Outremont, Montreal

Das Les Enfants horribles ist das Lieblingscafé der Geschwister in der Nähe ihrer neuen Wohnung. Der Name passt, schließlich hat Joy immer behauptet, sie seien schreckliche Kinder. An den Wänden des Cafés hängen verschiedene Porträts: die unheimlichen, Guillotine-vernarrten Geschwister Wednesday und Pugsley aus der Addams-Family; die verzogenen, unerträglichen Kinder, die Willy Wonkas Schokoladenfabrik besichtigen; und die makabren Zeichnungen Edward Goreys, darunter eine vom kleinen Harold Snodleigh, der einen Maulwurf mit einem Stein totschlägt.

An einem Spätsommertag Anfang Oktober, als Eli zum Frühstücken in dieses Café geht, erscheint ihm der Name besonders passend zu Ich schwöre, ich war’s nicht und dessen liebenswertem, allerdings möglicherweise geistesgestörten sechsjährigen Erzähler und Lügengeschichtenverbreiter, Léon Doré. Eli hat ein Exemplar des Romans dabei, ein Exemplar seiner ersten veröffentlichten Übersetzung eines ganzen Buchs, die gerade von einem kleinen Montrealer Verlag namens Véhicule auf den Markt gebracht wurde. Auf dem Einband ist das Polaroid-Foto eines spitzbübischen kleinen Jungen zu sehen, der einen gestreiften Gummiball auf dem Kopf balanciert. Eli hat das Buch mitgebracht, um es zu bewundern. In seinem ganzen achtundzwanzigjährigen Leben hat ihn noch nichts stolzer gemacht.

In seiner üblichen Aufmachung bestehend aus Chinos, Sweatshirt und Doc Martens sitzt Eli an einem Tisch für vier, die Tragetasche über die Lehne seines Stuhls gehängt. Auf dem Tisch hat er seine Sachen ausgebreitet: den Roman, ein schwarzes Notizheft, sein Französisch-Englisches Wörterbuch und ein Manuskript über Kometen und Asteroiden, das er im Auftrag des Montrealer Planetariums übersetzen soll. Außerdem liegt eine blecherne Brotdose für Kinder auf dem Tisch, bedruckt mit einer New Yorker U-Bahn-Karte, auf der die unterschiedlichen Linien in einem ganzen Spektrum von Farben abgebildet sind. Eli stellt sich gerne vor, dass man ihn in seiner Nachbarschaft für eine Art exzentrischen New Yorker Künstler à la Edward Gorey hält, der seine Stifte in dieser Dose mit sich herumträgt.

»Wie fühlt es sich an, das Buch in Händen zu halten?«, fragt Abi.

»Ziemlich gut.«

»Es fühlt sich verflixt fantastisch an. Gib es zu. Lass die falsche Bescheidenheit. Wirst du es den Einheiten sagen?«

»Nein, das würde alles verderben.«

Er spricht nur selten mit Pal und Joy. Das letzte Mal hat er sie auf der Sommerhochzeit von Caroline Jones in Montreal gesehen – eine kurze, unangenehme Begegnung. Caroline hat nicht den Flickschuster geheiratet, sondern einen Schauspieler, der in einer Polizeiserie ihren Partner spielt, und der Pate hat in seiner Hochzeitsansprache gewitzelt, sollte Revier 16 je abgesetzt werden, würde die Ehe seiner Tochter automatisch annulliert werden.

Die Kellnerin kommt, um Elis Bestellung aufzunehmen: Haferflocken ohne Milch und ohne alles, Vollkorntoast, keine Butter, ein Kännchen Pfefferminztee. Er hat Milchprodukte aus seiner Ernährung gestrichen und meidet Zucker, Salz und Öl. Sogar den Wein hat er aufgegeben. Pinot Noir ist sowieso nicht mehr das Wundermittel, das seine Wut dämpft und seine Wehwehchen heilt. Er hat etwas Besseres gefunden: intensives tägliches Training. Er sprintet den Berg hinauf, schwimmt endlose Bahnen im YMCA, hebt in einer Halle Gewichte. Ironischerweise verspürt er jetzt, wo er Arm- und Beinmuskeln aus Stahl hat, kaum noch das Bedürfnis, um sich zu schlagen und zu treten.

Sein Tisch steht am Fenster zur Straße. Draußen schiebt eine chassidische Mutter mit schief sitzender Pagenkopfperücke einen Zwillingsbuggy mit zwei kleinen Jungen über den Bürgersteig. Ob diese Brüder, die vielleicht zwei Jahre alt sind, bereits den Kopf des jeweils anderen bewohnen?

Auf der anderen Seite der Bernard Street steht das Théâtre Outremont, an dessen Artdéco-Fassade eine Pinot-Noir-farbene Weinrebe emporrankt. In einem der Fenster lächelt ein zahnlückiger Kürbiskopf aus Papier teuflisch vor sich hin, und Eli sagt zu Abi: »Weißt du noch, wie wir in Middlesex an Halloween als Karen und Richard Carpenter gegangen sind?«

Damals waren sie beide ganz normal gekleidet, und wenn jemand fragte, wen sie denn darstellten, sangen sie misstönend irgendwelche Hits der Carpenters.

Mit hauchiger Stimme singt Abi jetzt ein paar Zeilen aus »I Won’t Last a Day Without You«.

Die Kellnerin bringt seine Bestellung. Während er isst und seinen Tee trinkt, überfliegt er das Planetarium-Manuskript und unterstreicht Begriffe, die er heraussuchen muss. Mitten in einer Passage über den Halleyschen Kometen sagt eine Stimme: »Élie?«

Er sieht hoch.

Eine dunkelhaarige Frau in einem voluminösen, locker von einem Gürtel gehaltenen Pullover. Unfassbar! Es ist Mademoiselle Sophie Gagnon. Auf dem Gesicht ein Lächeln, das Grübchen in ihre Wangen zaubert, steht sie an seinem Tisch. »Mon dieu«, sagt sie. »Ça fait des lustres.«

»Ja, es ist Kronleuchter her«, übersetzt er den französischen Ausdruck für »lange nicht gesehen« wortwörtlich und springt auf. Und sie küssen sich auf die Wangen wie vor vielen Kronleuchtern in ihrem Auto in Chicago.

»Ich habe mich immer gefragt, was wohl aus Eli Jones geworden ist«, sagt sie. »Und hier ist er, erwachsen, und nur einen Katzensprung von dem Haus entfernt, in dem ich aufgewachsen bin.«

Seine frühere Französischlehrerin sieht mehr oder weniger genauso aus wie an dem Tag, an dem er sie das letzte Mal gesehen hat, damals, als sie ungefähr so alt war wie er jetzt. Einen Unterschied gibt es: Eine kleine Stelle an ihrer Schläfe ist vorzeitig grau geworden, sie hat dort jetzt eine helle Strähne, ähnlich wie bei einem Stinktier, was er unglaublich schön findet.

Sie fragt, ob sie sich zu ihm setzen kann, bis ihr Essen zum Mitnehmen fertig ist. Er schiebt Wörterbuch und Brotdose beiseite und denkt, als sie sich setzt: C’est pas possible. C’est incroyable. J’en reviens pas. Mademoiselle Sophie Gagnon in seinem Lieblingscafé! Ist heute sein Glückstag oder was?

Er fängt an, sie nach ihrem Leben auszufragen – auf Französisch, um ihr zu zeigen, dass er die Sprache inzwischen beherrscht. Sophie Gagnon sagt, dass sie ihre Eltern besucht, die immer noch in dem Haus in der Nähe wohnen. Vor sechs Jahren ist sie von Chicago nach Paris gezogen, wo sie Lycée-Schülern Englisch beibringt, statt wie früher amerikanischen Kindern Französisch. Und dass sie gerade ein Sabbatjahr nimmt. Sie ist mit einem Franzosen, Loïc, verheiratet, der für die UNESCO arbeitet, und sie haben eine vierjährige Tochter, Charlotte, benannt nach der Tochter ihres Lieblingssängers, Serge Gainsbourg.

Ihr Französisch klingt pariserischer als früher, ihre Vokale sind kürzer, ihre t’s abgehackter. »Que’est-ce que tu fais dans la vie, Élie?«, will sie wissen, was er dieser Tage so treibt, und er reicht ihr das Exemplar von Ich schwöre, ich war’s nicht. Er habe das Buch übersetzt, erklärt er und fügt hinzu, dass es der einzige Roman ist, den er bisher übersetzt hat, er aber hofft, weitere Aufträge zu bekommen.

Sophie blättert darin herum und sagt, sie glaube, sie habe schon von dem Autor, Bruno Hébert, gehört.

»Tu peux le garder«, schenkt er ihr das Buch, er habe noch weitere Exemplare.

»Je suis fière de toi.«

Dass Mademoiselle Sophie Gagnon stolz auf ihn ist, lässt Eli erröten. Er trinkt einen Schluck Tee. Was ist das für ein seltsames Gefühl in seiner Brust? Herzrasen? Glück? Womöglich Letzteres.

Er erklärt ihr, wie überrascht er ist, dass sie ihn erkannt hat. Schließlich ist er inzwischen un homme, kein garçon mehr. Und seine Haare sind jetzt schulterlang.

Die langen Haare, sagt Sophie, vergrößerten die Ähnlichkeit zu seiner Schwester. »Ta sœur s’appelle comment déjà?«

»Abigail. Kurz Abi.«

Abi habe ihr damals in Chicago erzählt, dass er nach Montreal zurückgegangen sei, um sein Französisch zu verbessern. »Ist sie inzwischen auch in Montreal?«

Eli wirft einen Blick auf die Brotdose. »Non, non, elle est à New York.« Er spielt mit dem Gedanken, sie als Dermatologin in der Upper East Side auszugeben, sagt aber stattdessen, dass sie als Künstlerin in Hell’s Kitchen lebt.

»Quel genre d’artiste?«

Sie sei Fotografin. Letztes Jahr habe sie das ganze Land bereist und Frauen aufgespürt, die denselben Namen haben wie sie, um sie zu fotografieren. Eine Galerie in Chelsea habe gerade ihre Fotos von siebenundvierzig Abigail Jones ausgestellt. Einige der Abis seien sogar zur Eröffnung dagewesen. Er natürlich auch. Es sei ein großer Erfolg gewesen.

»Mais c’est dingue«, sagt Sophie.

»Ja, absoluter Wahnsinn«, bestätigt Eli, der stolz auf seine Geschichte ist. Aber auch voller Bedauern, weil er seiner Schwester die Nikon, die er für sie gekauft hatte, nie gegeben hat. Noch heute, Jahre später, steht die Schachtel ungeöffnet in seinem Schrank.

Die Kellnerin kommt mit einer großen Papiertüte mit Sophies Bestellung, und Sophie sagt, dass sie gehen muss, dass ihre Familie auf das Essen wartet. »Je peux avoir une dédicace?«, fragt sie und reicht Eli den Roman, damit er ihn signieren kann.

Auf die Seite mit »Aus dem Französischen übersetzt von Eli Jones« schreibt er, dass er ihr dafür dankt, dass sie ihm geholfen hat, von »Eli« zu »Élie« zu werden.

Sie bittet ihn, ihr auch seine Adresse zu notieren, damit sie ihm schreiben kann, wenn sie das Buch gelesen hat. Ihm seine Note schicken kann, scherzt sie, ohne seine alte Fixierung auf Zweien zu erwähnen. Was würde er sagen, falls sie es täte? Dass seine verrückten Besessenheiten ihn davor bewahren, wirklich verrückt zu werden?

Sie stehen auf und umarmen sich.

»Au revoir.«

Mademoiselle Sophie Gagnon verlässt das Café mit ihrer Essenstüte. Eli Jones setzt sich wieder und beobachtet, wie seine erste Liebe die Bernard Street hinaufgeht und verschwindet. Als sie nicht mehr zu sehen ist, schenkt er sich noch etwas Pfefferminztee ein und lässt, als kleine Belohnung an seinem Glückstag, einen Würfel Zucker hineinfallen.

»Namensschwestern«, sagt seine Schwester. »So sollte die Fotoausstellung heißen, die ich machen wollte. Vielleicht mit dem Untertitel Variationen über Abigail Jones. Ich hatte die Idee schon mit dreizehn, aber damals habe ich niemandem was davon gesagt.«

Die New-York-Dose enthält keinen Künstlerbedarf, sondern einen Plastikbeutel mit Abis Asche, ihre letzte Variation.

»Du hattest schon immer viel Fantasie«, sagt er zu seiner Schwester, »für ein so schreckliches Kind.«