Manhattan, New York

Belvedere Castle, dessen Aussichtsplattformen einen ausgezeichneten Blick über den Central Park bieten, erhebt sich auf einem Felsen. Von da, wo Eli neben Junior und Alyssa am Ufer des Turtle Pond steht, kann er das Schloss sehen, dieses pseudo-mittelalterliche Bauwerk, dessen Teile sich allesamt, einschließlich der amerikanischen Flagge, die vom Turm weht, im Wasser des Teichs spiegeln.

»Dieses Schloss ist ein sogenanntes »Folly«, sagt Alyssa, die aussieht wie jemand, der sich über den eigenen inneren Monolog amüsiert. »Also eine ›Narretei‹, ein absolut sinnfreies Gebilde. Jedenfalls sind damit kunstvolle Bauwerke gemeint, die keinem wirklichen Zweck dienen und einfach nur schön aussehen sollen. Von daher ist es vielleicht närrisch, sie auch nur zu bauen.«

»Vielleicht ist das, was ich tue, auch närrisch«, sagt Eli.

»Das ist es nicht«, widerspricht Junior. »Es ist wunderschön.« Er trägt immer noch die Schildpattbrille, was sehr passend ist, da sie am Turtle Pond mit seinen Schildkröten eine Mission zu erfüllen haben.

Eli beobachtet, wie das Schloss sich im grünen Wasser kräuselt, als ein Ententrio vorbeischwimmt. Die Kolben des Schilfs am Ufer sehen aus wie Würstchen im Maisteigmantel. Als er seinem Freund und seiner Freundin von seinem Vorhaben erzählt hat, Abis Asche überall in Manhattan zu verstreuen, schlug Alyssa vor, als Erstes hierher zu kommen. Sie war eine Woche vorher hier gewesen, um für ein Kinderbuch, Schildkrötensuppe, das sie gerade illustriert, Skizzen von Dosenschildkröten zu machen.

Als die drei etwas näher an das betonierte Ufer des künstlich angelegten Teichs herangehen, kommen ein halbes Dutzend Schildkröten auf sie zu, paddeln gemächlich durch das suppendicke Wasser. Ihre Panzer sind so groß wie Dessertschalen. Ein leuchtend orange-roter Streifen verläuft von jedem ihrer Augen zum Halsansatz, als weinten sie feurige Tränen.

»Sie denken, wir wollen sie füttern«, sagt Junior, als die Schildkröten ihnen die Hälse entgegenrecken.

Eli bückt sich, stellt die schwarze Brotdose ins Gras, öffnet die Schließen und nimmt den Deckel ab. Am Abend hat er die Asche aus dem ursprünglichen Plastikbeutel in einen großen Zipperbeutel umgefüllt, den er jetzt öffnet. Er greift hinein. Die Asche fühlt sich ein bisschen grobkörnig an, wie Maismehl. Er holt eine kleine Handvoll hervor und sieht sich um. Ein paar Meter weiter hat eine junge Mutter einen Buggy näher ans Wasser geschoben, damit ihr kleines Mädchen die Schildkröten besser sehen kann.

»Verstoße ich gegen irgendein Gesetz?«, fragt Eli seinen Freund.

»Wen interessiert das schon?«, antwortet Junior.

»Sollte es nicht gerade dich interessieren? Schließlich bist du Anwalt.«

»Für Familienrecht. Und ich rate dir, das hier um deiner Familie willen zu tun.«

»Und ich rate dir, es um deinetwillen zu tun«, sagt Alyssa.

Eli fängt an, die Asche am Rand des Teichs zu verstreuen. Einige Partikel schwimmen, andere gehen unter. Schildkröten schnappen sich Stückchen von Abi. Einige spucken sie wieder aus, andere schlucken sie. Den Rest der Handvoll Asche schleudert Eli weiter weg in den Teich, was weitere Schildkröten und eine Stockente anlockt, die Abi bewohnen kann.

Junior legt Eli die Hand auf die Schulter. »Wir sehen uns, Schwester«, sagt er.

»Ruhe in Frieden«, sagt Alyssa.

»Unruhe in Frieden«, sagt Eli.

»Ha!«, macht Abi.

Die Wohnung in Hell’s Kitchen ähnelt der, die die Geschwister sich erträumten. Sie liegt in einem fünfstöckigen Gebäude in der West Forty-eigth Street, über dessen Fassade sich eine Feuertreppe aus Metall zieht. Der Bürgersteig davor schimmert fettig, als hätte jemand ihn mit Öl eingesprüht. Als Eli mit seinem Koffer darauf zugeht, sieht er drei Ratten, die um die davorstehenden Mülltonnen herumhuschen. Entfernte Verwandte von Barney und Bernice, denkt er.

Im Gebäude riecht es nach gekochtem Reis, die Beleuchtung gehört zu der fluoreszierenden Sorte, die blasse Gesichter wie das von Eli noch blasser aussehen lässt. Im vierten Stock steckt er den Schlüssel in die Tür und betritt einen schmalen, vollgestellten Flur, der direkt in eine Küche mit einer freigelegten Backsteinwand führt, an der ein Metallgestell mit eingebeulten Töpfen und Pfannen hängt. Dutzende Gläser mit Kräutern und Gewürzen stehen auf dem Küchentisch, als würde niemand ihn je benutzen, um daran zu essen. Ein kleines Fenster, das auf einen Lichtschacht hinausführt, beherbergt eine Klimaanlage.

Eine hölzerne Schiebetür mit Milchglasscheibe trennt die Küche vom Wohnzimmer, in dem sich überall Bücher stapeln. Es gibt einen Kamin, der aber nicht funktioniert, auch in ihm sind aufgestapelte Bücher untergebracht. Auf dem Kaminsims stehen Tierfiguren aus Plastik – ein Gürteltier, ein Känguru, ein Nilpferd, ein Panda, eine Giraffe. Bedauerlicherweise kein Fuchs, und Eli ärgert sich über sich selbst, weil er Nannys kleinen Red-Rose-Keramikfuchs nicht mitgebracht hat. Er öffnet den Reißverschluss seines Koffers, holt die Brotdose hervor und stellt sie zu dem Zoo auf den Kaminsims.

Nachdem er zwei Tage auf Juniors und Alyssas Couch geschlafen hat, haben sie ihm diese Wohnung angeboten. »Nicht um dich loszuwerden, Bruder«, sagte Junior. »Aber vielleicht wärst du lieber richtig mitten in Manhattan, da das Abis Traum war.«

Die Wohnung gehört Alyssas Freundin Kate, die den Sommer über in der Türkei unterrichtet und Alyssa gesagt hat, sie könne die Wohnung nötigenfalls benutzen. »Jetzt ist nötigenfalls«, meinte Alyssa.

Diese Kate scheint eine Sammlerin zu sein, denkt Eli, als er die Wohnung erkundet. Im Schlafzimmer sitzen drei fadenscheinige Teddys nebeneinander auf dem Doppelbett. Im Badezimmer beherbergt der Rand der Wanne ein Dutzend Shampoo- und Conditionerflaschen, wie ein Regal in einer Drogerie. In der Küche quellen die Schränke über vor Aufbackschalen aus Aluminium, leeren Joghurtbechern, ausgewaschenen Erdnussbuttergläsern. Der begehbare Schrank im Flur platzt fast vor weiteren Büchern, Pappschachteln, dicken Aktenmappenstapeln, einer Hängeregistratur, einem Wust von Kleidungsstücken.

Abi hätte sich sofort in diese Wohnung verliebt. Eli geht zurück in die Küche, kramt in der Besteckschublade herum, findet einen Kaffeemesslöffel aus Edelstahl, geht damit zum Kaminsims und klappt die Brotdose auf. Er füllt den Messlöffel halb mit Asche und trägt ihn zu dem begehbaren Flurschrank, quetscht sich hinein und verstreut die Asche hinter der Hängeregistratur, wo mit ziemlicher Sicherheit nie ein Staubsauger hingelangen wird.

»Jetzt wirst auch du für immer hier sein«, sagt er.

Diese Wohnung in Hell’s Kitchen ist der einzige Innenraum, in dem er die Asche seiner Schwester platziert. Alle anderen Orte sind im Freien. In den folgenden Tagen verstreut er Stückchen von Abi auf Unmengen von Bürgersteigen. Vor dem berühmten gegiebelten Dakota-Building in der Upper West Side, wo die Außenaufnahmen für Rosemaries Baby gefilmt wurden. Vor dem sechzehn Stockwerke hohen Backsteingebäude in der Park Avenue, in dem J. D. Salinger aufwuchs. Vor dem hohen, schmalen, mit Terrakotta-Ornamenten verzierten Decker Building, in dem Andy Warhol seine zweite Factory eröffnete. Vor dem Chelsea Hotel mit seinen schmiedeeisernen Balkonen, vor dem Guggenheim mit seiner Toilettenschüssel-Architektur. Vor einem bienenstockartigen Gebäude im West Village, Westbeth Artists Housing, wo Diane Arbus Selbstmord beging. Und vor der 57 Great Jones Street in NoHo, North of Houston Street, einem gedrungenen, zweistöckigen Gebäude mit halbmondförmigen Fenstern, wo Jean-Michel Basquiat an einer Überdosis Heroin starb.

Auf den Bürgersteigen vor dem Strand Bookstore, der Hafenbehörde, dem MoMA, dem CBGB, dem Flatiron Building. Und in Parks: dem Washington Square Park, dem Christopher Park, dem Riverside Park, dem Tompkins Square Park. Sogar ein paar Schritte entfernt von einem Obdachlosen in Harlem, einem Jones, der auf einem zusammengedrückten Pappkarton sitzt und dessen Kleidung mit Jackson-Pollock-Farbklecksen übersät ist.

Ein bisschen Abi hier, ein bisschen Abi da. Er öffnet die schwarze Brotdose, steckt die Hand in den Zipperbeutel und verstreut die Asche, als verfütterte er Brotkrumen an Tauben. Niemand wirft ihm auch nur einen zweiten Blick zu: Das hier ist schließlich New York. Er hofft, dass die Seele seiner Schwester an Schuhsohlen haften bleibt und auf diese Weise durch die Stadt getragen wird und jeden Teil Manhattans bestäuben kann.

Im Black-and-White in SoHo hat er das Gefühl, in einen Cartoon aus dem New Yorker hineinspaziert zu sein. Alles ist weiß gestrichen und schwarz umrandet. Die kleinen viereckigen Tische, die Holzstühle, die Halbkugellampen, die von der Decke hängen. Der weiße Boden ist mit einem schwarzen Fischgrätmuster bemalt, an die weißen Wände wurden in Schwarz kunstvolle Bilderrahmen ohne Bilder darin gezeichnet. Auch Zeichnungen großer Topfpflanzen befinden sich an den Wänden. Eli wählt einen Tisch neben einem Philodendron, stellt seinen schwarz-weißen Rucksack auf den Tisch und sieht sich um. Alles hier wirkt zweidimensional.

Das Black-and-White wurde im Vorjahr eröffnet. Eli hat in einer Montrealer Zeitschrift davon gelesen und sich selbst das Versprechen gegeben, hierher zu kommen, sollte er es je nach Manhattan schaffen. Heute trägt er eine schwarze Jeans und die schwarzen Cowboystiefel. Außerdem ein langärmliges weißes T-Shirt mit schwarzen Querstreifen, ähnlich denen, die die Gondolieri tragen. Normalerweise mag er keine Streifen, er hat dieses T-Shirt extra für seinen Besuch hier gekauft.

Es ist halb elf Uhr an einem Dienstagmorgen und folglich nicht sehr voll. Die einzigen anderen Gäste sind drei Teenager, ebenfalls ganz in Schwarz und Weiß gekleidet. Alle haben schwarze Haare, was perfekt passt, während Elis strohblonde Haare seinem Gefühl nach wie ein kleiner Affront wiken.

Die Kellnerin trägt einen weißen Rock, der aussieht, als sei er aus Papierservietten gemacht. Außerdem mattweißen Lippenstift. Die Speisekarte, die sie ihm vorlegt, ist ein schwarzes Notizheft. Perfekt. Er bestellt weder einen rosafarbenen Erdbeershake noch einen orangefarbenen Karottenmuffin, sondern schlicht einen schwarzen Tee.

Es ist der sechzehnte Juli, Eli Jones’ Geburtstag. Er ist jetzt dreißig Jahre alt und fragt sich, in welchem Alter er aufhören wird, sich wie ein Junge zu fühlen. Er schnallt seinen Rucksack auf, entnimmt ihm einen schwarzen Filzstift und ein türkisfarbenes Notizbuch, das wie ein Farbklecks wirkt, und legt es mitten auf den Tisch.

Er schlägt das Heft auf, das seine Schwester ihm vor Jahren geschickt hat. Zwischen Deckel und erster Seite steckt das letzte noch existierende Foto, in Schwarz-Weiß, das er von Abi als Kind hat: seine Schwester im Alter von sieben Jahren in ihrem Ballerinakleidchen.

»Wieso Türkis?«

»Weil es die Farbe des Schwimmbads in Verdun ist«, sagt sie. »Wir waren dort immer so glücklich. Ursprünglich wollte ich dir ein Dunkelrotes schicken, aber das hat zu sehr nach Traubensaft ausgesehen. Zu sehr nach Jones-Town.«

Die Kellnerin bringt seinen Tee in einem weißen, mit schwarzen Tropfen bemalten Becher, und dazu eine kleine schwarze Zuckerschale mit weißen Zuckerwürfeln. Er benutzt die Zuckerzange, um alle fünf Würfel in seinen Tee zu werfen.

Dann nimmt er den Zipperbeutel, der inzwischen fast leer ist und höchstens vielleicht noch einen Teelöffel seiner Schwester enthält, aus dem Rucksack, macht den Beutel auf, kippt den Inhalt in seinen Tee und rührt die Flüssigkeit so energisch um, dass der Löffel klappert, hebt den Becher an seine Lippen und nimmt einen kleinen Schluck. Er schmeckt zahnschmerzsüß, doppelt-gefüllte-Pop-Tarts-süß. Er trinkt einen größeren Schluck. Bei fünf Zuckerwürfeln enthält der Tee achtzig Kalorien. Eli weiß nicht, ob Abis Asche noch ein paar weitere hinzufügt.

Zum Schluss holt er die Nikon aus dem Rucksack und legt sie auf den Tisch. Die kantige 35-mm-Kamera mit ihrem Zoom ist eine echte Schönheit. Eigentlich wollte er Schwarz-Weiß-Filme für die Fotos benutzen, die er aufnehmen will, aber seine Schwester will Farbe, also benutzt er Farbe.

Er sieht auf seine Uhr. Um Punkt elf betritt eine Frau das Black-and-White. Er weiß instinktiv, dass sie es ist, seine Geburtstagsverabredung zum Kaffee, und steht auf und winkt.

Sie muss Anfang sechzig sein, hat wilde Haare, die Ansätze schneeweiß, die Enden platinblond. Dicke, wellige Haare, die aussehen, als seien sie explodiert, aussehen, als seien sie eine Perücke, was sie aber nicht sind. Ihre Augenbrauen sind schwarz, ihre Lippen scharlachrot. Sie trägt einen Hut, aus dem in alle Richtungen orangefarbene Federn ragen. Ihr Kordelzugbeutel ist im selben Orange gehalten. Ihre Bluse, mit einem chinesischen Blumenmuster, ist aus lavendelfarbener Seide und reicht ihr bis zu den Hüften. Darunter trägt sie eine Blue Jeans, außerdem Cowboystiefel, abgestoßen und halb abgesäbelt.

Oh mein Gott, sie ist perfekt, denkt Eli.

»Sie ist Diane Arbus / Cindy Sherman-perfekt«, sagt Abi.

Als er die Frau anrief, nachdem er ihren Namen und ihre Nummer im Telefonbuch gefunden hatte, dachte er, sie würde einfach auflegen. Er war darauf vorbereitet, dass sie sagen würde, unter keinen Umständen werde sie sich mit einem fremden Mann in einem Café in SoHo treffen. War er verrückt? Er war hier schließlich in Manhattan – Spinner, Perverse, Leute, die einem irgendwas andrehen wollen, lauerten hinter jeder Ecke. Aber sie legte nicht auf. Sie hörte sich seine Geschichte an, die er, seiner Meinung nach völlig falsch, hervorsprudelte. Trotzdem willigte sie ein, ihn zu treffen und sich von ihm fotografieren zu lassen.

Es ist ein gottverdammt unglaubliches Wunder, denkt er jetzt. Ein perfekter Anfang für dieses neue gemeinsame Projekt, das er und seine Schwester sich vorgenommen haben.

Die Augen der Frau blinzeln ein bisschen, als trage sie normalerweise eine Brille, habe sie heute jedoch weggelassen. Sie tritt an seinen Tisch und hält ihm die Hand hin. »Sie müssen Eli Jones sein«, sagt sie.

Er nimmt ihre Hand. Sie ist warm, lebendig. Gibt ihm das Gefühl, selbst wärmer und lebendiger zu sein.

»Und Sie müssen Abigail Jones sein«, sagt er.

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