Middlesex County, Massachusetts
Die Geschwister sind in einer Cumberland Farms-Filiale, die sie in Erinnerung an den Laden, über dem sie in Verdun gelebt haben, Perrette’s nennen. Sie sind elf und dreizehn Jahre alt. Eli hat den Kaloriengehalt aller Schokoriegel, die es hier gibt, auswendig gelernt. »Frag mich ab«, sagt er.
Abi greift sich einen Riegel aus dem Süßwarenregal vor der Kasse. Jede Sorte liegt in einem eigenen kleinen Pappständer. »Reese’s Peanut Butter Cups«, sagt sie.
Eli sitzt auf einem verschrammten Holzhocker hinter der Theke. »Ganz schön schwer. Äh, zweihundertzehn Kalorien?«
Sie sieht nach, nickt, stellt den Riegel zurück und hält ein Milky Way hoch.
»Zweihundertvierzig?«
Ein erneutes Nicken. Weiter geht es mit KitKat, Mars und Butterfinger, und jedes Mal liegt Eli richtig.
»Weißt du, was du bist, Jones? Ein idiot savant«, sagt Abi.
»Hä?«
»Das heißt, dass du gleichzeitig klug und dumm bist.« Obwohl sie schon dreizehn ist, hat Abi die piepsig-hohe Gickelstimme einer Achtjährigen, aber dank einer Sprachtherapie klingt sie nicht mehr wie ein Marsmensch.
An diesem Nachmittag Anfang Juli ist keine Kundschaft im Laden. Die Klimaanlage ist so niedrig eingestellt, dass Eli trotz der Hitzewelle, die über Massachusetts hinwegschwappt, ein Sweatshirt trägt. Der Manager des Ladens hat dem Jungen erlaubt, seiner Mutter Joy zu helfen, so lange sie ihn aus ihrer eigenen Tasche bezahlt. Er fegt, feudelt, wischt Schmierflecke von den Glastüren der Kühlvitrinen, rückt Packungen in den Regalen zurecht und preist mit einem Handetikettierer Waren aus. Aber oft sitzt er einfach nur auf einem Hocker und leistet ihr Gesellschaft. Gelegentlich zerzausen Kundinnen ihm die Haare, wenn sie ihre Kartoffelchips oder Limos bezahlen. Vor einer Woche hat eine in einem trägerlosen Oberteil ihm mit der Bemerkung »Was für ein niedlicher Junge du doch bist!« fünfzig Cent zugesteckt. In der Hoffnung auf weitere Geldgaben hat er daraufhin auch andere Frauen liebreizend angelächelt, bis Joy der Flirterei mit einem »Hör auf, dich wie ein Perverser aufzuführen« ein Ende gemacht hat.
Im Gegensatz zu ihrem Bruder hilft Abi nicht im Perrette’s. An diesem Tag hat sie nur auf ihrem Weg zur Leihbücherei vorbeigeschaut. Mit über den Boden schleifender Schlaghose, einer quer über den Oberkörper gehängten Hanftasche und einem Armband aus Kaugummipapierchen am Handgelenk, schlendert sie durch die Gänge und begutachtet den Kaloriengehalt von Marshmallows, Schokosirup und Tomatensuppe. »Dieses Knuspermüsli ist ja kein bisschen gesund!«, empört sie sich, die Schachtel in der Hand, mit vor Verwunderung offenem Mund. »Vierhundertvierzig Kalorien pro Portion. Da könnte man genauso gut einen doppelten Cheeseburger essen.«
Es gibt einen Grund für ihre obsessive Kalorienzählerei. Kalorien spielen nämlich eine wichtige Rolle bei der »Großen Flucht«, Abis und Elis Plan, nach Manhattan durchzubrennen. Dort will Abi Fotomodell werden, weshalb sie extrem dünn bleiben muss. Mit ihren langen, glatten, weizenblonden Haaren, die an eine Charles-Manson-Anhängerin erinnern, ist sie auf jeden Fall hübsch genug, findet Eli. Auch er ist blond, aber seine Haare haben eher die Farbe hellen Packpapiers.
Dank Miss Clairol ist ihre Mutter die Blondeste von ihnen, aber Abi bezeichnet ihren Farbton als »tussiblond« und nennt Joy hinter ihrem Rücken »Tussiblondchen«. Im Augenblick ist Tussiblondchen hinten in der nach Desinfektionsmittel riechenden Toilette. »Haltet die Stellung«, hat Joy zu den Geschwistern gesagt, bevor sie abgeschwirrt ist. Sie trinkt während der Arbeit zu viel Kaffee und muss deswegen ständig pinkeln. Außerdem nutzt sie die Gelegenheit, um draußen eine zu rauchen.
Jetzt kommt sie zurück. Sie hat ihren Lockenhelm frisch mit Haarspray eingesprüht und ihren mattrosa Lippenstift nachgezogen, der in die winzigen Fältchen rund um ihren Mund ausblutet. Eins achtundsechzig groß und spindeldürr, ernährt sie sich hauptsächlich von Kaffee und Zigaretten – Kools mit Mentholgeschmack. Abi raucht Camel, und Pal, der Vater der Geschwister, Craven A. Auch Eli hat vor, sich diese schmutzige Angewohnheit eines Tages zuzulegen. Jetzt schon zeichnet er Zigarettenlogos in sein schwarzes Spiralheft und zerbricht sich den Kopf darüber, welche Marke er dann rauchen soll.
Als Joy hinter die Kasse gleitet, kommt ein Typ in einem strassbesetzten Cowboyhut herein, um Milch zu kaufen. Eli liebt es, den Bestand im Auge zu behalten. Sobald die Milch knapp wird, zieht er sich einen dicken Kittel über, geht in den Kühlraum gleich hinter den Vitrinen und füllt die Gitterfächer mit Gallonen- und Halbgallonenkanistern auf. Die Verkäufe hält er in seinem Spiralheft fest, damit er weiß, wann er wieder nachfüllen muss. Als der Cowboy weg ist, macht er einen Strich in die Ein-Gallonen-Spalte seiner Tabelle. »Jesus Murph«, schimpft Joy und outet sich damit als Kanadierin. »Was soll diese blöde Liste? Wir können die verdammten Kühlfächer von hier aus sehen!«
Abi kommt zurück an die Kasse. »Kann Eli kurz Pause machen?«, fragt sie. »Eine Rennmaus im Tom-und-Jerry hat sechs Junge geworfen.«
Elis Gesicht leuchtet auf, aber Joy verdreht die Augen. »Rennmäuse sind nichts anderes als Ratten, bloß mit besserem Ruf.«
»Sie sind keine Ratten, sondern kleine Kängurus«, protestiert Eli, der schon lange versucht, Joy weichzuklopfen, damit er sich ein Pärchen kaufen darf. »Rennmäuse haben keinen Eigengeruch, also stinken sie nicht. Beide, Männchen und Weibchen, kümmern sich um den Nachwuchs. Und sie paaren sich fürs ganze Leben.«
Bei Letzterem ist er sich nicht sicher, hofft aber, Joy damit beeindrucken zu können. Vergeblich.
»Fürs ganze Leben, dass ich nicht lache!«, lautet ihre Reaktion.
Niemand in Massachusetts sagt »dass ich nicht lache«, aber obwohl die Jones schon seit mehreren Jahren in Middlesex County leben, sagen Joy und Pal immer noch »Salon« statt Wohnzimmer, »Canapé« statt Couch und »Wohnung« statt Apartment.
»Du kannst mir glauben«, fügt Joy an Abi gewandt hinzu. »Männer fahren immer lieber zwei- als eingleisig.« Sie lacht über ihren eigenen Witz, ein lautes »Ha!«, das die Geschwister erschreckt. Dann fischt sie ihre rosa Kunstledertasche unter der Theke hervor, wühlt darin herum und gibt Eli ein paar Dollar. »Bring mir von Dunkin’ einen Kaffee und einen Donut mit.«
Als die Geschwister das Perrette’s verlassen, sagt Eli: »In dieser Tür müsste eigentlich ein Gewitter toben.« Wegen der aufeinanderprallenden Warm- und Kaltfronten, meint er, aber seine Schwester geht nicht darauf ein, sondern marschiert die Straße entlang.
Das Tom-und-Jerry liegt am Ende der Ladenzeile, aber als Eli hineingehen will, hält Abi ihn am Ärmel fest. »Das mit den Rennmäusen war gelogen«, gesteht sie ihm. Wie ihr Bruder ist sie eine gute Lügnerin und kann ein undurchdringliches Pokerface aufsetzen, aber jetzt wirken ihre haselnussbraunen Augen so durchtrieben wie die der Katze Morris auf dem Poster der Katzenfutterfirma 9Lives, das im Fenster des Ladens hängt.
Eli sieht sie fragend an und zerrt an seinem Sweatshirt herum, das ihm am Rücken klebt.
»Hershey«, sagt sie.
Ein Codewort. Sie schickt ihn auf eine Mission.
Hier drin würde es sogar einem Eis am Stiel kalt über den Rücken laufen, denkt Eli bei Rexall, wo die Klimaanlage noch kälter eingestellt ist als im Perrette’s. Im Gang mit den Hautpflegeprodukten wirft er einen Blick auf die Aknemittel. Abi hat eine todsichere Methode gegen Pickel: Waschen mit der seifenfreien Waschlotion von Cetaphil, abtrocknen, eine halbe Stunde warten und dann reichlich Benzoylperoxid auftragen. »Der Trick besteht darin, die mildeste BP-Lotion zu nehmen, die zweieinhalbprozentige«, betont sie immer. »Sonst reagiert die Haut gereizt.« Auf der Junior High haben Kinder mit Problemhaut sie für ihre Beratung bezahlt. Eli stellt sich immer vor, wie seine Schwester Ratschläge erteilend in einer zusammengeschusterten Holzbude sitzt, ähnlich der von Lucy von den Peanuts. Falls sie es je schaffen sollte, Fotomodell zu werden, will sie das verdiente Geld für ein Medizinstudium beiseitelegen. »Die Karriere eines Fotomodells dauert allerhöchstens fünf Jahre«, sagt sie immer, »während Dermatologen jahrzehntelang arbeiten können und haufenweise Geld scheffeln. Wir werden stinkreich sein.« Dieses »wir« gefällt Eli, es schließt ihn in ihre Pläne ein.
Ziel seiner Mission an diesem Julinachmittag ist das Abführmittel Ex-Lax, von Abi »Hershey« genannt. Es sei geradezu genial von den Herstellern von Ex-Lax, sagt sie, ihr Produkt genauso zu gestalten wie die Schokoriegel von Hershey, mit schokoladenartig schmeckenden Quadraten, die man einzeln abbrechen kann. »Genau wie Schokolade, bloß ohne die Kalorien«, sagt sie, als sei das der offizielle Slogan des Abführmittels. Ihr Hershey muss zumindest ein paar Kalorien enthalten, widerspricht Eli, aber Abi behauptet, dass diese paar Kalorien keine Rolle spielen. »Altes raus, Neues rein«, sagt sie und meint damit, dass man die alten Kalorien ausscheißen und mit dem Essen bei Null anfangen kann.
Außerdem steckt sich Abi den Zeigefinger in den Hals, um sich zu übergeben. An diesem Finger hat sie ungefähr auf Knöchelhöhe eine Schwiele, weil ihre Schneidezähne so oft darüber reiben. Allerdings ist sie eher nachlässig, wenn es darum geht, nach diesen innerlichen Reinigungsaktionen die Toilette sauber zu machen, und dann stößt Eli einen Seufzer aus, holt Reinigungsmittel und Küchenpapier, sprüht Sitzunterseite und Schüsselrand ein und wischt die Spritzer weg.
Im Rexall schlendert er an den Abführmitteln vorbei, bewegt kaum merklich den Arm und schnippt blitzschnell ein Hershey in den Ärmel seines Sweatshirts. Er ist ein viel besserer Ladendieb als seine Schwester, die den Kopf immer so hektisch dreht, dass die Angestellten auf sie aufmerksam werden. Eli würde jede Wette eingehen, dass er genauso gut ist wie Jack Dawkins, der Anführer der Kinderbande aus Oliver Twist, auch wenn dieser zerlumpte Straßenjunge Brieftaschen klaut, keine Abführmittel oder Pickelcremes.
Er verlässt den Laden, geht zu seiner Schwester, die bei den überquellenden Mülltonnen auf dem Parkplatz wartet, und steckt ihr das Hershey unauffällig zu – ein Spion, der geheime Unterlagen weiterreicht.
Abi versenkt die Schachtel in ihrer Hanftasche mit den Camels und dem Klappdeckelfeuerzeug aus Stahl, das Pal ihr geschenkt hat. »Jetzt will ich in die Bücherei«, sagt sie, und eine Weile gehen die Geschwister gemeinsam die Hauptstraße entlang. Die Sonne bleicht ihre Haare noch heller.
»Ich habe mir Helter Skelter zurücklegen lassen«, erzählt sie, »ein Buch über die Manson-Morde, mit Fotos von den Tatorten und von den abgeschlachteten Opfern. Aber die Bilder der Leichen wurden ausgeweißt.«
»Ausgeweißt?«
»Wie mit Korrekturflüssigkeit.«
»Wieso?«
»Weil niemand die grausigen Details sehen will.«
»Ich schon. Ich mag grausige Details.«
Die Geschwister verabschieden sich mit einem Winken, und Eli geht bei Rot über die Straße und zurück zum Perrette’s.
Als er reinkommt, hebt Joy den Kopf: »Wo zum Teufel sind mein Kaffee und mein Donut?«
»Ups«, sagt er und macht auf dem Absatz kehrt. In der Tür zucken Blitze, kracht Donner. Nicht im wirklichen Leben, aber in der Fantasiewelt in seinem Kopf.
»Das Schlaueste, was Pal je gemacht hat, war, sich in den Arsch schießen zu lassen«, sagt Joy oft. Pal hat nämlich Granatsplitter im Hintern, ein Souvenir aus seinem Jahr als Soldat in der kanadischen Armee. Wegen seiner in Korea erlittenen Verletzungen hat die kanadische Regierung ihm eine Ausbildung an einer Abendschule in Montreal bezahlt. Daher hat er ein Diplom als Maschinist, was wiederum zu einem Stellenangebot einer Firma in Massachussetts führte, die thermoelektrische Geräte herstellt.
»In den Staaten werden wir in einem echten Haus wohnen«, hatte Joy versprochen. Und tatsächlich haben sie in Middlesex County in echten Häusern gewohnt, allerdings wäre »in Teilen von Häusern« richtiger. In der einen Stadt war es eine Doppelhaushälfte, in einer anderen der spitz zulaufende oberste Stock eines Nurdachhauses, und jetzt, in der dritten, ist es ein einstöckiger, nach hinten herausgehender Anbau an einer maroden Villa. Dieser Anbau ist lang und schmal und sieht, laut Eli, aus wie ein an eine Lokomotive angehängter Eisenbahnwaggon.
Als die Jones die leere Hülse ihres Waggons vor zwei Monaten zum ersten Mal besichtigt haben, waren die Wohnzimmerwände von riesigen Nagellöchern durchsiebt, als hätte ein Gangster wild um sich geballert. Das Linoleum in der Küche war schäbig-kitschig (braun-oranges Blumenmuster) und außerdem schäbig-klebrig (jemand musste Limo verschüttet haben, ohne hinterher aufzuwischen). In dem Zimmer, das seins werden sollte, fand Eli Mäusekötel auf dem Boden des Schranks. Er ging zu seiner Schwester in das Zimmer, das ihres werden sollte. Seltsamerweise hatte es eine Tür, die nach draußen führte. Sie stand weit offen.
Waggon und Villa waren umgeben von einer mit hohen Gräsern bewachsenen Fläche von der Größe eines Footballplatzes. »Ab jetzt musst du nicht einmal mehr mit uns essen, Jones«, witzelte Eli. »Ab jetzt kannst du einfach rausgehen und grasen.«
Abi isst jede Menge kalorienarmes Grünzeug und so viele Möhren, dass ihre Handflächen so orange sind wie die Oompa Loompas aus Charlie und die Schokoladenfabrik. »Vielleicht legt Pal ja einen Garten an«, sagte sie.
Pal war auf der Wiese, und die Geschwister beobachteten, wie er gegen die Gräser trat, die ihm fast bis an den granatsplittrigen Hintern reichten. Er legte eine Hand über die Augen, um sie abzuschirmen, und sah zum Himmel auf. Schwarze Vögel krächzten über ihm, Wolken jagten dahin. Pal schien sich mehr für diese Wiese als für den Waggon zu interessieren.
Aus dem Wohnzimmer war Joys heisere Stimme zu hören: »Wenn ich diese Bude erst einmal auf Vordermann gebracht habe, werdet ihr sie nicht wiedererkennen. Das alles wird richtig kuschelig werden. Ich habe ein Händchen für Inneneinrichtungen, ich habe Flair!«
»Hast du gehört, Polly Esther hat Flair«, spöttelte Abi. »Polly Esther« ist ein weiterer Spitzname für Joy, die eine Vorliebe für Synthetikstoffe hat. Außerdem kennt sie weder Maß noch Ziel, wenn es um Krimskrams und Nippes geht, »Bibelots«, wie sie dazu sagt, weil das französische Wort mehr Klasse hat. Ihre Devise lautet: Wenn es auf einem Tisch oder einer Kommode noch ein freies Plätzchen gibt, sollte man unbedingt ein Keramikhäschen draufstellen.
Von der offenen Tür aus beobachteten die Geschwister, wie Pal über die Wiese stapfte. Er hob einen heruntergefallenen Ast auf, schwang ihn wie eine Sense und schlug damit auf die Gräser ein.
»Sieht er nicht gramvoll aus?«, sagte Abi.
»Gramvoll« war ein Begriff aus Erweitere deinen Sprachschatz, einem Heftchen, das die Geschwister ständig zwischen sich hin und her reichten. Ihre Eltern waren beide mit 14 von der Schule abgegangen, und Abi sagte, »es fürchte sie«, auch als Erwachsene noch so zu reden wie die beiden, ein Ausdruck Joys, die oft sagt, irgendetwas »fürchte sie«. Die Eltern benutzen auch ständig doppelte Verneinungen wie »niemand nicht« und »niemals nicht«. Eli versucht, das selbst nicht mehr zu tun, was schwer ist, weil es sich so richtig anhört.
»Er sieht melancholisch und verzagt aus«, ergänzte Eli, um mit seinem neuen Vokabular zu punkten.
»Deprimiert. Weil er seinen großartigen Job verloren hat«, kam es von Abi.
Die Thermoelektronik-Firma hatte Pal entlassen, aber vor kurzem hatte er einen neuen, schlechter bezahlten Job in einem Haushaltswarenladen gefunden, und die Familie zog nun in diese neue Stadt, damit er es nicht so weit zur Arbeit hatte. Eli, der von Thermoelektronik nichts verstand, erschien es als eine Art höhere Berufung, Verkäufer in einem Haushaltswarengeschäft zu sein. Auf der Arbeit trug Pal eine Schürze aus Jeansstoff mit riesigen Taschen, in denen er ein kleines Känguru herumschleppen könnte, und Eli dachte, vielleicht könnte er seinem Vater bei der Arbeit zur Hand gehen und lernen, wie man Farben mischt oder wie die verschiedenen Schraubenköpfe heißen.
»Findest du es nicht ironisch«, sagte Abi, »dass Pal bei seinem Namen, der ja ›Kumpel‹ bedeutet, keine Freunde hat?«
»Das liegt an Korea.« Eli wiederholte nur, was Abi immer sagte. Sämtliche Schwächen Pals führte sie auf das Jahr zurück, in dem er auf der anderen Seite der Welt gekämpft hatte. Eli hätte gern grausige Details aus diesem Krieg gehört, aber Pal will nicht darüber reden. »Du bist noch nicht alt genug, Junge«, sagt er immer. Eli vermutet allerdings, dass er Abi in seine Geheimnisse einweiht, vielleicht wenn die beiden zum Vögelbeobachten in den Wald gehen, ohne ihn mitzunehmen, obwohl auch er Vögel mag.
»Und Joys Name, ›Freude‹, ist ja wohl eine absolute Ironie«, fuhr Abi fort. »Oder macht Tussiblondchen etwa einen freudigen Eindruck auf dich? Eher nicht. Unser Nachname dagegen ist weniger ironisch. Jones bedeutet nämlich ›Sucht‹, hast du das gewusst? Was angesichts der ganzen Säufer und Junkies, mit denen wir verwandt sind, absolut passt.«
Abi winkte Pal zu. »Komm und sieh dir mein Zimmer an«, schrie sie.
Pal stakste mit hoch angehobenen Knien durch das hohe Gras auf die Geschwister zu. Ihr Vater hatte lange Arme und Beine, eine schlaksige Figur und einen Wackeldackelkopf mit glatten, dunklen, seitlich gescheitelten Haaren. Abi sagte immer, zöge man ihm einen roten Pullover an, würde er aussehen wie der sanfte Mr Rogers aus der Kindersendung im Fernsehen. Eli war anderer Meinung. Für ihn sah Pal aus wie Norman Bates aus Psycho.
»Wusstest du, Junge, dass Pudel mehr oder weniger dieselbe DNA haben wie Affen?« Es ist kurz nach dem Unabhängigkeitstag, und Pal und Eli stehen im Tom-und-Jerry bei den Rennmäusen, als Pal einen hersheybraunen Toypudel entdeckt, der sich ständig um sich selbst dreht und nach dem eigenen Schwanz schnappt. Er befindet sich hinter einer Glasscheibe, hinter der halb durchgedrehte Hunde in übereinandergestapelten Käfigen gehalten werden. »Pudel und Affen«, fährt Pal mit einem weisen Nicken fort, »sind genetisch betrachtet miteinander verwandt.«
»Aber ist ein Pudel nicht eher mit dem Pekinesen da drüben verwandt als mit einem Primaten?«, fragt Eli.
Ein plattgesichtiger, triefnasiger Pekinese sitzt im Käfig unter dem Pudel. Die Spitze seiner rosa Zunge ist zu sehen.
»Anscheinend nicht. Die DNA-Stränge von Pudeln ringeln sich wie ihre Haare und bilden ein Muster wie das, das man bei Affen, insbesondere bei Schimpansen findet, wenn ich mich nicht irre.«
Und wie er sich irrt, denkt Eli, der im Naturkundeunterricht gelernt hat, dass die DNA von Schimpansen zu neunundneunzig Prozent mit der des Homo Sapiens übereinstimmt. Aber Pal hat seit jeher eine Art zu sprechen – langsam wie Molasse, wie ein Südstaatenprediger, bloß ohne den entsprechenden Dialekt – die einen davon überzeugt, dass der Typ weiß, wovon er da palavert. Bis heute hat Eli Pals Ausführungen über so unterschiedliche Themen wie Weltraumreisen, Wetterzyklen, amerikanische Präsidenten oder den Kongo für bare Münze genommen. Doch an diesem Tag im Tom-und-Jerry fängt er an sich zu fragen, ob sein Vater vielleicht eine Schraube locker hat.
Er widerspricht ihm trotzdem nicht. Man sollte sein Glück nicht herausfordern. Gestern nämlich ist Pal mit einem Terrarium, einer Tüte Zedernspäne und einer Schachtel Kaninchenpellets, die wie frisch gemähtes Gras riechen, nach Hause gekommen. »Es ist Zeit, dass der Junge sein erstes Haustier kriegt«, hat er zu Joy gesagt, die keifte: »Die ganze verdammte Bude wimmelt vor Mäusen, und du willst mir noch mehr von den Viechern ins Haus schleppen?«
Joy ist mit einem deutschen Schäferhund aufgewachsen und betrachtet alle anderen Haustiere, sogar kleinere Hunde, als hirnloses Ungeziefer. Eli hätte liebend gern einen Schäferhund, aber die Familie zieht alle ein bis zwei Jahre um, und Hunde hassen Veränderungen, wie Joy behauptet. »Das bringt sie im Kopf total durcheinander.«
Im Tom-und-Jerry ruft Pal die Angestellte herbei, eine ältere Dame mit Schürze. Auf ihrem Kopf sitzt ein in Auflösung befindlicher, grau durchsetzter Knoten, der aussieht wie ein Nest, in dem sich eine Maus zusammenrollen könnte. Sie hebt die Drahtabdeckung vom Käfig der Rennmäuse und zieht eins der Tiere am Schwanz hoch, um das Geschlecht festzustellen. »Das hier ist ein Weibchen«, sagt sie zu Eli. »Siehst du die zwei Öffnungen? Anus und Vagina liegen dicht beieinander.« Das Rennmausweibchen rudert mit den Vorderpfoten in der Luft herum. Die Angestellte setzt es zurück und greift sich eine andere Maus. »Das hier ist ein Männchen. Anus und Penis liegen weiter auseinander, und der Penis ist sozusagen innen versteckt. Siehst du die leichte Verdickung am Schwanz? Weißt du, was das ist?«
Eli schüttelt verlegen den Kopf.
»Das Skrotum«, sagt die Angestellte.
Eli entscheidet sich für das kleinste Männchen und das kleinste Weibchen im Terrarium, da sie am jüngsten sind, und je jünger sie sind, desto weniger Zeit haben sie auf die Liebe verzichten müssen, mit der er sie überhäufen wird. Er wird sie Barney und Bernice nennen. Die beiden werden in eine Pappschachtel gesetzt, die aussieht wie die Schachteln, in denen man seine Donuts mitbekommt.
Auf dem Beifahrersitz von Pals rostigem Rambler hält Eli die Schachtel auf seinem Schoß fest umklammert. Während das Auto durch die Straßen der Stadt kurvt, rutschen die Rennmäuse in der Schachtel herum. Ihre Krallen klingen wie kleine Schlittschuhe auf einer Eisbahn. Eli gibt den beiden telepathisch das Versprechen, das Hamsterrad aus Plastik zu klauen, das er in der Tierhandlung gesehen hat. Eine der Mäuse steckt die Schnauze durch ein Luftloch in der Schachtel und schnuppert. Das Auto stinkt nach Zigaretten. »Ich rieche Kools, Camels und Craven As«, sagt Eli mit quietschiger Mäusestimme.
»Joy hat Angst, dass du den Käfig verdrecken lässt und er dann alles vollstinkt«, sagt Pal. »›Blödsinn‹, habe ich zu ihr gesagt: ›Der Junge ist ein Sauberkeitsfanatiker. Gegen ihn würde sogar Meister Proper wie ein Schmutzfink aussehen.‹«
Das stimmt. Eli saugt sein Zimmer dreimal die Woche. Er hasst Staub. Außerdem verabscheut er Unordnung und Durcheinander. Sein Traum wäre ein japanischer Futon, den er jeden Morgen zusammenrollen und im Schrank verstauen könnte. Joy sagt, er ist ein Mönch; Abi sagt, er ist ein Asket.
»Danke für die Rennmäuse, Pal. Tausend Dank.«
»Dank Abi. Sie hat mich dazu gebracht, deine Mutter dazu zu überreden.«
Ein Ford schneidet den Rambler. Pal steigt auf die Bremse, den rechten Arm seitlich ausgestreckt, um Eli zu schützen, der, die Schachtel mit den Rennmäusen fest umklammert, nach vorne geschleudert wird. »Ins Hirn geschissen, oder was?«, brüllt Pal durch das offene Fenster. Der Ford hält an der Ampel auf der rechten Spur an. Mit hochrotem Kopf schwenkt Pal auf die linke Spur, hält neben dem anderen Auto, springt aus dem Rambler und lässt die Tür bei laufendem Motor offen stehen.
Korea, denkt Eli. Und: Es muss verstörend sein zu sehen, wie ein Doppelgänger von Norman Bates seinen schlaksigen Körper auf deine Motorhaube schmeißt und mit den Fäusten gegen deine Windschutzscheibe hämmert. Jedenfalls erschreckt es Eli jedes Mal, wenn er Zeuge einer solchen Szene wird, vor allem, da Pal kein gewalttätiger Vater ist. Im Gegensatz zu Joy hat er Eli noch nie geschlagen und hebt kaum einmal die Stimme, und doch kann er im Bruchteil von Sekunden von »die Ruhe selbst« auf »völlig außer Kontrolle« umschalten.
Der Fahrer des Ford, ein dicklicher Typ mit roten Hosenträgern, sieht eher fassungslos als verstört aus. Nach dem ersten Schock hievt er sich aus dem Auto. Pal rutscht von der Kühlerhaube. Die beiden Männer – der eine dick, der andere dünn – heben die Fäuste. Sie sehen aus wie Slapstickfiguren: Laurel und Hardy, die gleich aufeinander losgehen werden.
»Verdammte Arschgeige«, brüllt Laurel, als Hardy ihm die Faust auf den Kopf knallt.
In Middlesex County sagt man nicht »Arschgeige«, sondern »Arschloch«, denkt Eli grimmig. Er macht seine Tür auf, steigt aus und bleibt, die Rennmausschachtel in den Händen, auf dem Grünstreifen zwischen Straße und Bürgersteig stehen. Er ist eine Figur aus einem Buch, ein Junge, dem die Aufgabe anvertraut wurde, einen kostbaren Schatz vor dem bösen Drachen zu schützen. »Keine Angst, meine Lieblinge«, flüstert er. »Bei mir seid ihr sicher.«
Fahrer, die hinter Ford und Rambler halten mussten, drücken auf die Hupen. »He, ihr Deppen, fahrt endlich weiter!«
Die Kreuzung ist zu Fuß nur fünfzehn Minuten vom Waggon entfernt, also macht sich Eli auf den Heimweg, während Laurel Hardy in den Schwitzkasten nimmt. Wird Pal seinem Sohn die Hölle heißmachen, weil der sich verkrümelt? Unwahrscheinlich. Wenn Eli ihn wiedersieht, hat er den ganzen Vorfall wahrscheinlich längst vergessen. Nach einer Prügelei taucht Pal nämlich oft ab, manchmal tagelang, verschluckt vom bösen Drachen seiner Sucht, seines Jones.
Die Schachtel mit den Rennmäusen in den Händen, als wolle er einem König ein Geschenk darbringen, geht der Junge die Straße entlang. Er ist erfüllt von einer Mischung aus Freude und Angst. Als er fast zu Hause ist, fängt es plötzlich an zu regnen, obwohl die Sonne am Himmel strahlt. Der Teufel prügelt seine Frau und heiratet seine Tochter, denkt Eli. Es ist der französische Ausdruck für Sonnenschauer, den Abi ihm beigebracht hat. Er sucht den Himmel nach einem Regenbogen ab, aber es ist keiner zu sehen.
Als Joy die Milch einer Kundin eintippt, gleitet die Schublade der scheppernden Kasse heraus und knallt ihr in die Magengrube. Es ist der Tag nach Pals Verschwinden. Sobald die Kundin weg ist, steckt sich Joy gleich hinter der Theke eine Kool an und pafft los. Ihre Augen glühen wie die brennende Spitze ihrer Zigarette.
»Du darfst nur hinten auf dem Hof rauchen«, sagt Eli. Er lehnt an der Theke und klappt sein Heft auf, um die Milchtabelle zu überprüfen. Im selben Moment erhält er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und sieht Sterne wie Willy Kojote nach einem Wettrennen gegen den Road Runner. »Mensch!« Er reibt sich den Kopf und funkelt seine Mutter an. »Warum hast du das gemacht?«
Joy sieht ihn wütend an, den Etikettierer, den sie ihm übergezogen hat, noch in der Hand, und faucht: »Füll die Milch nach.«
Er rutscht von seinem Hocker und schleicht sich mit schmerzendem Kopf und vor Tränen brennenden Augen. Sie hat ihn seit Ewigkeiten nicht mehr geschlagen. Als er noch klein war, hat sie ihm oft eine Haarbürste auf den Kopf gehauen, weil die Haare blaue Flecken verdeckten. Damals ging es bei ihren Streitereien meistens um Essen oder Kleidung. Mit sechs hat er nämlich aufgehört, Fleisch zu essen, das er als »Aas« bezeichnet und immer noch nicht anrührt, und noch heute trägt er keine grellen Farben oder auffälligen Muster, weil sie seinen Augen wehtun. Ein widerspenstiges, vorlautes, absonderliches Kind, behauptet zumindest Joy.
Solange er denken kann, hat er einen merkwürdigen Tick: Ständig zuckt er mit der rechten Schulter, zieht sie so hoch, dass sie fast sein Ohrläppchen berührt. Abi nennt es sein »Langzucken«. Wenn er nicht damit aufhört, wird Joy ihn in die Klapsmühle stecken.
Im Kühlraum langzuckt er fünfmal hintereinander und denkt, während er die Milchflaschen abzählt, über Methoden nach, seine Eltern umzubringen, ohne erwischt zu werden. Wo bekommt man Arsen her? Wie durchschneidet man den Bremsschlauch eines Autos? Welche Säuren lösen Knochen auf? Er wird irgendetwas Drastisches unternehmen, schwört er sich, es sei denn, er und Abi verwirklichen ihre Große Flucht, und zwar pronto.
Als er aus dem Kühlraum kommt, fällt ihm auf, dass der Etikettierer nicht mehr zu sehen ist, wahrscheinlich unter der Theke versteckt. Joy hat sich ein bisschen beruhigt. Sie beäugt ihn, zieht an ihrer Kool und sagt: »Ich bin selbst mal mehrgleisig gefahren.«
»Pardon?«, sagt er. Niemand in Middlesex sagt »Pardon«. Er hasst das Wort mit seiner kanadischen Affektiertheit. Wieso hat er nicht einfach »Hä?« gesagt?
Sie grinst ihn vielsagend an, und ihm wird ganz flau im Magen, weil er genau weiß, dass sie ihm etwas anvertrauen wird. Er findet es furchtbar, wenn sie ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse mit ihm teilt, diese angefusselten alten Pfefferminzbonbons, die sie aus den Tiefen ihrer Kunstledertasche hervorkramt.
»Ich habe deinen Vater betrogen.« Rauch strömt aus ihren Nasenlöchern, die dabei so groß werden wie Vierteldollarstücke. »Im Jahr vor deiner Geburt. Verstehst du?«
»Hä?«
»Muss ich deutlicher werden?« Sie sieht pikiert aus, als könne sie nicht fassen, wie begriffsstutzig er ist. »Ich meine, dass ich, als ich schwanger wurde, nicht genau wusste, wer der Vater war, Pal oder der andere.«
Er muss also ein Unfall gewesen sein. Hätte sie ihn um ein Haar abgetrieben? Läuft diese Unterhaltung darauf hinaus? Auf ihr Bedauern darüber, ihn behalten zu haben? Er kann seine Mutter nicht ansehen, sondern starrt stattdessen auf die Theke, auf das durchsichtige Plastiksparschwein mit den Restgeldmünzen, die Kunden für die Kriegsversehrten gespendet haben.
Die Möglichkeit, er könnte einen anderen Vater haben, versetzt ihm einen kleinen freudigen Stich, aber dann sagt Joy: »Mach dir keine Gedanken. Du bist Pals Sohn. Wir haben einen Bluttest machen lassen. Ihr habt beide Blutgruppe 0-negativ, was selten ist.«
»Nur einer von hundert hat 0-negativ«, hat Pal einmal über ihre gemeinsame Blutgruppe gesagt. »Wir sind zwar Universalspender, brauchen aber selbst Blut der Blutgruppe 0.« Und fügte hinzu, falls einer von ihnen einen schweren Unfall haben sollte, könne der andere ihm Blut spenden. Und Joy warf ein, Eli würde Pals achtzigprozentiges Wodka-Blut ganz sicher nicht haben wollen.
»Wer war der andere?« murmelt Eli.
»Ein Typ in Verdun.« Sie zieht an ihrer Kool und bläst den Rauch in seine Richtung. »Er hat denselben Nachnamen wie wir. Du wärst also auf jeden Fall ein Jones geworden.«
Pal hat sechs Brüder, sechs weitere Jones. »Du hattest eine Affäre mit einem seiner Brüder?«, fragt er entsetzt.
»Natürlich nicht! Die sind doch allesamt Säufer, Junkies, Homos, Jesus-Freaks oder alles zusammen.«
»Mit wem dann?«
»Du kennst ihn.«
Sie versteckt die Zigarette unter der Theke, als eine Frau mit rotem Gesicht, dick mit Zinkoxid eingeschmierter Nase und auf dem Boden aufklatschenden Flip-Flops an die Kasse kommt, eine Tüte Käsebällchen und eine Flasche fettarme Milch in der Hand. Aber Eli ist zu durcheinander, um einen Strich in seine Tabelle zu machen. Ihm ist klar geworden, wer der andere Jones sein muss: sein Pate. Kein Pate im religiösen Sinn – er ist nie getauft worden –, sondern ein alter Freund Pals, der versprochen hat, sich um Eli zu kümmern, sollten seine Eltern beide von einem Bus überfahren werden oder so. Eli hat diesen Paten mit seiner pomadig glänzenden schwarzen Elvis-Tolle vor Jahren in der Wohnung in Verdun kennengelernt.
Als die Kundin weg ist, fragt Eli: »Carol Jones?«
Seine Mutter nickt. »Er hat mich zum Lachen gebracht«, sagt sie. »Anders als Pal, der kein bisschen komisch ist.«
Sie tätschelt Elis Kopf. Er zuckt zusammen. »Bluttest hin oder her«, sagt sie, »ich finde, du hast ein bisschen was von deinem Paten an dir.«
»Du findest, dass ich komisch bin?«
»Schon. Merkwürdig komisch. Und du riechst komisch.«
»Findest du?«
»Du riechst anders. Nicht schlecht. Aber anders. Ist nicht böse gemeint.«
»Das liegt sicher daran, dass ich kein Fleisch esse«, meint er, drückt die Ellenbeuge an die Nase und schnuppert. Er riecht nach Bastelkleber.
Mit zusammengekniffenen Augen sieht Joy aus dem Fenster, über den Parkplatz hinweg in die Richtung, in der Montreal zweihundertfünfzig Meilen weiter nördlich liegt. »Pal wollte Carol auf keinen Fall als deinen Paten haben, aber da habe ich mich auf die Hinterbeine gestellt.« Sie wendet sich vom Fenster ab und drückt die Zigarette im Aschenbecher unter der Theke aus.
Die Sache mit dem Paten, vermutet Eli, erklärt wahrscheinlich, wieso sein Vater Abi nähersteht als ihm. Vielleicht riecht er trotz des Bluttests den Paten an Eli. Vielleicht spielt er deshalb nie Ball mit ihm. Vielleicht geht er deshalb nur mit Abi zum Vögelbeobachten oder unternimmt lange Ausflüge mit ihr, ohne ihn mitzunehmen. Vielleicht berührt er seinen Sohn deshalb so gut wie nie.
Auf seinem Holzhocker sitzend versucht Eli, sich zu erinnern, wann Pal ihn das letzte Mal berührt hat. Letzten Sommer, als sie im Urlaub in Quebec waren, hat sein Vater ihn aus einem See gezogen, als er am Untergehen war und Wasser geschluckt hatte. Und als er noch klein war, hat Pal ihn Huckepack durch die Wohnung getragen, damit er den Möbeln gute Nacht sagen konnte. »Gute Nacht, Resopaltisch. Gute Nacht, Fernsehsessel. Gute Nacht, Stereoanlage.« Normalerweise war der Mann dann schon angesäuselt und roch nach einer Mischung aus Pappe und Speck, wie immer, wenn er Whiskey getrunken hatte. Vielleicht, denkt Eli, braucht Pal erst einen anständigen Drink, bevor er ihm gegenüber Zuneigung zeigen kann.
Als Eli Glas splittern hört, fährt er mit wild hämmerndem Herzen im Bett hoch. Die Mansons, denkt er. Sie kommen durchs Fenster. Sie werden uns die Kehlen durchschneiden und mit unserem Blut STERBT, IHR SCHWEINE an die Wände schreiben.
Er wirft einen Blick auf die Digitaluhr auf seinem Nachttisch. Drei Uhr dreiunddreißig. Die drei Dreien glühen bedrohlich rot, drei Mistgabeln, deren Zinken auf ihn zielen.
Im Flur das Knarren einer sich öffnenden Tür. Das Klicken eines Lichtschalters. Ein paar Zentimeter Gelb sickern unter seiner Tür hindurch ins Zimmer. Die Stimme seiner Mutter im Flur, halb aufgebracht, halb besorgt: »Was zum Teufel hast du jetzt schon wieder angerichtet?«
Von irgendwo im Waggon kommt ein gurgelndes Ächzen, wie von einem überfahrenen Hund, der sterbend im Straßengraben liegt. Eli versucht, »Was ist los?« zu rufen, aber die Worte dringen nur als Quieken aus seinem Mund, kaum lauter als die kleinen Piepser, die Barney und Bernice von sich geben. Aufgeschreckt und alarmiert haben sich die Rennmäuse in ihrem Käfig auf Elis Kommode auf die Hinterbeine gestellt und schnuppern, was er dank eines silbrigen Mondstrahls, der durch einen Spalt in den Vorhängen ins Zimmer fällt, deutlich sehen kann. Er schlägt die Decke zurück, stellt die Füße auf den Boden, linst durch die Vorhänge und sieht die dunkle Silhouette des Rambler in der Auffahrt. Pal ist nach Hause gekommen. Er hat seine Schlüssel verloren, vermutet der Junge, und ein Fenster eingeschlagen, um ins Haus zu kommen, statt an der Tür zu klingeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach besoffen.
Pal kommt meistens mitten in der Nacht von seinen Sauftouren nach Hause geschlichen. Eli, der einen leichten Schlaf hat, hört oft, wie er sich würgend im Badezimmer übergibt, bevor er dann ins Bett stolpert. Trotz der späten Stunde schleppt sich der Junge dann ins Badezimmer, um die Kotzespritzer wegzuschrubben, weil er sonst nicht wieder einschlafen kann.
Jetzt tappen Schritte durch den Flur. Wahrscheinlich Joy, die vom Elternschlafzimmer am einen Ende des Waggons ins Wohnzimmer am anderen Ende geht.
»Um Gottes Willen!«, schreit sie.
Eli huscht aus seinem Zimmer und durch den Flur. In der Tür zum Wohnzimmer bleibt er wie angewurzelt stehen. Joy, die Haare ein Korallenriff aus rosa Lockenwicklern, kniet neben Pal, der ein großes, zusammengeknülltes, blutgetränktes Zierdeckchen an seinen Kopf presst. Das Zierdeckchen lag vorher auf dem gläsernen Couchtisch, aber dieser Tisch existiert nicht mehr – finito. Er ist zu Hunderten von Scherben zerplatzt, die glitzernd über den ganzen blättergemusterten Teppich verstreut sind. Der untere Teil des Tischs, nur noch ein Haufen verbogenes schwarzes Metall, trägt nun nichts mehr. Keramikfigürchen – ein angeschlagener Zirkusclown, eine kopflose Ballerina, ein zersprungener deutscher Schäferhund – liegen überall herum wie Leichen in den Trümmern eines abgestürzten Flugzeugs.
»Nicht reinkommen«, ruft Joy, die Hand abwehrend erhoben, als sei sie eine Schülerlotsin. »Du zerschneidest dir nur die Füße.«
Auch sie ist barfuß, aber ihre Füße haben eine dicke Hornschicht, fast wie die eines Hobbits. Vielleicht machen Glasscherben ihnen nichts aus.
Pal stöhnt. Seine Haare stehen hoch wie der Kopfschmuck eines Kakadus. Sein Gesicht hat die grünlich-weiße Farbe von Zahnpasta. In seinen zerquälten, blutunterlaufenen Augen spiegelt sich Scham. Er kann Eli oder Joy nicht ansehen, sondern starrt stattdessen einen umgekippten Hocker in der Nähe an. Anscheinend ist er über das Ding gestolpert und auf den Glastisch gekracht.
Joy zieht das blutige Zierdeckchen weg, legt einen Finger auf den oberen Rand von Pals spitz zulaufendem Ohr und hält es an seinen Kopf gedrückt. Quer über die ganze Ohrmitte verläuft ein langer Schnitt, aus dem Blut sprudelt. Die obere Hälfte des Ohrs ist nur noch durch einen Fetzen Haut, kaum dicker als ein Streifen Kaugummi, mit der unteren verbunden. Als Joy die obere Hälfte loslässt, klappt sie nach unten wie bei einem Bassett Hound.
»Mein Gott«, stöhnt sie. »Reife Leistung.«
Ihr Nachthemd ist blutverschmiert, Pals Jeanshemd erst recht. Elis Knie werden weich, als sammle sich sein eigenes 0-negativ-Blut in seinen Füßen. Er lehnt sich gegen die Wand.
Pal stöhnt erneut. Er tut Eli leid, gleichzeitig aber ist er auch wütend. Mitleid und Wut: zwei gegensätzliche Gefühle, die aufeinanderprallen wie eine Warm- und eine Kaltfront.
»Steh nicht tatenlos rum«, keift Joy ihn an. »Geh und ruf einen Krankenwagen!«
Jetzt endlich hebt Pal den Kopf und sieht ihn an. »Kein Krangenwan«, lallt er. »Kein Pollsei, kein Pollsei.«
»Dein verdammtes Ohr fällt ab«, sagt Joy. »Du musst ins Krankenhaus.«
»Nein!«, brüllt Pal, der nicht mehr ganz so betrunken klingt.
Joy wendet sich wieder an Eli: »Dann geh und hol Abi. Sie kann ihn dazu bringen. Auf sie hört er.«
»Abi«, murmelt Pal und schließt die Augen.
Wo zum Teufel ist Abi? Das Mädchen könnte glatt ein Erdbeben verschlafen. Eli rennt durch den Flur zu ihrem Zimmer und stürmt, ohne anzuklopfen, rein. Das einzige Licht im Raum kommt von einer Nachttischlampe in der Form eines Bugs Bunny, der eine Karotte knabbert – ein von ihm für sie geklautes Geschenk, wegen der vielen Möhren, die sie isst.
Im schwachen Licht sieht ihr Bett leer aus. Er schaltet eine weitere Lampe ein. Abi ist nicht da. »Jones?«, ruft er, als könne sie sich unter dem Bett oder im Schrank versteckt haben. Auf dem Boden liegen Kleidungsstücke, aber es gibt keine Poster an den Wänden, keinen Nippes, nirgends. Auf dem Nachttisch kringelt sich eine rote Lakritzschnur (sechzig Kalorien), daneben steht ein Becher mit kaltem Tee (zwei Kalorien). Die Tür zur Wiese ist offen, also steckt Eli den Kopf raus. Die Nacht ist schwül und riecht komisch, wie ein alter Küchenschwamm. Der Mond, dreiviertel voll, taucht die Wiese in diesiges Licht.
Er kann sich denken, wo seine Schwester ist. In Manhattan. So nennt sie den großen, zusammengelegten Pappkarton, in dem der neue Kühlschrank der Nachbarn geliefert wurde. Vor ein paar Tagen hat sie eine Stelle auf der Wiese plattgetrampelt, den Karton hingelegt, eine große Manhattan-Karte darauf gemalt und Stadtteile wie Harlem, Upper West Side und Upper East Side, Central Park, Chelsea, Greenwich Village und SoHo eingezeichnet. Sie liegt gerne auf diesem Karton und liest ihre Leihbücher. Wenn es regnet, holt sie den Karton in ihr Zimmer.
Obwohl Eli barfuß ist, geht er, fast auf Zehenspitzen, über die provisorische Veranda aus Erde und Steinen und watet dann in das hüfthohe Gras hinein. Grillen führen ihre nächtliche Symphonie auf. Auf der Straße gleiten die Scheinwerfer eines Autos vorbei. In der Ferne ist das schrille Kläffen eines Hundes zu hören.
»Jones?«, ruft er so laut, wie das im Flüsterton geht, denn er hat Angst, die Russos zu wecken, die in der maroden Villa neben dem Waggon wohnen und in Krisensituationen sofort in Hysterie verfallen. Der kürzliche Tod ihrer Großtante führte zu endlosem Weinen, Wehklagen und Haareraufen. »Die Alte war schließlich kein Küken mehr«, lautete Joys Kommentar. »Sie war dreiundneunzig! Und die führen sich auf, als hätte der Tod sie aus heiterem Himmel getroffen.« Im schlimmsten Fall muss Eli vielleicht Mr Russo wecken und ihn bitten, Pal ins Krankenhaus zu fahren. Zu blöd, dass Joy nie den Führerschein gemacht hat.
Er stakst durch das taufeuchte Gras, das seine Schlafanzughose durchnässt, und betet, dass er auf keine Kröte tritt. »Jones«, ruft er noch einmal. Keine Antwort. Vielleicht ist sie doch nicht in Manhattan, denkt er, bevor er den Lichtstrahl sieht, der aus der Mitte der Wiese aufsteigt. Eine Taschenlampe, vermutet er, obwohl der Strahl fast außerirdisch wirkt. Im Kopf hört er das Fünfton-Motiv aus Unheimliche Begegnung der dritten Art.
Als er Manhattan erreicht, haben seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Abi liegt bäuchlings auf ihrer Pappstadt. Sie trägt ein langes T-Shirt, so weiß, dass es geradezu leuchtet. Sie hat eine Taschenlampe und die Taschenbuchausgabe von Amityville Horror dabei, dessen Cover ein Holzhaus mit erleuchteten Viertelkreisfenstern zeigt.
»Pal ist auf den Glastisch gekracht und hat sich das halbe Ohr abgeschnitten«, sagt Eli. Seine Stimme klingt ruhig, trotz seiner zunehmenden Panik. »Alles ist voller Blut. Da drin sieht es aus wie nach dem Mord an Sharon Tate.«
Abi setzt sich auf.
»Und er will nicht, dass wir einen Krankenwagen rufen.«
Sie reibt sich die Augen, als hätte sie geschlafen, und lässt die Hand dann in ihren Schoß fallen. »Er will nicht, dass ein Krankenwagen mit heulender Sirene vor dem Haus vorfährt«, sagt sie. »Das wäre ihm peinlich, dafür ist er zu stolz.«
»Stolz? Worauf sollte der denn stolz sein?« Eli langzuckt zwei oder drei Mal.
»Ruf ein Taxi, Jones. In ein Taxi wird er einsteigen. Das ist leiser und wird ihn ohne Aufsehen ins Krankenhaus bringen.«
Sie klappt ihr Buch wieder auf und liest im Licht der Taschenlampe weiter. Ihre Ruhe verunsichert ihn. Und wieso ist sie um fast vier Uhr morgens hier draußen? Übt sie für die Große Flucht, eine Zeit, in der ihnen vielleicht nichts anderes übrig bleiben wird, als im Central Park auf Pappkartons zu schlafen?
Er will nicht allein in den Waggon zurückgehen. Schick mich nicht zurück, hätte er um ein Haar gebettelt. Er langzuckt noch einmal, bleibt noch eine Weile stocksteif unter dem Dreiviertelmond stehen und beobachtet seine Schwester beim Lesen. Winzige Mücken, von der Taschenlampe angezogen, umkreisen ihren Kopf.
Sie sieht zu ihm hoch. »Dieses Amityville-Haus«, sagt sie, mit dem Taschenbuch wedelnd, »ist nicht besonders gruselig für ein Spukhaus. Da kenne ich weit Schlimmere.«
Am sechzehnten Juli, dem Tag, an dem er zwölf wird, stößt Eli auf einen Rotfuchs, der auf Abis Papp-Manhattan döst. Weil er Geburtstag hat, hat Joy ihn früher aus dem Perrette’s gehen lassen. Er ist den ganzen Weg nach Hause zu Fuß gelaufen und hat zum Schluss die Abkürzung über die Wiese genommen. Als er das lange Gras zerteilt und auf Manhattan zustapft, hebt der Fuchs den Kopf von den überkreuzten Pfoten, stellt die langen Ohren auf und nickt dem Jungen zu. Eli bleibt mit suppentellergroßen Augen gut zehn Schritte entfernt stehen. »Jones«, flüstert er und kommt sich lächerlich vor, aber hat Abi nicht immer gesagt, dass sie ihren Körper verlassen und sich in den von Tieren hineinversetzen kann?
Der Fuchs bewegt den Kiefer, als kaue er auf einem Dauerlutscher herum oder wolle etwas sagen. Er sieht glücklich aus, freundlich, ein kleines Hündchen, das hofft, getätschelt zu werden. Trotzdem weicht Eli zwei weitere Schritte zurück. Der Fuchs legt den Kopf schief, kratzt sich mit einer Hinterpfote am Ohr, erhebt sich vom Central Park und macht einen Schritt Richtung Midtown.
»Bist du der fantastische Mr. Fox?«
Der Fuchs nickt erneut. Sein Fell ist orangebraun, bis auf den weißen Fleck auf seiner Brust und die schwarzen Socken an seinen Pfoten. Er ist das Wundervollste, was Eli je gesehen hat. Trotzdem zwingt er sich, sich von diesem Geburtstagsgeschenk abzuwenden. Nicht weil er den Fuchs für tollwütig oder bösartig hält. Er möchte ihn bloß nicht stören. Wenn er im Central Park ein Sonnenbad nehmen will, sollte Eli ihn in Ruhe lassen.
In einem Nebel aus Dankbarkeit und Entzücken geht er leise auf den Waggon zu. Hin und wieder wirft er einen Blick zurück, um zu sehen, ob der Fuchs ihm folgt, aber der ist geblieben, wo er ist und genießt die Ruhe von Manhattan.
Nach der Wiese geht der Junge geradewegs auf die weiße Tür zu Abis Zimmer zu, statt um die Ecke herum zur Eingangstür, vor der eine Fußmatte verkündet, dass hier die Familie JONES wohnt. In Abis Zimmer sind die Vorhänge zugezogen. Vielleicht ist sie nicht da. Es ist fast zwei Uhr, vielleicht sitzt sie in der Bücherei oder klaut im Head Shop mit dem Poster von Alfred E. Neumann im Fenster eine Kette aus Holzperlen, oder radelt auf der Suche nach einem Geschenk für Eli durch die Stadt. Aber wenn sie zu Hause ist, will er ihr die Geschichte mit dem Fuchs sofort erzählen. Vielleicht können sie das Tier mit Pals Fernglas beobachten.
Eigentlich will Eli an die weiße Tür klopfen, aber in dem traumartigen Zustand, in dem er sich befindet, dreht er den Knauf und geht einfach rein. Drinnen ist es dunkel. Und kühl. Er bleibt stehen, blinzelt in dem von draußen hereinfallenden Licht und denkt erst, dass niemand da ist, dann aber erhebt sich eine verschwommene Gestalt vom Bett. Erschrocken zieht Eli die Luft ein.
Es ist Pal. Er hat seine gestreifte Pyjamahose an, doch sein Oberkörper und seine Füße sind nackt. Mit blitzenden Augen kommt er auf Eli zu. Ist er wütend, weil er an seinem freien Tag aus dem Nachmittagsschlaf gerissen wurde? Aber wieso schläft er in Abis Zimmer?
»Ich habe einen Fuchs gesehen«, murmelt Eli.
Pal sieht ihn finster an, auf dem Gesicht eine Mischung aus Angst und Wut, die Eli noch nie gesehen hat, wenigstens nicht gegen ihn gerichtet. Pals angenähtes Ohr ist von schwarzen Stichen überzogen, die wie Spinnenbeine aussehen, oder wie die Härchen, die rund um die Brustwarzen des Mannes sprießen. Er riecht nach Rauch und Schweiß und Old Spice. Die Spitze seines Penis wölbt den dünnen Stoff seiner Pyjamahose, und als Eli das sieht, ist er entsetzt.
»Ich bringe Abi ins Bett«, sagt Pal.
Erst da merkt der Junge, dass seine Schwester auch da ist. Er linst um Pal herum zum Bett. Die Decke ist bis ans Kopfteil hochgezogen, doch darunter ist eine Gestalt zu erkennen. Diese reglose Gestalt ist Abi.
»Aber es ist doch nicht Schlafenszeit«, sagt Eli.
»Deine Schwester hat Migräne.«
»Jones?«, ruft er. »Alles in Ordnung?«
Die Gestalt im Bett antwortet nicht, regt sich nicht.
»Verschwinde, Junge«, sagt Pal.
»Nein.«
Sein Vater hebt drohend die Hand.
Eli schüttelt den Kopf und weigert sich, sich zu rühren. »Jones?«, ruft er noch einmal.
Die Hand zischt auf ihn zu, trifft ihn voll im Gesicht. Bevor er reagieren kann, packt sein Vater ihn grob an den Schultern, schiebt ihn rückwärts aus dem Waggon und schließt die Tür, ganz behutsam, als wolle er Abis Kopfschmerzen nicht noch schlimmer machen.
Mit vor Schmerz brennendem Gesicht läuft Eli verwirrt über die Wiese. Trotz der heißen Julisonne zittert er. Er geht zurück nach Manhattan, hofft, dass der Fuchs noch da ist. Der listige Fuchs wird wissen, was zu tun ist, wird ihm helfen, aber das Tier ist weg. Eli legt sich auf die Pappnachbildung des Ziels der Großen Flucht, den Kopf in Harlem, die Füße in der Lower East Side, und legt die Hand an die Wange, die sein Vater geschlagen hat. Die Haut fühlt sich glühend heiß an.
Er hat mich berührt, denkt Eli.