht er sie um, betrachtet sie. Die flachen Warzen, die in Joys Handflächen wachsen, wachsen jetzt auch in denen von Abi. Vier oder fünf, alle schorfig. Sie muss an ihnen herumgeknibbelt haben.
»Die Dinger haben das Fass zum Überlaufen gebracht«, sagt Abi in seinem Kopf zu ihm. »Ich habe mich in sie verwandelt, in Joy, also hatte ich keine andere Wahl, als mich selbst auszuknipsen.«
Er kneift die Augen fest zu. »Keine Witze, Jones«, flüstert er. »Noch nicht. Ich bin noch nicht soweit.«
Der Arzt ist kein Androide. Er hat ein menschliches Gesicht, ein gutaussehendes Gesicht, wie aus einer Krankenhausserie, bloß lebensechter, als hätte George Clooney einen Silberblick, Aknenarben und schütteres Haar. Dr. Clooney hat gerade erklärt, wieso das Gegenmittel dieses Mal nicht anschlagen konnte, nämlich weil Abi sich das Insulin vor dem Schlafengehen gespritzt und Tina es erst am nächsten Morgen gemerkt hat, als sie sie nicht wachrütteln konnte. Zuviel Zeit war vergangen, als dass das Gegenmittel den Schaden hätte abwenden können. »Wenn der Körper mit Insulin geflutet wird, sackt der Blutzuckerspiegel ab«, erklärt der Arzt. »Das Gehirn bekommt keine Glucose mehr, was die Hirnzellen schädigt.« Dann verfällt er ins Medizinische, und Elis Hirn ist zu durcheinander, um dem Fachchinesisch folgen zu können. Den Einheiten und Tina geht es garantiert genauso. Sie alle sitzen in einem abgeschiedenen kleinen, fensterlosen Raum bei geschlossener Tür. Hierher, vermutet Eli, bringen die Ärzte Familien und Freunde, um ihnen das Schlimmste mitzuteilen. Die Canapés, Sessel und Kissen sind von einem traurigen Senfgelb, als hätten sie einmal sonnengelb angefangen, seien aber im Lauf der Jahre durch den vielen Kummer, den sie absorbiert haben, nachgedunkelt.
Während der Arzt redet, schluchzt Tina leise auf. Eli wirft ihr einen vernichtenden Blick zu. Wenn sie anfängt zu flennen, bringe ich sie um, denkt er. Sie ist eine mollige junge Frau in einer roten Jacke aus demselben plüschigen Material, aus dem auch Toilettendeckelbezüge gemacht sind. Ihre Haare sind jungenhaft kurz und so dicht wie ein Biberpelz, ihre Augen sind dunkle, schmerzerfüllte Pfützen. Sie sitzt auf einem Canapé neben der knochigen Joy, die sich von dem Mädchen weglehnt, als fürchte sie, Tina könne jeden Augenblick trostsuchend die Arme um sie schlingen.
Pal sitzt allein in einem Sessel. Seine Wangen sind faltig, sein Gesicht ist grau, seine Hände liegen schlaff auf den Knien. Er sieht aus, als sei er wieder in Korea und noch wie betäubt von einer in der Nähe explodierten Granate.
Eli unterbricht den Arzt: »Sagen Sie uns ganz offen: Ist sie hirntot?«
»Nein, ein paar Hirnfunktionen gibt es noch, aber sie sind minimal. Ich würde es fast-vegetativer Zustand nennen.«
Fast-vegetativer Zustand. Als wäre sie nur zu acht statt zu zehn Zehnteln Matsch in der Birne.
»Sie reagiert auf Nadelstiche«, fährt der Arzt fort, »aber Reaktionen auf Schmerz entstehen im Hirnstamm.« Aus der Brusttasche seines weißen Clinique-Kittels zieht er eine Stiftlampe und bewegt sie hin und her. »Wir haben ihre Augenlider angehoben und in ihre Augen geleuchtet.Ihre Augen folgen dem Licht nicht, und das, fürchte ich, deutet auf eine massive Schädigung der Hirnrinde hin.«
»Ich will einfach nur, dass sie aufwacht«, bittet Tina. Obwohl sie so jungenhaft aussieht, hat sie eine Kleinmädchenstimme, so kleinmädchenhaft wie die von Abi.
»Ich auch«, sagt Joy.
Pal reißt sich aus seiner Starre. »Ja«, murmelt er, aber vielleicht hat er sich auch nur geräuspert.
»Ich nicht«, sagt Eli. »Wenn sie aufwacht, wird sie eine Topfpflanze sein. Sie wollte sterben, also lasst sie um Himmels willen.« Alle, sogar der Arzt, sehen ihn an, als sei er der Sensenmann. »Seit sie fünfzehn ist, versucht sie, sich umzubringen.«
»Das damals war ein Unfall«, widerspricht Joy. »Du hast selbst gesagt, dass sie aus diesem Jeep gefallen ist.«
»Tja, das war gelogen.«
Seine Mutter, die Königin der Verleugnung, wendet sich an den Arzt: »Abi wollte sich nie wirklich umbringen. Sie macht diese Dummheiten nur, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie ist süchtig nach Aufmerksamkeit.«
Der Arzt klickt die Stableuchte an und aus. »Ein Hilfeschrei kann manchmal tragisch enden«, sagt er.
»Sie liegt im Koma und ist praktisch Matsch im Kopf«, lässt Eli nicht locker. »Was für Optionen gibt es?«
»Wir können ihre Atmung in Gang halten. Wir können sie intravenös ernähren. Wir können dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlt.«
»Wie lange?«
»Nun, manche Familien entscheiden sich dafür, ihre komatösen Lieben jahrelang, manchmal jahrzehntelang am Leben zu halten.« Obwohl der Arzt sich bemüht, neutral zu klingen, verraten seine Augen, für wie abwegig er selbst diese Option hält.
Abi als Dornröschen.
»Können wir ihr nicht eine Überdosis Morphium geben?«, fragt Eli. »Es jetzt enden lassen? Das wäre doch das Humanste, oder? Das würden wir auch für einen kranken Hund tun.«
»Deine Schwester ist kein kranker Hund«, faucht Joy.
Tina fängt an, leise zu weinen, und Eli muss sich zusammenreißen, um nicht zu schreien: »Sie hat dich nicht geliebt! Sie hat dich nur benutzt, um an dein verdammtes Insulin zu kommen.«
»Euthanasie ist immer noch illegal«, antwortet der Arzt. »Eine legale Option wäre jedoch, sie vom Beatmungsgerät zu nehmen, um zu sehen, ob sie noch eigenständig atmen kann. Falls nicht, würde sie schnell und schmerzfrei entschlafen.«
»Und wenn sie kann?«, fragt Eli.
»Wenn sie eigenständig atmen kann, können Sie entscheiden, ob Sie die künstliche Ernährung beenden möchten.«
»Einen Moment«, wirft Eli ein. »Es ist illegal, ihr eine tödliche Spritze zu setzen, aber legal, sie verhungern zu lassen?«
Der Arzt mit seinem George-Clooney-Gesicht nickt.
Eli stöhnt auf, als habe jemand ihm einen Schlagstock in den Bauch gerammt. »Das ist doch krank«, murmelt er.
Tina fischt ein Taschentuch aus ihrer Jacke und putzt sich mit einem fast komischen Trompetenstoß die Nase. Pal, der sich in seinem Sessel vor und zurück wiegt, starrt den Boden an. Niemand sagt etwas. Dann Joy: »Sie hat nie viel gegessen«, als hätte Abi nichts dagegen, oder würde sich vielleicht sogar freuen, auf Nulldiät gesetzt zu werden und dahinzuschwinden.
Der Arzt macht den Test und entscheidet, dass Abi ohne Hilfe atmen kann. Er entfernt das Beatmungsgerät mitsamt riesigem, schnullerartigem Halteding, sodass jetzt mehr von ihrem Gesicht zu sehen ist. Doch immer noch führt eine Ernährungssonde in ihr linkes Nasenloch und durch den Hals in ihren Magen. Ernährt wird sie aus Beuteln mit einer Flüssigkeit, die für Eli wie Milchkaffee aussieht. Joy und Pal haben noch nicht entschieden, ob diese Nahrungszufuhr eingestellt werden soll. Von Rechts wegen haben sie als die Eltern das letzte Wort, nicht Eli, aber er versucht, sie in diese Richtung zu lenken, wenn sich ihre Wege im Krankenhaus kreuzen. Alle drei wechseln sich damit ab, während der Besuchszeiten bei Abi zu sitzen, und im Augenblick ist Eli an der Reihe. Vorher war er im Shoppers Drug Mart in der Nähe seines Bed and Breakfast und hat zwei Produkte von Cetaphil, Abis Lieblingsmarke, mitgehen lassen, die Reinigungslotion und die Feuchtigkeitscreme. Mit Wattebäuschen trägt er die Reinigungslotion auf, verteilt sie auf ihren Wangen, ihrer Nase, ihrer Stirn und ihrem Kinn. Dann befeuchtet er ein paar weitere Wattebäusche mit seiner Wasserflasche, reibt die Reinigungslotion wieder ab, tupft ihr Gesicht mit einem Tuch trocken und trägt die Feuchtigkeitscreme auf.
»Die Sonnencreme werden wir uns sparen«, informiert er sie.
»Das ist einer der Vorteile, wenn man jung stirbt«, sagt Abi. »Man braucht sich keine Gedanken über Falten oder Melanome zu machen.«
Er zieht einen Kamm durch ihre Haare, löst kleine Knötchen. Die Ansätze werden allmählich fettig, also wird er vielleicht auch ein Trockenshampoo klauen. Er fasst ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und streift einen mit schwarzem Stoff bezogenen Zopfgummi darüber. Er hat einen schwarzen, einen weißen und einen grauen, die er abwechselnd benutzen wird.
Während Eli ihre Haare auf dem Kopfkissen drapiert, kommt Pal in den Raum geschlurft, bleibt an dem haferflockenfarbenen Vorhang stehen, der Abis Bett von dem freien an der Tür trennt, und betrachtet seine Kinder. Seine Augen sind verkatert-rot, sein Frankenstein-Ohr hängt nach unten, sein Gesicht ist aschgrau und voller tiefer Falten. Seit Abis Überdosis ist er um zehn Jahre gealtert.
»Sie hat so schöne Haare«, sagt er barsch. »Vielleicht schneide ich mir eine Strähne ab. Als Erinnerung an mein wunderschönes Mädchen.«
Seine Augen füllen sich mit Tränen, und eine Sekunde lang hat Eli Mitleid mit ihm, bis er Abi sagen hört: »Lass ja nicht zu, dass der Dreckskerl meine Haare nimmt.«
Eli sucht sein schwarzes Heft, das Französisch-Englisch-Wörterbuch und sein zerfleddertes Exemplar von C’est pas moi, je le jure! von der Fensterbank zusammen. Vorhin hat er seiner Schwester ein Kapitel seiner Übersetzung vorgelesen. Er steckt die Sachen in seine Büchertasche und hängt sie sich über die Schulter. Pal sitzt bereits zusammengesunken in dem Sessel, den Eli geräumt hat. Ehe Eli das Zimmer verlässt, dreht er sich zu seinem Vater um und sagt ganz ruhig und unbewegt: »Wenn du ihr auch nur ein einziges Haar abschneidest, rufe ich die Bullen.«
»Es ist dein Liebster«, ruft Juniors Freundin Alyssa. Sie ist Kinderbuchillustratorin und zehn Jahre älter als er. Eli hat sie letzten Sommer kennengelernt, als das mit ihr und Junior gerade erst angefangen hatte und die beiden anlässlich des Jazz-Festivals für ein langes Wochenende nach Montreal geflogen kamen. Eli hatte ihnen sein Bett überlassen und selbst auf der Couch geschlafen und sich die ganzen drei Tage ihres Aufenthalts nach beiden verzehrt.
»He, Bruder, was gibt’s?«, fragt Junior, als er am Apparat ist.
Seit dem Tag von Abis Überdosis hat Eli kein einziges Mal geweint. Was für ein eiskalter, herzloser Bastard er ist. Aber als er Juniors Stimme hört und das Gefühl hat, sein alter Freund sei bei ihm in diesen Krankenhausflur und würde ihn so fest umarmen wie zuletzt auf dem Montrealer Flughafen, bricht Eli zusammen, ohne auf die androiden Ärzte, die androiden Besucher und die androiden Patienten zu achten, die rund um ihn herum ihren Angelegenheiten nachgehen.
»Eli, was ist?«, ruft Junior. »Was ist mit dir, Baby?«
»Ich kann … kann … kann nicht«, japst Eli, der keine Luft bekommt.
»Was ist passiert? Was?«
Elis Beine fühlen sich ganz weich an, deshalb kauert er sich hin und lehnt, den Hörer immer noch ans Ohr geklebt, den Kopf an die kühle Wand.
»Oh Gott, es ist Abi, oder?«, ruft Junior. »Ist sie tot, Eli? Um Himmels willen, sag es mir.«
Eli kann immer noch nicht sprechen. Dabei will er seinem Freund vor allem sagen, dass er in den letzten Tagen begriffen hat, dass manche Dinge schlimmer sind als der Tod.
Die Androiden-Schwester deutet mit dem Finger an die Decke. Sie ist dabei, einen neuen Milchkaffee an der Ernährungsapparatur zu befestigen, und Eli hat gefragt, wie lange ein Mensch ohne Nahrung und Nährstoffe überleben kann. »Das weiß nur der da oben«, sagt sie.
»Meinen Sie Dr. Clooney?«, fragt Eli, allerdings benutzt er den richtigen, Nicht-Hollywood-Namen von Abis Arzt, dessen Büro in einem der oberen Stockwerke des Krankenhauses liegt.
Plötzlich entwickelt die Schwester ein richtiges menschliches Gesicht mit Augen, die ihn mitleidig ansehen. »Nein, Kindchen«, sagt sie sanft. »Ich meine Gott.«
Von ihrem Bett aus sagt Abi: »Gott weiß einen Dreck.«
»Ich will, dass du mir die ganzen grausigen Details verrätst.«
»Kommt nicht in die Tüte.«
»Bitte, ich muss es wissen.«
»Tja, zu dumm, weil ich sie dir nicht verraten werde. Sie wären nicht gut für dich. Du bist viel zu empfindsam, Jones. Du kannst ja nicht mal mit was Türkisfarbenem umgehen.«
»Ich denke, sie zu kennen, würde mir sehr wohl helfen.«
»Du denkst, du wärst weniger wütend, wenn er nur dieses oder jenes gemacht hätte, und wütender, wenn es etwas anderes gewesen wäre? Und wie, denkst du, würde ich mich fühlen, wenn du weniger wütend wärst? Und wenn du wütender wärst und ihm am liebsten die Kehle durchschneiden würdest, würde ich mich auch nicht so besonders fühlen. Ich kann also nur verlieren.«
»Joy sagt, es war keine ›richtige‹ Vergewaltigung.«
»Und wo würde Joy es auf ihrer Skala der schlimmsten Dinge einordnen, die man einem Kind antun kann? Bei sieben? Bei acht? Und wenn es ihrer verdrehten Vorstellung von einer ›richtigen‹ Vergewaltigung entsprochen hätte, hätte sie den Kerl dann verlassen? Das ist das grausige Detail, das ich gern kennen würde.«
Kein Kalorienzählen mehr für Abi Jones. Sobald der Milchkaffee-Hahn abgedreht ist, wird es bis zum Schluss null Kalorien für sie geben.
Joy hat entschieden, die künstliche Ernährung einzustellen (sie war es, die den Anruf getätigt hat, wird Pal immer betonen). Später an diesem Nachmittag wird der Arzt die Sonde aus Abis Magen ziehen wie ein Angler, der eine leere Leine einholt. Eli dankt seiner Mutter für ihre Entscheidung, umarmt sie, nennt sie »Mum«, begleitet sie sogar in die Krankenhaus-Cafeteria und spendiert ihr das Essen.
Sie sitzen ein gutes Stück von den anderen Essensgästen entfernt. Eli hat einen Rosinen-Kleie-Muffin (dreihundertsechzig Kalorien) und einen grünen Salat mit Cherrytomaten, Gurken und drei Oliven, aber ohne Dressing vor sich (einhundertdreißig Kalorien), die Art von Micker-Mahlzeit, die sich Abi wohl zusammengestellt hätte. In der Woche seit dem Überdosis-Tag hat er so viel Gewicht verloren, dass die Chinos ihm von den Hüften rutschen.
Auch Joy hat nie dünner ausgesehen. Ihre Schlüsselbeine ragen vor wie hölzerne Kleiderbügel. Sie hat ihre Pommes mit so viel Salz bestreut, dass man einen vereisten Montrealer Bürgersteig damit auftauen könnte. »Für eine Kool würde ich töten«, sagt sie. »Die zwingen uns Raucher dazu, draußen bei den Müllcontainern zu stehen, als wären wir selbst Müll. Gestern habe ich dort einen alten Kerl im Krankenhausnachthemd getroffen, der lauter nässende Wunden an den Beinen hatte und mit seinem Infusionsdings hingerollert war.« Sie knabbert eine ihrer Pommes. »Zu dumm, dass wir deiner Schwester keine letzte Zigarette geben können. Sogar Häftlinge im Todestrakt bekommen eine.«
»Wir könnten eine Packung Camel, eine Tasse Red-Rose-Tee und eine Flasche Heineken in einen Mixer kippen und einen Shake fabrizieren. Schließlich hat sie jahrelang hauptsächlich davon gelebt. Es wäre wie eine Henkersmahlzeit.«
»Ha!«, lacht Joy.
Wer hätte gedacht, dass er in dieser Situation Witze reißen kann?
»Wir könnten auch noch eine Möhre dazutun, wegen dem Vitamin K«, fügt er lachend hinzu. »Sie hat Möhren geliebt.«
Jetzt würde er am liebsten heulen, weil er die Vergangenheitsform benutzt hat. Er beugt sich über seinen Muffin und zupft die Rosinen heraus wie ein aasfressender Vogel, der einem überfahrenen Tier die Augen auspickt.
»Dein Zimmer in diesem Bed and Breakfast muss einen Haufen Geld kosten«, sagt Joy. »Du könntest genauso gut bei uns in Scarborough wohnen.«
Was für ein hässlicher Name. Scarborough – Narbenbezirk. Er hat genug Narben, wieso welche hinzufügen, indem er im Bungalow der Einheiten übernachtet?
»Das B&B ist okay. Und ganz in der Nähe von Kensington Market, was ich toll finde.« Tut er nicht. Er bewegt sich wie in Trance durch das Viertel, praktisch ohne die Geschäfte und Stände und die Hippie-Atmosphäre wahrzunehmen. Betritt den Naturkostladen, mahlt wie ein Roboter seine eigene Erdnussbutter, löffelt Müsli aus den großen Behältern, sucht Äpfel ohne Druckstellen heraus. Aber das B&B mag er tatsächlich. Er hat das vordere Erdgeschosszimmer in einem hohen Reihenhaus, das einem Ehepaar gehört, das im Souterrain lebt. Obwohl die beiden malayischer Herkunft sind, haben sie das Haus im japanischen Stil eingerichtet. Ein zusammenrollbarer Futon. Eine Tatamimatte. Schränke, in denen er seine Sachen verstecken kann. Kein einziges Staubkörnchen.
»Pal und ich haben Abi eine Wohnung in einem Sozialwohnungsbau in der Nähe von Kensington Market besorgt. Wir haben mit allen möglichen Leuten gesprochen, alle Papiere für sie ausgefüllt. Hat sie dir das erzählt?«
»Nein.«
»Das war letztes Jahr. Aber eines Nachts hat sie sich in irgendwelchen Kneipen betrunken und einen Kerl mit nach Hause genommen. Allerdings hatte sie ihren Schlüssel vergessen, und der Kerl hat die Haustür eingetreten. Die Polizei kam und hat ihn verhaftet, und Abi wurde rausgeschmissen. Sie hatte vielleicht sechs Wochen da gewohnt, als sie vor die Tür gesetzt wurde, und Pal und ich mussten was anderes für sie finden. Wir haben ihr was in Roncesvalles besorgt, ein Haus, ein richtiges Haus, aber dann ist sie einfach abgehauen und zu diesem Indigenen-Mädchen gezogen. Da Pal und ich den Mietvertrag für das Haus unterschrieben hatten, mussten wir einen neuen Mieter dafür finden. Ein einziges großes Chaos, so wie immer.«
»Das wusste ich nicht.«
»Du weißt anscheinend nicht sehr viel.«
»Bitte, Joy, nicht. Nicht jetzt. Nicht heute.«
»Ich habe einen Job an der Essensausgabe vom Frauenhaus für sie gefunden, und Pal eine NA-Gruppe, du weißt schon, eine Gruppe der Anonymen Süchtigen. Okay, sie hat den Job nach ein paar Monaten geschmissen und ist bei den Anonymen Süchtigen ausgestiegen, aber wenigstens haben wir versucht, deiner Schwester zu helfen. Und was hast du gemacht, seit sie aus Montreal weg ist? Nicht viel, außer, dich um dich selbst zu kümmern. Du bist ein Egoist, Eli, das ist alles, was ich damit sagen will. Nichts für ungut.«
Er denkt daran, dass Abi einmal zu ihm gesagt hat, ihre Hauptbeschäftigung sei es, nicht zu sterben. Und dass das ein Vollzeitjob sei. Ist es nicht auch seine Hauptbeschäftigung, Jones-Town zu überleben? Aus seinem Versteck zu kriechen – nicht unbeschadet, aber zumindest lebendig –, nachdem alle den vergifteten Saft getrunken haben?
Joy sagt er nichts von all dem. Er wird nicht ihr pflichtgetreuer Sohn sein, sondern ihr unzuverlässiger Sohn. Er reißt Stücke von seinem Muffin ab, schluckt sie. Trocken und schal sammeln sie sich in seinem Magen wie Staubwülste in einem Staubsauger.
Eine bucklige alte Dame, die sich an ihre Gehhilfe klammert, schiebt sich langsam an ihrem Tisch vorbei.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie einfach, ja?«, schreit Joy.
»Süß von Ihnen«, trillert die alte Dame.
Als sie weggehoppelt ist, wendet Joy sich wieder ihrem Sohn zu: »Gibt es jemanden in deinem Leben?«
Er tut so, als verstehe er nicht.
»Eine Freundin? Oder, möge der Himmel es verhüten, einen Freund?«
Er schüttelt den Kopf.
»Schade. Es ist einfacher, durch die Hölle zu kommen, wenn es jemanden gibt, an den man sich anlehnen kann. Pal und ich, wir haben immer einander.«
Als Eli Abi am nächsten Tag besuchen will, findet er dort Tina in dem braunen Chewbacca-Mantel vor. Sie sitzt am Bett, springt aber auf, als sie Eli sieht. Es ist das erste Mal, dass er sie in Abis Zimmer antrifft. Er und die Einheiten hatten angenommen, dass sie Abi überhaupt nicht besucht.
Sie schlurft auf Eli zu. »Ich hätte nach ihr sehen müssen, bevor ich mich an jenem Abend schlafen gelegt habe. Ich hätte mein Insulin kontrollieren müssen.«
»Wäre es nicht das Insulin gewesen, wäre es etwas anderes gewesen«, sagt Abi. »Sag ihr das, Jones. Und sag ihr, dass ich sie großartig finde.«
»Hass mich bitte nicht«, fleht Tina.
»Ich hasse dich nicht«, sagt Eli. Er hat Abi ein Vierteljahrhundert gekannt, Tina nur ein Vierteljahr. Sie ist keine Jones. Sie hat nur eine Statistenrolle im Film seines und Abis Lebens.
Tina fängt an zu weinen, aber es klingt wie kurze, heftige Hustenstöße.
»Nicht weinen«, sagt er, hört sich aber barsch an, tadelnd.
Tina reibt sich die Augen und zieht den Chewbacca aus. Darunter trägt sie eine abgewetzte Blue Jeans und ein weißes T-Shirt, in dessen Ärmel sie ihre Zigarettenschachtel geklemmt hat. Mit ihren nach hinten gegelten Haaren sieht sie aus wie ein Automechaniker aus den Fünfzigerjahren. Attraktiv. Sie legt den Mantel über Abis Oberkörper und Beine, was aussieht, als sei ein zotteliger Hund aufs Bett gesprungen, um sie zu trösten.
»Spiel nicht die Eiskönigin, Jones. Tröste sie.«
Das tut er nicht. Vielmehr macht er auf dem Absatz kehrt, verlässt das Zimmer und begibt sich auf die Suche nach einem Raum, in den er sich setzen kann. Um ihn herum das Krankenhausleben mit seinen grässlichen Geräuschen und Gerüchen. Ein Schrei gellt durch einen Flur, aber es ist ein Androidenschrei, also bedeutet seine Grässlichkeit ihm absolut gar nichts.
Eine Schwester kommt auf ihn zu, berührt seinen Arm. »Unten im Souterrain gibt es eine kleine Kapelle.« Beim Klang ihrer Stimme geht ihm auf, dass es dieselbe Schwester ist, die an den da oben glaubt. »Da unten ist es ruhig. Vielleicht finden Sie dort ein wenig Frieden.«
Laut Abi hatte Jesus dunkle, dicht geringelte Locken, bräunliche Haut und eine breite Nase und war eher klein. Diesen echten Jesus beschrieb sie in allen Einzelheiten, wann immer die Mormonen von ihrem hochgewachsenen amerikanisierten Jesus mit seinen hellbraunen Flower-Power-Haaren, seiner hellen Haut und seiner schmalen Nase brabbelten. Beruht ihr dunkelhäutiger Jesus auf Tatsachen? Eli hat keine Ahnung. Er ist kein Religionswissenschaftler. Als er noch klein war, hat Abi ihm eingeredet, die vier Bücher des Neuen Testaments stammten von Johannes, Lukas, Markus und Ringo. Später dann, in Salt Lake City, wollte sie, dass Eli, der gut zeichnen konnte, einen dunkelhäutigen Jesus malte, um dann in die Mormonenkirche einzubrechen und ihn gegen das Bild des hellhäutigen Jesus auszutauschen. Diese Erinnerung fällt Eli wieder ein, als er vor dem Jesusgemälde steht, das in der Kapelle hängt. Ein Schild an der Tür verkündet, die Kapelle sei nicht konfessionsgebunden, was zum Teufel also hat dieser weiße Jesus hier zu suchen? Er hat einen Silberblick, genau wie Dr. Clooney, und Eli fragt sich, ob der Arzt das Bild gemalt hat. Er würde es gern abnehmen und mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke stellen, als sei Jesus ein Drittklässler, der dafür bestraft werden soll, dass er zerkaute Papierkügelchen geworfen hat, aber der Prophet scheint an die Wand gedübelt zu sein.
Die Kapelle ähnelt dem Zimmer, in dem der Arzt sie über Abis fast-vegetativen Zustand unterrichtet hat. Keine Holzbänke, sondern die gleichen, mit kratzigem, senfgelbem Stoff bezogenen Couches und Sessel. Trotzdem kommt Eli ab jetzt jeden Tag mit seiner Büchertasche hierher, übersetzt ein paar Seiten von Ich schwöre, ich war’s nicht, geht dann nach oben und liest sie seiner Schwester vor.
Nur sehr selten kommen Leute in die Kapelle, wenn er da ist, und er fängt an, sie als seinen eigenen privaten Ort der Anbetung zu betrachten. Er, ein trauriger, einsamer Priester, der die meisten seiner Schäfchen verloren hat, hat den Einheiten von der Kapelle erzählt, aber bis jetzt waren sie noch nicht da, um zu sehen, was er dort treibt.
Am dritten Tag von Abis Null-Kalorien-Diät geht die Tür quietschend auf und Eli sieht von seiner Arbeit hoch. »Ja, mein Kind, wie kann ich dir helfen«, hört er sich im Kopf sagen, aber das Schäfchen stellt sich als Carol Jones heraus.
Die Einheiten müssen ihm gesagt haben, wo er Eli finden kann. Er und der Pate haben sich nur selten gesehen, seit dieser zu seiner Bekannten nach Toronto gezogen ist, einer Friseurin, die ihn davon abgebracht hat, seine Schmalztolle mit Schuhcreme zu schwärzen. Jetzt ist sie schneeweiß.
Eli steht auf. Der Pate kommt mit ausgebreiteten Armen und über den Boden klappernden Cowboystiefeln auf ihn zu und umarmt ihn so fest wie Junior damals. Es fühlt sich gut an. Der Mann trägt sein übliches Eau de Cologne, Polo von Ralph Lauren, von dem Eli normalerweise Kopfschmerzen bekommt, aber sogar das riecht heute gut.
Er überragt den Paten, sodass der Kopf des Mannes praktisch an der Brust des Jungen liegt. Aber als er sagt: »Wie hältst du dich, mein Junge?«, sinkt Eli auf die Couch und fängt an zu weinen. Der Pate setzt sich neben ihn, nimmt ihn in die Arme, wiegt ihn sanft hin und her, küsst ihn auf den Kopf, sagt »Na, na, na« und »Ist ja gut, ist ja gut« und andere tröstliche Dinge, die ein Vater zu seinem leidenden Kind sagen sollte.
Abis neue Bettnachbarin hat Gebärmutterhalskrebs. Sie ist in den Dreißigern und so kahl wie ein frischgeschlüpftes Küken. Und sie ist eine Kämpferin, jedenfalls wiederholt ihre Familie das immer und immer wieder. »Du bist eine Kämpferin, Heidi«, sagt, oder vielmehr fleht, ihr Vater. »Du hast eine positive Einstellung. Du wirst dieses Ding besiegen.«
Die lauschende Abi sagt dazu: »Wieso wird von den Kranken immer erwartet, Soldaten oder Krieger zu sein? Zum Teufel mit der verdammten Tapferkeit. Sie ist verflucht anstrengend. Sie bringt einen um.«
»Du bist doch selbst ein Sturmtruppler«, erinnert Eli sie.
»Ja, aber einer mit einer negativen Einstellung. Einer, den Darth Vader gleich am Anfang des Films wegen ungebührlichen Verhaltens erwürgt.«
Abi Jones wird nicht mehr genährt, aber sie wird gewässert. »Wie eine Topfpflanze«, sagt sie. Das Wasser wird durch einen Schlauch in ihren Unterarm geleitet. Ihr Wasser vorzuenthalten ist verboten, ihr nichts zu essen zu geben nicht. Wer denkt sich diese absurden Regeln aus? Niemand, der Tag für Tag zusehen muss, wie das Gesicht seiner Schwester einfällt und die Knochen immer deutlicher hervortreten.
»Sie wird in etwa einer Woche sterben«, hat der Arzt gesagt, als die Milchkaffees eingestellt wurden, aber diese Woche kam und ging, und jetzt ist auch die zweite schon fast vorbei.
»Sie ist eine Kämpferin«, sagt der Arzt nun und gibt es auf vorherzusagen, wann Abi kapitulieren wird. Er ist nicht mehr George Clooney, vielmehr wurde er degradiert und spielt jetzt nur noch einen Arzt in einer Fernsehwerbung.
»Sie hatte seit fünfzehn Jahren keine richtige Mahlzeit mehr«, sagt Joy dem Arzt. »Sie ist Hungern gewöhnt. Und sehr gut darin.«
»Widerspenstiges Mädchen«, tadelt Abi sich selbst. »Wieso stirbst du nicht endlich? Und erlöst uns von unserem Elend?«
»Willkommen in meinem Büro«, sagt Eli zu Pal. Es ist Anfang Juli, das Ende der zweiten Hungerwoche. Er bietet seinem Vater die Couch an, auf der der Pate ihn getröstet hat und zieht sich selbst einen Sessel herbei. Das Arrangement ähnelt dem im Sprechzimmer eines Therapeuten.
Pal hat die Hände auf die knochigen Knie gelegt, massiert sie und bedenkt Eli mit einem wohlwollenden Blick. Nicht wie der weiße Jesus, sondern eher wie Mr Rogers aus dem Kinderfernsehen, der einen Schüler aus der Nachbarschaft anstrahlt. Und Eli ist eine Kleinjungenmarionette, die es niemals wagen würde, sich aufsässig zu verhalten.
Er denkt, ich habe kein Rückgrat, denkt er. Und bin zu feige, um die Polizei zu rufen.
»Ich habe dich hierhergebeten, um dich was zu fragen.«
»Ja?« Sein Vater klingt misstrauisch.
Elis Herz dreht sich wie eine Rennmaus im Hamsterrad.
»Wieso, Pal? Wieso hast du es getan?«
Das Es ist ausgesprochen; der Bann ist gebrochen.
Pal schluckt, errötet, sieht zu Boden.
»Du hast sie angerührt, und deine Hände sind immer noch da. Selbst jetzt noch. Ist dir das klar?« Eli versucht, neutral zu sprechen, so wie er sich das bei einem Therapeuten vorstellt. »Sie drücken auf sie herab. Sie sind es, die sie umbringen.« Bei »umbringen« kippt seine Stimme, und er hält inne, um sich zu fassen.
Pal sieht scheu zu ihm hoch.
»Hör zu, bevor wir über Abi reden, gibt es da etwas, was ich dir sagen muss. Etwas, was ich noch keiner Menschenseele erzählt habe. Nicht deiner Mutter. Nicht deiner Schwester. Kann ich dir meine Geschichte erzählen?«
Eli fühlt sich überrumpelt und nickt nur.
»Es ist vor langer Zeit passiert. In Korea.«
Korea – die übliche Entschuldigung.
»Eines Abends waren meine Kumpel und ich in den Außenbezirken von Seoul unterwegs, um was zu trinken. Da drüben gab es nicht viele Gelegenheiten zu trinken, und wenn, dann schlug ich über die Stränge, aber an jenem Abend war ich erst bei meinem ersten oder vielleicht zweiten Bier, als ich aus Versehen einen anderen Typ anrempelte und mit Bier bekleckerte.«
Eli hat keine Ahnung, wie eine Kneipe in Korea während des Krieges ausgesehen haben könnte. Er stellt sich die Feldküche in M*A*S*H vor, alle Anwesenden in khakifarbenen Kampfanzügen.
»Der Typ, groß, muskulös, Amerikaner, lässt es einfach nicht auf sich beruhen, aber mir macht er keine Angst. Er setzt mir immer wieder zu, bis ich schließlich sage: ›Regeln wir das doch draußen.‹ Und wir beide gehen hinten raus auf die Gasse.«
Gassen in Korea? Eli hatte sich einen Dschungel vorgestellt, aber jetzt sieht er eine Gasse in Montreal vor sich: Bremsschwellen, überquellende Mülltonnen, Horden räuberischer Waschbären.
»Wir zwei sind also hinten, meine Kumpel sind noch in der Bar, und ich denke, der Amerikaner und ich werden uns die Seele aus dem Leib prügeln und uns anschließend vertragen und Freunde werden oder so was, denn das ist das Drehbuch, an das ich mich in solchen Situationen immer gehalten habe. Und ich weiß nicht, wieso, bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wieso ich es getan habe, Junge, das schwöre ich, aber der Amerikaner nennt mich einen blöden kanadischen Schwanzlutscher, und ich ziehe ganz ruhig meine Pistole, ich gebe ihm nicht mal Zeit zu reagieren, und jage ihm eine Kugel in den Kopf.«
»Verdammt, Pal!«, sagt Eli. Aber im Hinterkopf denkt er: Es war doch ein Bäcker in Montreal, kein G. I. in Korea, oder?
»Der Typ geht zu Boden, Kugel im Kopf, überall Blut, und ich stehe da, wahrscheinlich unter Schock, und meine beiden Kumpel kommen raus. Sie sehen, was ich getan habe, und es geht los mit: ›Jones, du verdammtes Arschloch‹ und ›Jones dies‹ und ›Jones das‹, und ich schwöre, dass ich sie auch umlege, aber mein einer Kumpel nimmt mir die Pistole weg, und der andere greift sich die des Amerikaners und drückt sie dem Toten in die Hand, damit es so aussieht, als hätte er sich selbst erschossen.«
»Selbstmord«, sagt Eli.
»Selbstmord«, wiederholt Pal. »Irgendwie komme ich damit durch. Irgendwie kommt niemand dahinter. Ich werde an einen anderen Einsatzort verlegt und erfahre nicht einmal, wie der Kerl hieß, den ich getötet, den ich kaltblütig umgebracht habe.«
Er sieht Eli erwartungsvoll an, als könne der Junge eine rationale Erklärung dafür liefern, wieso sein Vater so ein gottverdammtes Arschloch ist, so ein kaltblütiger Mörder.
»Ich muss seitdem mit dieser Erinnerung leben, die mir keine Ruhe lässt. Und es quält mich, das Wissen um das, was ich getan habe. Aber das bleibt unter uns, ja? Du darfst deiner Mutter nichts davon sagen. Versprichst du mir das, Junge?«
Korea war nicht das Thema, um das es bei diesem Gespräch gehen sollte. Eli hat das Gefühl, völlig von der Spur abgekommen zu sein. Trotzdem sagt er: »Ja, ich verspreche es.«
Pal steht auf, bereit, den Beichtstuhl zu verlassen, als hätte er für diesen Tag die volle Punktzahl an Mea Culpas erfüllt.
»Setz dich bitte«, sagt Eli. »Ich will wissen, wie alles anfing. Mit Abi, meine ich.«
Pal setzt sich, den Blick auf den Boden zwischen sich und seinem Sohn gerichtet.
Eli wartet.
Schließlich fängt sein Vater an. »Ich weiß noch, dass ich sie eines Abends ins Bett gebracht habe.« Seine Stimme ist leise geworden, fast ein Flüstern, hat die Großspurigkeit der Korea-Geschichte verloren. »Ich bin neben ihrem Bett. Mein Gott, sie muss dreizehn gewesen sein. Sie liegt da, und meine Hand fängt an, sich auf sie zuzubewegen, und ich …«
Er schlägt die Hände vor die Augen und fängt an zu weinen. Eli sitzt erstarrt da, während das Weinen in Heulen übergeht, das Heulen in Schluchzen.
Die Tür der Kapelle geht auf und eine alte Frau mit der Frisur Königin Elizabeths auf der kanadischen Ein-Dollar-Münze kommt einen Schritt herein, zögert, geht wieder zurück und macht die Tür von außen zu.
Die Unterbrechung hat Pals Weinen beendet. Er schnieft, fährt sich mit dem Handrücken über die Nase. »Kann ich zur Toilette gehen?«, sagt er zu Eli wie ein Kind, das seinen Lehrer um Erlaubnis bittet.
Er geht. Eli rechnet nicht damit, dass er zurückkommt, aber zehn Minuten später ist er wieder da und setzt sich auf denselben Platz. Winzige weiße Partikel haben sich in seinen Bartstoppeln verfangen, als hätte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt und sich mit Toilettenpapier abgetrocknet.
Vielleicht denkt er, dass sein Sohn nun Gnade walten lassen wird, aber Eli sagt: »Sag es mir«, und Pal fängt erneut an zu weinen. Eli lässt ihn und empfindet kein Mitleid, kein Mitgefühl, auch keine Schuld. Krokodilstränen, denkt er.
Schließlich reißt Pal sich zusammen. »Ich kann nicht«, sagt er mit rauer Stimme. »Ich kann nicht.«
Eli seufzt, wirft dem weißen Jesus einen Blick zu. Dann: »Hör zu, Pal, ich habe auch eine Kneipengeschichte, die ich dir erzählen will und die ich noch nie jemandem erzählt habe, nicht einmal Abi. Ich will, dass du da sitzenbleibst und sie dir bis zum Ende anhörst. Wenn ich fertig bin, kannst du aufstehen und gehen. Okay?«
Pal sieht verwirrt aus, sein Gesicht ist wie ein Puzzle, in dem Teile fehlen. Er sagt weder ja noch nein, aber Eli fängt trotzdem mit seiner Geschichte an. »Es gibt da eine Bar in Mile End, in die ich öfter gehe«, sagt er. »Sie heißt Le Renard, der Fuchs. Sie liegt in der St. Laurent und ist ziemlich neu, von daher wirst du sie nicht kennen. Ich treffe mich dort mit Caroline, der Tochter von Carol Jones. Und manchmal, nicht immer, gehen wir anschließend zu ihr und schlafen miteinander.«
Pals Verwirrung verwandelt sich in Neugier, und Eli erinnert sich, dass er einmal gesagt hat, dass es keine Rolle spielt, mit wem man vögelt.
»Eines Abends warte ich im Le Renard auf Caroline, aber sie kommt nicht. Sie hat mich versetzt. Sie versetzt mich oft, weil sie einen festen Freund hat und ich in ihren Augen nur ein Kind bin. Jedenfalls bleibe ich noch, um meinen Wein zu Ende zu trinken, und der Barkeeper kommt mit einem zweiten Glas zu mir und sagt, ein anderer Gast hätte es mir spendiert, und er deutet mit dem Kopf auf die Theke, und da – keine Ahnung, wieso er mir vorher nicht aufgefallen war – sitzt Bill, sitzt Falschgeld.«
Pal rutscht unruhig auf seinem Platz hin und her.
»Ich hebe mein Glas, und er kommt rüber und setzt sich. Wir reden über dies und das. Er sagt, dass er die Stadt verlässt und durch Europa reisen will. Dass er vor allem Berlin schon immer sehen wollte, weil es so cool ist, weil die Musikszene so abgefahren ist, und so weiter und so fort. Er redet und redet und redet, und irgendwann unterbreche ich seinen Monolog. ›Kann ich dich um einen Gefallen bitten, Bill?‹, frage ich, und er sieht mich misstrauisch an und sagt: ›Kommt drauf an‹, und ich sage: ›Würdest du mich ficken?‹«
Pals Augen fangen ein bisschen an zu schielen.
»Weil ich noch nie gefickt worden war. Ich hatte andere gefickt, war der Ficker gewesen, aber noch nie der Gefickte, und das sagte ich zu Bill, sagte, dass er sicher weiß, was er tut und mir nicht wehtun wird.«
»Hör auf!«, ruft Pal in demselben tadelnden Ton wie früher, wenn Eli während langer Fahrten im Rambler von hinten gegen die Rückseite des Fahrersitzes trat.
Eli sieht ihn herausfordernd an.
Pal steht auf, um zu gehen.
Eli steht auch auf.
»Du setzt dich wieder und hörst dir meine verdammte Geschichte an, so wie ich mir deine angehört habe!«
Pal starrt seinen Sohn an, seine Nasenflügel beben, und Eli denkt, dass sein Vater ihn nach all den Jahren noch einmal schlagen wird, aber das tut er nicht. Er setzt sich und starrt den Boden an.
Eli setzt sich auch und fährt fort: »Wir gehen also in Bills Loft, und ich bin furchtbar nervös. Er reißt sich die Klamotten in ungefähr zwei Sekunden vom Leib. Er ist eins fünfundneunzig groß, wirkt nackt aber wie zwei zwanzig, und die tätowierte Schlange auf seiner Brust sieht aus, als würde sie jeden Augenblick Gift verspritzen. Ich lege meine Sachen ab, als wäre ich beim Arzt und müsste mich untersuchen lassen.«
Pal beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände, sodass die Fingerspitzen seine Augen verdecken. Genauso saß Eli vor vielen Jahren in einem Kino, als Abi ihn in Der Exorzist reingeschmuggelt hatte.
»Bill gibt mir eine Tube Gleitgel und sagt, ich soll eine Menge benutzen, das sei der Trick. Er hat schon einen Ständer, und zieht sich ohne zu fragen ein Kondom über, was ich gut finde. Ich lege mich auf den Bauch, aber er will, dass ich mich umdrehe, Gesicht zu Gesicht, doch ich will sein Gesicht nicht sehen. Weißt du wieso?«
Pal antwortet nicht.
»Weil er aussieht wie du. Jedenfalls tut das Ficken nicht besonders weh, also weiß Bill offenbar tatsächlich, was er tut. Ich kriege auch einen Ständer, was mich überrascht, weil mir nämlich die ganze Zeit ›Je me déteste, je me déteste‹ durch den Kopf geht. Er fickt genau wie er redet, es dauert und dauert, und er ist schon ganz verschwitzt und riecht wie eine Mischung aus Pomade und Poutine. Damit er schneller kommt, fange ich an, leise zu stöhnen, was funktioniert, denn er fängt an, richtig laut zu stöhnen, fast zu jaulen, und am ganzen Leib zu zittern, und endlich kommt er, und ich bin erleichtert, dass es vorbei ist und ich es überlebt habe.«
Pal wiegt sich auf seinem Platz leise vor und zurück, die Hände immer noch vor dem Gesicht.
»Weißt du, was er als Nächstes macht? Genau das musst du dir anhören. Das letzte grausige Detail. Der ganze verfluchte Sinn meiner Geschichte.«
Pals Tränen laufen an seinen Unterarmen entlang in Richtung seiner Ellbogen, aber er gibt keinen Laut von sich.
»Bill legt sich quer über meinen Rücken, knabbert an meinem Ohrläppchen und flüstert mir ins Ohr: ›Du bist ein guter Junge. Du bist wie Pal!‹«
Pal fährt sich über die Augen, wischt sich den Rotz von der Nase, vermeidet es, Eli anzusehen, und als er es tut, blinzelt er, als sei sein Sohn die Sonne. »Ich dachte, du bist ein guter Mensch«, murmelt er mit verschleimter Stimme. »Ich dachte, du bist so, wie ich gern wäre. Aber du bist kalt, Eli. Und du bist wirklich fies.«
»Ja, ich bin ein Arschloch. Ein echtes Arschloch. Muss genetisch sein.«
Pal steht auf, flieht, hetzt aus der Kapelle wie ein Mann, der in Flammen steht.
Eli lehnt sich in seinem Sessel zurück und starrt die Wand an, starrt den weißen Jesus an. Der weiße Jesus starrt zurück, nicht mehr wohlwollend, sondern skeptisch, vorwurfsvoll.
»Lügner«, faucht Jesus.
»Was weißt du denn schon?«, sagt Eli. »Du weißt einen Scheißdreck.«
Das Schwarzweißfoto, das Eli mit der Bildseite nach unten auf dem Boden von Abis Krankenhauszimmer findet, zeigt seine Schwester im Alter von sieben Jahren in ihrem Ballerinakleidchen. Wie ist das Foto dorthin gekommen? Nun, Joy war vorhin da, und während ihrer Schicht muss sie die alten Fotoalben durchgeblättert haben. Eli kann sich seine Mutter sehr gut vorstellen: Stirn gerunzelt, grimmiges Lächeln. Tränen in den Augen? Wahrscheinlich. Das kann er ihr wirklich zugutehalten. Und er kann sich ihre billigen kleinen Alben vorstellen, jedes in einem anderen Kmart quer durch den Kontinent gekauft, jedes beschriftet mit dem Namen einer anderen Stadt, einer anderen Region, in der die Jones gelebt haben: Middlesex County, Verdun, Salt Lake City, Cook County undsoweiter.
Das Foto, das er vom Boden aufhebt, muss unbemerkt aus dem Album gerutscht sein. Auf ihm trägt Abi ein kurzärmeliges weißes Tutu-Kleid, dessen Röckchen beim Drehen mitschwingt. Ein breites weißes Haarband hält ihre weißblonden Haare aus dem Gesicht. Ihr Pony ist schief, weil Joy ihn mit der Küchenschere geschnitten hat, so wie sie es auch bei Elis Pony immer getan hat. Abi steht in Ballerina-Pose da, einen Arm über den Kopf gehoben, den anderen leicht seitlich ausgestreckt. In ihren glänzenden Ballerina-Schühchen steht sie auf Zehenspitzen auf dem Wohnzimmerteppich und lächelt ein verschmitztes kleines Lächeln, kein breites Feixen, das die Zähne sehen lässt. Sie sieht aus wie ein kleines Mädchen, das gern zum Ballettunterricht geht, nicht wie eins, das Bauchschmerzen vortäuscht, um nicht hingehen zu müssen.
Eli zeigt ihr das Foto: »Ach du meine Güte«, sagt sie. »Ist sie nicht das Süßeste, was du je gesehen hast?«
»Ja, ist sie.«
»Was ist aus der Kleinen geworden? Lebte sie glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende?«
Eli steckt das Foto in das schwarze Spiralheft in seiner Büchertasche. Dann nimmt er die Wattebäusche und die Cetaphil-Sachen vom Fensterbrett. Wenn er ihr nicht jeden Tag das Gesicht wäscht, nimmt es einen fettigen Schimmer an und riecht nach Dosensuppe. Nachdem er die Reinigungslotion abgewischt hat, trägt er etwas Feuchtigkeitscreme auf, einen erbsengroßen Klecks, so wie sie es ihm beigebracht hat.
Ihre Lippen sind spröde, schuppig und rissig. Sie hat in ihrem ganzen Leben nie Lippenstift getragen, war aber süchtig nach Fettstiften und hat die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gesammelt. Als sie mit dem Rambler quer durch Amerika gefahren sind, von Massachusetts nach Utah, musste Eli ihr in jedem Staat, in dem sie anhielten, Fettstifte klauen. Jetzt zieht er eine Tube Lippenpflegecreme aus der Tasche, die er im Shoppers Drug Mart hat mitgehen lassen. Mit Traubensaftgeschmack, den sie am liebsten hatte. Er tupft ihn auf ihre Lippen.
»Merci beaucoup, cher«, sagt sie.
»De rien, chère«, antwortet er. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun. Ich wünschte bei Gott, ich hätte mehr getan.«
»Hör zu, du hast mehr als genug getan. Ich finde, es wird für dich Zeit, nach Hause zu fahren. Nicht in dein B&B, sondern in dein richtiges Zuhause. Du musst nicht bis zum grausigen Finale, der Mumie in Norman Bates’ Keller, ausharren. Wenn du dich an mich erinnerst, dann mit taufrischem Teint und Cetaphil-Pflegestift-schimmernden Lippen.«
Er beugt sich vor, küsst ihre Stirn. »Merci«, sagt er.
Zurück in Montreal holt er seine Post beim Hausmeister ab. Darunter befindet sich ein Polsterumschlag ohne Absender. Er weiß, was drin ist, Abi schickt ihm jedes Jahr das gleiche Geschenk, aber dieses Mal muss sie es Wochen vorher losgeschickt haben, vor ihrer zweiten Dosis doppelt gefüllter Pop-Tarts. An seinem Schreibtisch, vor seinem Macintosh, reißt er den Umschlag auf und zieht das gebundene Schreibheft hervor. Quelle surprise: Anders als sonst ist es nicht schwarz, sondern türkis. Er blättert es durch, aber sie hat ihm keine letzte Nachricht oder Notiz hinterlassen. Die Seiten sind leer.
Eine Woche später, an seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, einem weiteren sonnigen sechzehnten Juli, steht er früh auf und joggt über den Friedhof auf dem Mount Royal. Eine Weile hält er inne, wandert verschwitzt durch die Reihen der Grabsteine. Als Kinder sind die Geschwister bei Besuchen in Montreal oft hierhergekommen und haben Ausschau nach Toten mit komischen Namen gehalten (Harriet Dickmann, Mitchell Fuurtz), oder nach welchen mit ihrem eigenen Familiennamen (tatsächlich liegt ein Jim Jones hier begraben).
An diesem Morgen findet Eli ein Familiengrab, auf dessen Stein der Name in Sans-Serif-Großbuchstaben eingraviert ist: CANTLIE, übersetzt: KANN NICHT LÜGEN oder auch KANN NICHT LIEGEN. »Doch, könnt ihr«, sagt Eli zu der Familie. »Ihr liegt schließlich hier!«
Eine halbe Stunde später, auf einem schmalen Lehmweg in der Nähe des Friedhofseingangs, schon auf dem Weg nach Hause, kommt ein Tier auf ihn zugetrottet. Es ist ein kleiner, kastanienbrauner Hund, eine Promenadenmischung mit langen Ohren, vielleicht ein Streuner, aber Elis Augen spielen ihm einen Streich, verwandeln den Hund für ein oder zwei Sekunden in einen Fuchs. Eli gibt den Pfad frei und bleibt im Gras daneben stehen. Als der Hund-Fuchs an ihm vorbeiläuft, dreht er den Kopf und nickt ihm grüßend zu.
Wieder in der Wohnung macht sich Eli einen Bananenshake in seinem Mixer, toastet einen Bagel, kippt Müsli in eine Schale (alles in allem sechshundertsiebzig Kalorien). Während er sein Frühstück isst, klingelt das Telefon. Einen Bissen Bagel im Mund, greift er nach dem Hörer.
»Eli«, sagt Joy.
Seine Mutter ruft nur an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, lügt er sich selbst vor.
»Abi ist tot«, sagt Joy. »Sie ist heute Morgen von uns gegangen.«