Verdun, Montreal

Von ganz oben auf dem Sprungturm – die Junisonne brennt auf seine sommersprossigen, sich schälenden Schultern herab – blickt Eli auf die Fläche des türkisfarbenen Beckens. Es ist so lang, dass die Schwimmer am jenseitigen Ende nur noch kleine Fischchen sind. Während sie die Leiter hinaufgestiegen sind, hat Abi ihrem Bruder erzählt, in den Vierzigerjahren habe der Schwimmer, der olympisches Gold gewonnen und anschließend im Film den Tarzan gespielt hat, anlässlich der Einweihung des Freibads in Verdun das Band durchschnitten. Tarzans Schrei im Kopf rennt Eli über das Sprungbrett und stößt sich ab, während Abi, die noch auf der Leiter emporklettert, ihm ein »Zeig’s ihnen, Weißmüller!« zuruft. Der Sechs-Meter-Fall ist reine, atemberaubende Glückseligkeit, sogar besser als der steile Sturz in die Tiefe auf der Achterbahn im hiesigen Vergnügungspark La Ronde. Torpedogleich durchteilt er mit den Füßen das kalte Wasser, das so stark gechlort ist, dass es den Haaren der Geschwister einen grünlichen Schimmer verleiht, als hätten sie sich im Gras gewälzt. Ihre Großmutter, Joys Mutter, bei der sie hier in Verdun zu Besuch sind, lässt sie ihre Haare mit Kamillentee nachspülen, damit das Grün wieder rausgeht.

In ihrem weißen Bikini katapultiert sich Abi am vorderen Rand des Sprungbretts mit einem Radschlag in die Luft und taucht, während Eli sie vom Beckenrand aus beobachtet, praktisch ohne das kleinste Aufspritzen ins Wasser ein, was in seinen Augen bedeutet, dass sie Olympiaformat besitzt. Als sie wieder hochkommt, sieht er, dass sie ihr Oberteil verloren hat. Durch das Wasser hindurch kann er ihre dunklen Brustwarzen erkennen. Mist, denkt er, während Abi ohne zu ahnen, dass sie obenherum nackt ist, auf den Beckenrand zuschwimmt. Eli entdeckt das quallengleiche weiße Oberteil in der Nähe des Seils, das den tiefen Teil des Beckens abtrennt, und hechtet ins Wasser, obwohl es verboten ist, vom Beckenrand zu springen. Mit unter Wasser offenen Augen schwimmt er los und schnappt sich das Oberteil in dem Moment, in dem ein größerer Junge eine Arschbombe hinlegt und eine Explosion von Luftblasen auslöst. Er schwimmt zu seiner Schwester zurück, die sich, einen Arm über die Brust gelegt, an den Beckenrand klammert, die Augen so groß wie die leeren Kulleraugen der kleinen Waise Annie. Er reicht ihr das Oberteil, und irgendwie zwängt sie sich unter Wasser wieder hinein, bleibt dabei aber so lange unten, dass er schon fürchtet, ein Bademeister müsse sie hochholen und eine Mund-zu-Mund-Beatmung vornehmen.

Als sie später mit rissigen Lippen, geröteten Augen und platt an den Kopf geklatschten Haaren auf ihren Handtüchern sitzen, können sie über den Zwischenfall lachen. Eli bezeichnet Abi als »nackigsten Nackedei weit und breit« und öffnet die Papiertüte mit ihrem Proviant: Schokoriegel, Vanillemilch, Lakritz. Auf dem Weg ins Schwimmbad haben sie im Perrette’s eingekauft, und er hat nicht mal was geklaut. In Kanada muss er nämlich ein besserer Mensch sein, ein ehrlicher, aufrechter Staatsbürger, weil sich die Amerikaner nicht genug darüber auslassen können, wie nett die Kanadier sind.

»In Kanada zählen Kalorien nicht«, informiert Abi ihren Bruder und stopft sich ein Cherry Blossom in den Mund, ein riesiges Gebilde aus Schokolade mit einer in Sirup schwimmenden Maraschino-Kirsche in der Mitte. »In den Staaten gibt es keine Cherry Blossoms«, fügt sie hinzu. »Sie sind wegen des Farbstoffs in der Kirsche verboten. Die Weicheier von Amis sind dem bisschen E 123 nicht gewachsen.«

Abi ist nicht mehr auf Diät, und Eli hofft halb, dass Montreal Manhattan als Ziel ihrer Großen Flucht ersetzen wird. In den letzten Wochen hat er sich neu in die Stadt verliebt. Wie in New York gibt es hier eine U-Bahn; sie heißt »Metro« und hat sechsundvierzig Bahnhöfe. Eli plant, sie alle mit seiner Polaroidkamera zu fotografieren und ein Album anzulegen.

Alle hier sprechen Französisch. In seinem schwarzen Notizbuch listet Eli alle möglichen französischen Ausdrücke auf und ist entschlossen, binnen eines Jahres zweisprachig zu sein. Die Geschwister lieben es, französische Ausdrücke und Redewendungen wortwörtlich zu übersetzen. Demzufolge heißt Löwenzahn für sie »Bettpisser«, wenn es draußen dämmert, befinden sie sich »zwischen Hund und Wolf«, und wenn sie niedergeschlagen sind, »haben sie die Kakerlake«.

In Montreal fühlen sie sich sicherer. Wenn die anderen Kinder in Massachusetts gemerkt haben, dass sie Kanadier sind, haben sie gern damit geprahlt, wie schnell Amerika Kanada im Kriegsfall auslöschen könnte. »In höchstens zwei Tagen«, haben sie gesagt. »Vielleicht sogar in höchstens zwei Stunden.«

Pal ist nicht in Montreal. Zu Beginn des Sommers hat er Joy, die Geschwister und die Rennmäuse zu Nanny gefahren, sie dort abgesetzt und sich sofort auf den Rückweg gemacht. Ihre Eltern haben sich »auf Probe« getrennt, wie Joy sagt. Werden sie sich scheiden lassen? Wird es zu einer Gerichtsverhandlung kommen? Eli stellt sich einen Richter in schwarzer Robe vor, der mit seinem Hammer auf den Tisch haut und »Ruhe im Gerichtssaal!« brüllt, da jede Verhandlung, in der Joy und Pal gegeneinander antreten, nur katastrophal ablaufen kann.

Während sich die Geschwister über ihren Proviant hermachen, sagt Abi: »Wie es Pal wohl geht? Ich wette, er hat die Kakerlake. Ich wette, er ist am Boden zerstört.«

»Und ich wette, er ist auf Kneipentour«, gibt Eli zurück, der nicht will, dass Abi an Pal denkt oder sogar Mitleid mit dem Kerl hat. Irgendwas ist faul an der Nähe und Vertrautheit zwischen den beiden. Oberfaul. Wann fährt der versoffene Mistkerl den Rambler endlich gegen eine Wand?, denkt Eli und ruft sich sofort selbst zur Ordnung. So zu denken ist pas très canadien. Er sollte seine Schokowaffel essen und seine schlimmen Gedanken in Schach halten. In ein paar Wochen wird er dreizehn. Zeit, endlich erwachsen zu werden.

Seine Schwester liegt rücklings auf ihrem Handtuch und kaut auf einer schnürsenkellangen Lakritzschnur herum. Obwohl sie im letzten Jahr gewachsen ist, fehlen ihr noch gute zwei Zentimeter zur Mindestgröße für Fotomodelle, nämlich 1,74. Unter dem Nabel hat sie ein apfelsinengroßes, hellbraunes Muttermal. Er selbst hat einen ähnlichen Fleck auf dem Rücken, aber seiner ist nur walnussgroß. Abi wird braun, er rot, deshalb zieht er sich sein T-Shirt über, ein schlichtes graues, etwas heller als seine anthrazitfarbene Badeshorts. Er mag Grau in allen Schattierungen, außerdem Weiß, Schwarz und Marineblau. All seine Sachen müssen in diesen Farben gehalten sein, sonst wird ihm schwindlig, wie auf den Calypso-Karussels im Vergnügungspark La Ronde, bei denen einem schon vom Zusehen schlecht wird.

Das Douglas, die Klapsmühle, in die Joy immer droht, ihn einweisen zu lassen, wenn sie von seinen Macken in Bezug auf Kleidung, Essen oder was auch immer genug hat, liegt in derselben Straße wie die Badeanstalt. Ein vierstöckiges Gebäude aus grauem Sandstein, mit Disneyland-Türmchen und Mansardendach mit Fenstern. Ob die Patienten Dauerkarten bekommen, damit sie die Badeanstalt besuchen können? Er gibt die Frage an seine Schwester weiter, und gemeinsam suchen sie die Menge nach Geistesgestörten ab. Zwei Frauen in ihrer Nähe tragen absurde Badekappen mit applizierten Blumen drauf, die aussehen wie die Dinger, die man in Badewannen klebt, um nicht auszurutschen. Ein Glatzkopf mit haarigem Rücken hat seine Badeshorts wie ein Preisboxer bis weit über den Bauch hochgezogen. Im Gegensatz dazu tragen andere Männer winzige Höschen, aus denen Büschel von Schamhaaren hervorquellen. »Das sind keine Verrückten«, sagt Abi. »Sondern Franzosen.«

Die Geschwister gehen noch einmal in den flachen Teil des Beckens und ziehen sich dann im Hauptgebäude um, das eine Artdéco-Fassade hat, innen aber schäbig, feucht und klamm ist. Die Männerdusche erinnert Eli an die Gaskammern in der Fernsehserie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss«. Er stopft seine ausgewrungene Badehose und das Handtuch in eine alte, rissige Bowlingtasche, gesellt sich draußen zu seiner Schwester, und gemeinsam gehen sie in ihren Flip-Flops zurück zu Nannys Wohnung in der Riverview Avenue. Die heißt so, weil man den Sankt-Lorenz-Strom tatsächlich vom südlichen Ende aus sehen kann. Rechts und links ist die Straße von kastenförmigen, mehrstöckigen Doppelhäusern gesäumt.

Vor Nannys Haus angekommen, gehen sie die Treppe zum Absatz vor der Tür hinauf. Abi klingelt. In der Wohnung im ersten Stock zieht Joy an einer Schnur, die innen an der Treppenhauswand hinabführt und die Eingangstür öffnet. Diese Schnurkonstruktion, finden die Geschwister, ist ein erfinderischer Geniestreich.

»Amerikaner sind das Leichtgläubigste, was es auf der Welt gibt«, sagt der Pate. »Als ich in Florida war, habe ich den Leuten weisgemacht, in Montreal hätten wir keine Hunde als Haustiere, sondern Seehunde.«

Alle am Tisch lachen: Joy, Nanny, die Tochter des Paten, die Geschwister. Sie sind mit ihren Spaghetti fertig, ihre weißen Teller sind orangerot verschmiert von der Tomatensoße, die so ungefähr das Einzige ist, was Joy komplett selbst kochen kann, nach einem Rezept ihrer ehemaligen italienischen Nachbarn. Abgesehen davon heißt »italienisch« für sie, dass sie eine Dose Ravioli aufmacht.

Während des ganzen Essens hat Eli das Gesicht des Paten studiert. Ähnelt er diesem Mann auch nur im Entferntesten? Carol Jones hat die lustigen Zwinkeraugen eines irischen Kobolds und so schwarze, glänzende Haare, dass man meinen könnte, er hätte mit Schuhcreme nachgeholfen. Jetzt fällt ihm auf, dass der Junge ihn anstarrt. »Eli, kannst du dir denken, was ich diesen Amerikanern gesagt hab, wie mein Seehund heißt?«

Eli zuckt die Schultern. Kein Langzucken, ein ganz normales Zucken. In Montreal langzuckt er kaum.

»Ich habe gesagt, er heißt einfach nur Seehund auf Französisch. Kennst du das Wort?«

»Phoque«, sagt Eli.

»Richtig. Ich habe ihnen erzählt, nachts stehe ich auf der Veranda hinter dem Haus und schreie über die Montrealer Eisschollen hinweg: ’Phoque, Phoque! Phoque you, Phoque! Komm verdammt nochmal endlich her, du blöder Phoque!«

»Ha«, lacht Joy.

»Also wirklich, Carol«, protestiert Nanny.

»Diese Yanks schlucken einfach alles«, fährt der Pate fort. »Ich habe ihnen auch einen kanadischen Vierteldollar gezeigt und gesagt, Königin Elizabeth ist darauf abgebildet, weil sie die Ahornsirup-Schutzpatronin ist.«

Nanny kichert. Sie liebt die Königin. Eine gerahmte Fotografie ihres gekrönten Haupts hängt gleich hier im Esszimmer. Nanny kam etwa in Elis Alter aus dem englischen Leeds nach Montreal, verschluckt immer noch die Rs und trinkt jeden Tag um vier Uhr nachmittags ihren Tee.

»Wie wäre es mit einem Song vor dem Nachtisch, Carol?«, fragt Joy.

»Für dich immer, mein Schatz.« Der Pate legt seine Stoffserviette auf den Tisch, schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Er ist viel kleiner als Pal, registriert Eli, und zwar trotz der hochhackigen Schlangenlederstiefel und der zusätzlichen fünf Zentimeter, die die Schmalztolle bringt.

»Irgendwelche Wünsche?«, fragt der Pate.

»Blue Suede Shoes«, ruft seine Tochter, die Caroline heißt. Carol und Caroline. Lächerlich, denkt Eli. Caroline mit ihren Mascara-verklebten Wimpern, ihrem pfannkuchendick aufgetragenen Make-up, ihren vor Haarspray steifen Ponyfransen und ihrer roten, paillettenbesetzten Bluse erinnert ihn an ein Showgirl aus Las Vegas.

Der Pate greift sich einen langen Holzlöffel aus der großen Salatschüssel auf dem Tisch. »One for the money, two for the show, three to get ready …« singt er den Löffel mit tiefer Vibrato-Stimme an. Die Vorstellung beeindruckt Eli, vor allem der Schlafzimmerblick, genau wie bei Elvis Presley.

Gegen Ende von »Blue Suede Shoes« klingelt das Telefon in der Küche. Nanny springt auf, um ranzugehen. Als alle applaudieren und der Pate sich verneigt und sagt, sie seien ihm jederzeit in Graceland willkommen, ruft Nanny: »Joy, es ist für dich.«

Während Joy telefoniert, bringt Nanny eine Platte mit Mincemeat Tarts herein. Eli liebt die kleinen Gebäckstücke aus gehackten Nüssen und Früchten. Er nimmt sich gleich zwei, und Nanny fragt ihn: »Wie schaffst du es nur, so dünn zu bleiben?«

»Er kotzt alles aus, was wir ihm zu essen geben«, antwortet Abi.

»Ja, ich habe Bulimie«, bestätigt Eli und tut so, als würde er sich einen Finger in den Hals stecken.

»Ihr zwei seid mir welche«, sagt Nanny zu den Geschwistern, die nebeneinander sitzen. Und zu Carol: »Carol, glaub mir, die beiden haben den absolut merkwürdigsten Sinn für Humor. Als ich gesagt habe, sie sind zu alt, um im selben Zimmer zu schlafen, hat Abi geantwortet, ich soll mir keine Sorgen machen, sie seien beide homosexuell.« Nanny tut, als sei sie entsetzt, was aber nicht stimmt. »Kannst du dir das vorstellen?«, fragt sie den Paten.

»Vorstellen schon, mehr nicht«, antwortet der. »Aber ich maße mir auch kein Urteil über die an, die es sind.« Er zwinkert den Geschwistern zu.

»Ach, Carol, du bist genauso schlimm wie die beiden! Ein Glück, dass James das alles nicht mehr hören muss. Er würde es kein bisschen lustig finden.«

James ist Nannys verstorbener Mann. Die beiden hatten getrennte Schlafzimmer. Abi schläft im ehemaligen Zimmer des Großvaters, in dem er, als Eli noch ein Baby war, einen tödlichen Herzanfall erlitt. Am ersten Morgen ihres Aufenthalts in Verdun ist Abi schreiend aufgewacht. »Ich habe vom alten James und seinen grabeskalten feuchten Händen geträumt«, hat sie Eli erklärt. Er hat seiner Schwester angeboten, mit ihr zu tauschen (er schläft auf dem Canapé im Wohnzimmer), aber Abi hat abgelehnt.

»Auf welche Schule werdet ihr im Herbst gehen?«, erkundigt sich Caroline bei den Geschwistern, die die letzten Schulwochen in Middlesex County verpasst haben.

»Es ist erst Juni, viel zu früh, um Pläne zu machen«, sagt Abi. »Bis September könnte ich tot sein.«

»Also wirklich!«, ruft Nanny noch einmal.

»Ich fange auf einem Cégep an«, sagt Caroline. »Cégeps sind so eine Art College als Vorbereitung auf ein richtiges Studium oder einen Berufseinstieg. Mit Schwerpunkt Theater.«

»Passend geschminkt dafür bist du ja schon«, sagt Eli. Seine Bemerkung ist durchaus unschuldig gemeint, vielleicht sogar als Kompliment, aber Abi lacht, und Caroline wirft ihm einen finsteren Blick zu.

»Ein mehliger Pfirsich«, flüstert Abi ihrem Bruder zu. Das ist ihre Bezeichnung für Mädchen, die zum Anbeißen aussehen, wie viele Pfirsiche, die jedoch, wenn man dann hineinbeißt, absolut geschmacklos sind.

Nanny klagt über die Schulen in ihrer Nachbarschaft. »Die Jungen von der katholischen Schule sind richtige Flegel. Im Winter bewerfen sie mich mit Schneebällen, wenn ich meine Einkäufe von Steinberg’s nach Hause schleppe.«

Kurz darauf kommt Joy zurück und setzt sich an den Tisch, ein verkrampftes Lächeln auf dem Gesicht.

»War das Pal?«, fragt Abi.

»Wer sonst?«

»Und wie geht es ihm?«, will Abi hoffnungsvoll wissen. »Besser?«

»Er hält sich tapfer«, sagt Joy und klatscht mit der Hand auf den Tisch. »Er hat einen neuen Job. Einen guten. Gut bezahlt.«

»Wo?«, fragt Eli. »In Middlesex?«

»Ratet, wo wir als nächstes hinziehen«, sagt Joy.

Elis Magen krampft sich zusammen, Nanny macht ts-ts-ts.

»Nach Salt Lake City.«

»Wo zum Teufel ist das nochmal?«, will der Patenonkel wissen. »In Utah?«

»Ohne mich«, sagt Eli. »Ich bleibe hier.« Er sieht Abi an, um ihre Reaktion abzuschätzen und ihre Unterstützung einzufordern, aber ihr Gesicht ist ausdruckslos. »Sag es ihr, Jones! Sag ihr, dass wir dieses Mal nicht mitkommen.«

Seine Schwester lächelt ausweichend. Eli weiß, dass sie ihren Vater vermisst, diesen gottverdammten, nutzlosen Pal, der sich jedes Mal einpinkelt, wenn er besoffen ist. Wie sollen sie je nach Manhattan kommen, wenn Abi den blöden Versager schon nach ein paar wenigen Wochen vermisst?

Er wendet sich an seine Großmutter. »Nanny? Wir können doch bei dir bleiben, ja?«

Nanny klopft sich überwältigt mit der Hand auf die Brust.

Eli ist den Tränen nahe, vor allem, als der Pate über den Tisch greift und seine Hand tätschelt. Der Nagel am kleinen Finger des Mannes ist Coca-Cola-rot lackiert.

Joy sieht ihren Sohn mit kaum unterdrückter Wut an. »Hör auf, mich vor den anderen in Verlegenheit zu bringen«, zischt sie.

»Was willst du denn dagegen tun?«, zischt Eli zurück. »Mich schlagen?« Er schiebt seinen Stuhl zurück und springt auf.

»Ehe du dir ein Urteil über mich anmaßt, Eli Jones, solltest du dich vielleicht mal in meine Lage versetzen.«

Eli stampft ins Wohnzimmer im vorderen Teil der Wohnung, das einen Balkon hat. Dort steht der Käfig der Rennmäuse, eingeklemmt zwischen einem Hocker und einem Zeitschriftenständer. Er hebt die Drahtabdeckung des Käfigs ab und fischt Bernice heraus. (Barney liegt zusammengerollt in der Höhle der beiden, einer halb zerfressenen Kleenex-Schachtel.) Er hält die zappelige Bernice in den gewölbten Händen, und die Wärme ihres kleinen Körpers und ihr Zedernholzduft beruhigen ihn. »Wie geht es meiner kleinen illegalen Einwanderin?«, flüstert er, denn sie haben die Rennmäuse über die Grenze geschmuggelt, im Kofferraum des Rambler, der mit einem Keil einen Spalt weit offengehalten wurde, damit Luft hereinkam.

Er küsst Bernice auf den Kopf, setzt sie vorsichtig zurück in den Käfig, lässt sich schwer aufs Canapé fallen, holt sein schwarzes Notizheft hervor und blättert darin herum. Es enthält seine Listen: französische Wörter, Metro-Stationen, Namen von Fahrgeschäften im Vergnügungspark. Alle ordentlich mit HB-Bleistift geschrieben. Außerdem die Spielergebnisse der Montreal Expos, obwohl Baseballspiele ihn tödlich langweilen.

Über mehrere Seiten hinweg ziehen sich Tabellen der Fernsehsendungen, die jeden Abend zur besten Sendezeit auf ABC, CBS und NBC laufen. Er liebt es, die Namen der Sendungen und ihre Sendezeiten zu kennen, obwohl er nur selten fernsieht. Für ihn klingen die Lachkonserven der Sitcoms irrsinnig und dämonisch. Außerdem kann er die Pseudo-Eltern mit ihren Horden niedlicher, altkluger Kinder einfach nicht ertragen. Er verflucht diese falschen, ach so eng verklüngelten Sippschaften und wünscht ihnen spätnächtliche Besuche von Charles-Manson-Anhängern. Das schlimmste F-Wort, das es gibt, sagt Abi, lautet »Familie«.

Er blättert zu einer Seite weiter, die er in Großbuchstaben mit DER KLEINE PRINZ überschrieben hat. Nanny hat ihm den illustrierten Le Petit Prince und ein zweisprachiges Wörterbuch geschenkt, und er hat angefangen, den Roman ins Englische zu übersetzen. In der Geschichte kommt ein Fuchs vor, un renard, der ihn an den erinnert, den er in Manhattan gesehen hat. Nur dieses eine Mal, danach nie wieder. Vielleicht hat er sich das Tier nur eingebildet, denkt er jetzt. So wie er sich vielleicht auch nur eingebildet hat, dass er die weiße Tür zu Abis Zimmer geöffnet und Pal dabei ertappt hat, wie er Abi »ins Bett gebracht« hat. Die Ohrfeige jedoch kann er sich nicht eingebildet haben. Selbst jetzt, ein Jahr später, kann er den Schlag noch spüren. Es war das einzige Mal, dass sein Vater es je gewagt hat, ihn zu schlagen.

Dieser blöde Abi-ins-Bett-Bringer! Salt Lake City! Dort wohnen doch lauter religiöse Fanatiker, oder? Die Jones sind Atheisten, verdammt nochmal. Pal wird es noch schaffen, dass sie alle umgebracht werden. Die in Utah werden sie als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

»Vater«, auch so ein F-Wort. Zumindest dem Klang nach.

Eine halbe Stunde lang arbeitet Eli weiter an seiner Übersetzung von Le Petit Prince, dann hört er jemanden durch den Flur in Richtung Wohnzimmer kommen. Er wünscht sich, dass es Abi ist, aber das Klappern von Stiefelabsätzen auf dem Parkett verrät ihm, dass sie es nicht ist.

Der Pate bleibt in der Tür stehen, die Hände in den Taschen seiner Blue Jeans, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. »Ich will dir ein Geheimnis verraten«, sagt er.

Ja, ja, denkt Eli. Du und Joy und Zweigleisigkeit. Ganz toll. Mir völlig egal.

»Weißt du, wie du zu deinem Namen gekommen bist?«

Zu seinem Namen? »Abi sagt, Joy und Pal haben mich Eli genannt, weil es dieselben Buchstaben sind wie in ›lie‹, ›Lüge‹«, sagt Eli. Er hätte »Anagramm« sagen können, weiß aber nicht, ob der Pate den Begriff kennt. »Sie dachten, ich würde ein Kind werden, das gern flunkert.«

»Ich glaube, Abi ist diejenige, die da geflunkert hat«, sagt der Pate.

Joy behauptet immer, Abi müsse eine viel längere Nase haben, weil sie so viel lügt.

»Als deine Mutter schwanger war und nach Namen gesucht hat, habe ich Eli vorgeschlagen.«

»Ach.«

»Ja. Allerdings habe ich ihr nie gesagt, wieso.«

Lügt der Pate auch? Falls ja, kann man es seinem Gesicht nicht ansehen.

»Wegen Elvis. Ich fand es cool, wenn du drei seiner Buchstaben als Namen hättest. Ich dachte, Joy und Pal würden es erraten, aber ich glaube, das haben sie nie getan.«

»Sie haben jedenfalls nie was gesagt.«

»Wo immer du bist, Eli Jones, egal ob in Massachusetts oder Utah oder Timbuktu, denk immer dran, dass du ein bisschen was vom King in dir hast.«

Hier tippt sich der Pate mit der Faust auf die Brust. »Der Zauber von Elvis wird dich beschützen, ganz gleich, wo in Dreiteufelsnamen du landest.«

»Auch wenn ich in der Hölle lande?«, fragt Eli.