Salt Lake City, Utah

Wir werden euch vom Pfad der Tugend abbringen«, warnt Abi. »Und dafür sorgen, dass ihr in der Hölle schmurgelt.«

An diesem Abend, am Fuß einer Bergkette, werden die Geschwister sechs Osmonds mit Whiskey abfüllen. »The Osmonds«, eine ausschließlich aus Familienmitgliedern bestehende Vorzeigeband aus Utah, haben Abi dazu veranlasst, alle Mormonen »Osmond« zu nennen (wohingegen sie ihr ganzes Leben lang jeden Bettler, Säufer und Aluhut tragenden Spinner, der ihr über den Weg läuft, »Jones« nennen wird).

Zusammen mit den Osmonds, allesamt aus Abis Klasse, sitzen die Geschwister an einem Lagerfeuer in einem Wald, der sich dicht und dunkel dahinzieht, die Art Wald, in der Hänsel und Gretel ihre Spur aus Brotkrumen hinterlassen könnten. Es ist erstaunlich, wieviel kälter als in der Stadt es hier ist. Bestimmt fünf Grad.

Eli, der den Barkeeper macht, kippt mehrere Fingerbreit Canadian Club in transparente Plastikbecher. »Ihr könnt ja so tun, als wär’s Root Beer«, sagt er, als er die Becher verteilt.

»Oder das Blut Christi«, ergänzt Abi.

Obwohl Eli, der erst in ein paar Monaten vierzehn wird, mindestens zwei Jahre jünger ist als die Osmonds, fühlt er sich älter, weil er schon öfter Alkohol getrunken hat. Aus medizinischen Gründen: Alkohol dämpft seine Zwänge. Vor ein paar Wochen war er, um nur ein Beispiel zu nennen, plötzlich von dem quälenden Drang erfüllt, sein Geschichtsbuch mit Bleistift Wort für Wort in eins seiner schwarzen Spiralhefte zu übertragen. Er war bei Seite zweiundzwanzig angelangt, als Abi ihm eine Rum-Cola gab, und als er schlückchenweise davon trank, ließ der Drang immer weiter nach, bis er auf Seite vierunddreißig, mitten in einem Satz über die Lincoln-Douglas-Debatten zur Sklaverei, mit dem Abschreiben aufhören konnte.

Der Rum stammte aus Pals Hausbar, der Canadian Club von heute auch. Angeblich hat Abi Pal gefragt, und der hat ihr die Flasche gegeben. »Kein Wort zur Spielverderberin«, hat er, laut Abi, gesagt. Eli findet, dass ihr Vater immer macht, was Abi will, seiner chouchou jeden Herzenswunsch erfüllt.

Das Lagerfeuer der Osmonds ist eine klägliche Angelegenheit, die spärlichen Flammen züngeln nur halbherzig an den aufgeschichteten Zweigen. Zu Anfang des Frühlings ist die Rinde noch feucht. Einer der Osmonds, ein Sechzehnjähriger, der die Geschwister im Jeep seines Vaters mitgenommen hat, stochert mit einem Stock in der Glut herum. Abi nennt alle Osmond-Jungen Donny und alle Osmond-Mädchen Marie. »Ich kann einfach nicht verstehen, wie ihr Ungläubigen leben könnt«, sagt Donny zu Abi. »Ohne meinen Glauben würde ich mich aufhängen.«

»Selbstmord ist aber Sünde«, sagt eine Marie. »Wenn du dich umbringst, kommst du in die Hölle.«

Abi verdreht die Augen und wendet sich an Eli: »Barkeeper, schnell einen Drink für diese Unschuld vom Lande.«

Eli reicht der Marie einen Whiskeybecher. Sie sieht ein bisschen aus wie Caroline, die Tochter des Paten, allerdings ohne das theatralische Make-up.

Der Jeep-Donny beäugt Abi mit einer Mischung aus Verlangen und Angst, so wie Jungen Abi oft ansehen. Vergiss es, würde Eli gern zu ihm sagen. Sie ist mehrere Nummern zu groß für dich, Mann. Du befindest dich auf Meeresspiegelhöhe, Abi zwanzigtausend Meilen darunter.

In letzter Zeit wirkt Abi tatsächlich wie unter Wasser. Vor ein paar Tagen hat Eli ihr erzählt, seine Geschichtslehrerin hätte gesagt, von all den verschiedenen Personengruppen, die die Nazis in ihre Konzentrationslager sperrten, hätten nur die Homosexuellen es verdient, dort zu sein. Und statt sich aufzuregen oder die ignorante Mrs Throckmorton nach der Schule auf dem Parkplatz zur Rede zu stellen, wie sie es früher getan hätte, murmelte Abi nur: »Wie tief der Mensch doch sinken kann.«

Dass sie selbst sinkt, das macht Eli Sorgen. Sie ist viel zu dünn. Wie hat er nur so dumm sein können zu denken, die Straße nach Manhattan sei mit Abführmittel gepflastert. Deshalb Schluss damit, welches für seine Schwester zu klauen oder ihr Reiswaffeln (35 Kalorien pro Stück) zu besorgen.

Heute jedoch wirkt sie wie ihr altes, resolutes Ich, zumindest am Anfang. »Wir zwei sind gar nicht so verschieden, Donny-Boy«, sagt sie zum Fahrer des Jeeps. »Glaubst du an Allah, Buddha, Nanuk, Poseidon, Ra, Thor oder Zeus?«

»Natürlich nicht«, sagt Donny.

»Ich auch nicht. Du bist also ein Nichtgläubiger, wenn es um diese sieben Götter geht, ich bin eine Nichtgläubige in Bezug auf acht, wobei der achte euer Typ im Himmel ist.« Sie nimmt einen großen Schluck Whiskey direkt aus der Flasche und schüttelt sich. »Praktisch glauben wir also den gleichen Scheiß.«

Mit fünfzehn spricht Abi immer noch mit ihrer piepsigen Kleinmädchenstimme. Die Diskrepanz zwischen dieser Stimme und den Worten, die aus ihrem Mund kommen, erzeugt einen Missklang.

»Aber mein Gott ist der einzig Wahre«, beharrt Donny.

»Ha!«, ruft Abi und klingt dabei wie Joy. »Das sagen alle.«

»Es stimmt aber.«

»Jesus Murph! Dass Donny Osmond glaubt, irgendetwas sei wahr, reicht mir als Beweis nicht aus.«

»Wieso sagst du ›Jesus‹, wenn du Atheistin bist?«, will Marie wissen.

»Weil ich Jesus mag«, antwortet Abi. »Er hat tolle Haare. Welches Shampoo er wohl benutzt?«

Die Osmonds lachen.

»Aber ich traue ihm nicht. Euer Jesus sieht aus wie ein Zuhälter, der vor der Hafenbehörde rumlungert und frisch Eingereiste abfängt und dazu zwingt, in schäbigen Absteigen in der Lower East Side anschaffen zu gehen.«

Die Marie schlägt die Hand vor den Mund, obwohl Eli vermutet, dass sie weder die New York-Anspielung versteht noch weiß, was »anschaffen« bedeutet.

Im Gegensatz zu seiner Schwester läuft Eli nicht in der Gegend herum und erzählt allen, dass er ein Ungläubiger ist. An seinem ersten Tag an der Junior High in Utah hat ihn eine Marie aus seiner Klasse gefragt, ob er ein Osmond ist. Da es ihm unangenehm war, sich als Atheist zu bezeichnen, behalf er sich mit einem: »Ich bin Kanadier«, als sei Kanadischsein eine esoterische Religion. »Abgefahren«, lautete die Reaktion der Marie.

»Meine Prophetin ist eine tote Fotografin«, teilt Abi den anderen jetzt mit. »Sie heißt Diane Arbus.«

»Nie von ihr gehört«, sagt ein anderer Donny.

Abi hat Eli ein Buch mit den Fotos dieser Diane Arbus gezeigt. Auf einem davon war ein verkrampft dastehender blonder Junge, der das Gesicht verzieht, mit einer Plastikhandgranate in der Hand im Central Park zu sehen.

»Sie solltet ihr anbeten«, sagt Abi. »Denn sie ist eine wahre Göttin.«

»Was hat sie denn fotografiert?«, fragt die Caroline ähnelnde Marie.

»Transvestiten, Nudisten, Drillinge, Riesen, schwertschluckende Albinos, Menschen mit Down-Syndrom.«

»Freaks«, sagt Donny. »Freaks wie ihr Kanadier.«

Wo immer sie hinziehen, die Geschwister werden überall Freaks sein. Nie werden sie den richtigen Akzent, die richtigen Kleider, die richtigen Haarschnitte oder den richtigen Glauben haben. Aber nach Manhattan werden sie passen, versichert Abi ihrem Bruder ständig, weil New York die Stadt der Freaks ist. Wieso ist Salt Lake City so verdammt weit davon entfernt? Abi hasst diese frömmlerische Stadt, obwohl selbst sie zugeben muss, dass es hier schön ist. Die umliegenden Berge ragen majestätisch, zerklüftet und schneegekrönt auf, wie eine Filmkulisse. Die Winter sind nicht so grauenhaft wie im Nordosten, wo einem im Januar die Nasenhärchen zu winzigen Eiszapfen gefrieren. In Salt Lake City selbst schneit es nur selten, aber wenn man Schnee will, braucht man einfach nur in die Berge zu fahren. Die sind allerdings weiter weg, als man meint. Im Jeep von Donnys Vater und einem zweiten Auto haben es die Geschwister und die Osmonds nur bis an den Fuß der Berge geschafft.

Im Frühling rauscht der schmelzende Schnee in Sturzbächen die Hänge hinunter und tritt über die Ufer der kleinen Wasserläufe, die die Region kreuz und quer durchziehen. In der Ferne hört Eli Wasser plätschern und plappern. Die Osmonds plappern auch, über den Whiskey, der in der Kehle brennt, über Alkohol, Sünde und Hölle, über die Schule, die Lehrer, die Leichtathletikmannschaft. Sie lachen über anzügliche Witze, aber für die Geschwister klingt ihr Lachen so falsch wie das in den Sitcoms. Diese Osmonds kommen aus Familien wie denen im Fernsehen, mit Eltern, die banale Ratschläge erteilen und zum Dank dafür von ihren Kindern stürmisch umarmt werden.

Eli sieht zu seiner Schwester hinüber, die still geworden ist. Sie schaut nach oben, beobachtet die Fledermäuse, die auf der Jagd nach Insekten pfeilschnell hin und her schießen. Wenn sie nicht im Mittelpunkt steht, fällt es Abi schwer, sich auf das zu konzentrieren, was die anderen sagen. Joy sagt, sie ist egozentrisch, aber Eli ist anderer Meinung. Er glaubt, dass sich seine Schwester als Schutz gegen die Außenwelt in den Kokon ihrer eigenen Gedanken zurückzieht.

Auf dem Heimweg im offenen Jeep lehnt sich eine Marie gegen Eli und legt den Arm um seine Schulter. »Ich mag dich. Du bist nett«, lächelt sie und enthüllt dabei Zähne, die so weiß sind wie ausgebleichte Knochen in einer Wüste.

»Nein, bin ich nicht«, wehrt er ab. »›Nett‹ ist für mich wie Kryptonit.« Sein Lächeln ist dasselbe, mit dem er früher die Kundinnen im Perrette’s in der Hoffnung auf 50 Cent Belohnung angestrahlt hat, eine Mischung aus großäugiger Unschuld und Kleinjungen-Lüsternheit.

»Wenn du nicht nett sein willst, was willst du dann sein?«, fragt die Marie. Ihr Atem riecht nach Whiskey, ihr Körper nach Nesquik mit Erdbeergeschmack.

»Dein Lover«, sagt Eli.

Die Marie schnaubt und gibt ihm einen spielerischen Klaps auf die Wange.

»Fester. Ich mag es fester.«

»Du bist zu komisch«, sagt Marie, und zu Donny, dem Fahrer: »Wir haben hier hinten einen richtigen Komiker.«

Vom Whiskey angespornt lehnt sich Eli in der Hoffnung auf einen Kuss zu ihr hinüber, die Augen halb geschlossen, so wie der Pate, wenn er Elvis imitiert. Er stellt sich Marie als die Tochter des Paten vor, kleidet sie aber in einen paillettenbesetzten Bikini und einen Kopfputz mit Pfauenfedern. Sie stößt ihn weg. Sie ist größer als er. »Ganz schön frech«, sagt sie mit gespielter Entrüstung, eine ehrbare Dame in einem alten Film, die die Avancen des Flegels zurückweist.

Vorne hält Donny das Steuer übertrieben konzentriert umklammert, wie ein kleines Kind im Autoscooter. Abi sitzt stumm und schlecht gelaunt auf dem Beifahrersitz, gelangweilt vom angetrunkenen Donny, der sich in eine Quasselstrippe verwandelt hat und sich endlos über seine Leistungen als Leichtathlet auslässt.

Der Jeep hat kein Dach und vorne keine Türen, aber der Rücksitz, auf dem Eli und Marie sitzen, ist durch Seitenverkleidungen einigermaßen geschützt. Das Fahrzeug windet sich durch den Wald und dann vorbei an einer Wiese, auf der Camper Zelte aufgeschlagen haben. Manche davon sind von innen beleuchtet und sehen aus wie Papierlaternen. Weiter vorn auf der Straße ist das zweite Fahrzeug, ein Kombi mit den anderen Osmonds, gerade noch zu sehen. Obwohl es schon fast zehn Uhr ist, ist der Himmel noch von violettem Licht erfüllt.

»Beim letzten Wettkampf habe ich mir den Ischiocrural-Muskel verletzt«, redet Donny weiter. »Weißt du, was ein Ischiocrural-Muskel ist? Er verläuft an der Rückseite des Oberschenkels. Eigentlich hätte ich beim Hochsprung Erster werden sollen, musste mich aber mit dem fünften Platz zufriedengeben. Ein harter Schlag fürs Ego, das kannst du mir glauben, aber der Trainer hat gesagt, ich komme schon wieder in Form.«

Langsam lehnt sich Abi immer weiter weg von Donny. Eli, der direkt hinter ihr sitzt, sieht es und denkt zuerst, sie will einfach nur Distanz zwischen sich und Donnys Geschwafel bringen. »Pass auf, Abi!«, schreit er noch, doch da kippt sie bereits aus dem Jeep. Elis Lippen formen ein entsetztes »O«, aber zu hören ist nur Maries Aufschrei.

Eli wirbelt in seinem Sitz herum. Im dämmrigen Licht sieht er, wie sich Abis Körper am Straßenrand mehrmals überschlägt wie eine Stoffpuppe und dann die grasbewachsene Böschung hinunterrollt.

»Oh Gott, oh Gott«, stöhnt Donny und lenkt den Jeep an den geschotterten Straßenrand, wo er holpernd zum Stehen kommt. Die Scheinwerfer beleuchten ein überfahrenes pelziges Tier ein Stück vor ihnen. Eli versucht, den Vordersitz vorzuklappen, kommt in seiner Panik aber nicht mit dem Hebel zurecht und springt über die Seite, stolpert, fällt auf die Knie, ist aber sofort wieder auf den Beinen und rennt, nein, sprintet wie ein Hundertmeterläufer die Straße entlang zu der Stelle, an der Abi die Böschung hinuntergerollt ist.

»Jones!«, ruft er, während er den Abhang hinunterhetzt und das Gras beiseite schlägt, das hüfthoch und so dschungelwild ist wie das hinter ihrem Waggon früher. »Wo bist du?«, schreit er voller Angst, er könne auf ihren zerschmetterten Körper trampeln. Der hellgelbe Lichtschein eines Laternenmasts an der Straße beleuchtet die Umgebung. Ein Stück weiter weg stehen die erleuchteten Zelte. Bei einem davon wird der Reißverschluss hörbar aufgezogen. »Hilfe!«, brüllt er in Richtung der Zelte.

»Jones?«, sagt eine ruhige Stimme. »Ich bin hier drüben.«

Er bahnt sich raschelnd einen Weg durch Gras und Gestrüpp und findet Abi auf einer plattgewalzten Stelle hinter einem Busch. Sie liegt auf dem Rücken, das Gesicht kalkweiß, die Knie ihrer Schlaghose aufgerissen. Einer ihrer Schuhe fehlt, ihr nackter Fuß ist aufgeschürft und schmutzig.

Er fällt neben ihr auf die Knie. »Du bist nicht tot«, sagt er mit kippender Stimme.

»Anscheinend nicht. Jedenfalls noch nicht.«

Ihre Ruhe ist beängstigend, und er hat Angst, sich in die Hose zu machen wie Pal, wenn er auf Sauftour ist. Er klatscht die flache Hand auf ihre Stirn, um festzustellen, ob sie Fieber hat, aber ihre Haut ist kühl.

Donny und Marie kommen über die Straße angerannt, bleiben oben stehen und spähen zu den Geschwistern hinunter. Abi hebt grüßend einen Arm. Der Ärmel ihrer Bauernbluse rutscht nach unten und enthüllt einen blutenden, zerschundenen Ellbogen.

»Wir müssen sie zudecken«, sagt Donny, als er die Böschung herunterkommt. »Sie steht garantiert unter Schock, wir müssen sie warmhalten.« Er zerrt sich den Pullover über den Kopf. Marie macht es ihm nach und zieht ihre Strickjacke aus. Beide knien sich neben Abi, deren Zähne inzwischen klappern, und breiten die Sachen über ihren Oberkörper. Eli reißt sich Sweatshirt und T-Shirt herunter und legt sie über die anderen Sachen. Gerade will er den Gürtel seiner Jeans aufmachen, um auch sie über Abi zu breiten, als Marie sagt: »Ich hole Decken und Schlafsäcke vom Zeltplatz.« Und schon klettert sie die Böschung hinauf und läuft um Hilfe rufend über die Wiese.

»Ich gehe zurück zum Jeep«, kommt es von Donny, »und fahre zur Tankstelle weiter unten. Die haben ein Telefon, von dem aus ich einen Krankenwagen rufen kann.« Er ist inzwischen stocknüchtern. Wie sie alle. Ein paar Sekunden lang legt er Eli die Hand auf den nackten Rücken, wie um ihm Wärme und Kraft zu übermitteln. Dann steht er auf und klettert die Böschung hinauf.

Als er weg ist, sagt Abi: »Dem Himmel sei Dank für die Osmonds dieser Welt.«

Eli wischt Steinchen und Schmutz von ihren Wangen und zupft Zweige aus ihren Haaren. »Wieso hast du das gemacht?«, fragt er mit kippender Stimme. Der Whiskey hat ihren Sturz nicht verursacht. Er war kein Unfall. »Wieso hast du so was Verrücktes gemacht, du verrückte Jones?«

Abis Zähne hören auf zu klappern. »Ich wollte es spüren.«

»Was spüren?« fragt er völlig aufgelöst. Er zittert vor Kälte.

»Irgendwas. Egal was.«

Sie sieht zu den Sternen auf. Eli versucht, die Tränen zurückzuhalten.

»Den Aufschlag auf der Straße, den habe ich gespürt.«

Sie lacht ihr gickelndes Achtjährigen-Lachen, hört aber sofort wieder auf, weil es vermutlich wehtut.

»Wie man sich bettet, so liegt man«, lautete die lahme Begründung Joys in Verdun, als Eli ein letztes Mal versuchte, sie davon abzubringen, Pal nach Utah zu folgen. Anders ausgedrückt hat sie den Mann nun einmal geheiratet und ist seitdem für alle Zeiten an das Ehebett gebunden. Ironischerweise ist sie Expertin im Bettenmachen. Sie könnte Zimmermädchen und Rekruten ausbilden, lässt ihre Kinder aber nicht an ihre eigenen Betten heran. »Ihr würdet es sowieso versauen.«

Am Morgen nach ihrem Sturz aus dem Jeep liegt Abi schlafend im Bett, während Joy und Eli sie von der offenen Zimmertür aus beobachten. Eli erzählt noch einmal dieselbe Lügengeschichte wie am gestrigen Abend: Dass Donny sich einen Schluck aus seinem Flachmann genehmigt und einen Schlenker gemacht hat, sodass Abi aus dem türlosen Jeep gekippt ist. »Diese Osmonds tun so, als könnten sie kein Wässerchen trüben, dabei sind sie Ausgeburten der Hölle«, flüstert er. »Marie war übrigens auch sturzbetrunken und hat versucht, mit mir rumzumachen, obwohl sie schon sechzehn ist. Ich hoffe, die kriegen bis zur vierzehnten Wiederkunft Christi Hausarrest.«

»Haltet euch bloß von dieser gottverdammten Sekte fern«, sagt Joy. Sie ist kein Fan der Mormonen und behauptet, sie würden in dem McDonald’s, in dem sie Teilzeit arbeitet, bevorzugt behandelt und bekämen die besten Schichten. An diesem Morgen trägt Polly Esther ihre Polyester-Uniform mit den orangefarbenen und senfgelben Querstreifen, Farben, die Eli, müsste er sie tragen, sofort eine Einweisung ins Douglas einbringen würden.

Eli beobachtet die schlafende Abi. Seine Schwester runzelt die Stirn und zuckt unter der Decke mit einem Bein, als wolle sie jeden Augenblick losstürzen.

»Ihre Arme und Beine waren voller Steinchen. Die Krankenschwester musste sie mit einer Pinzette herausholen«, sagt Joy erschöpft. Ihr Gesicht ist blass und angespannt, weil sie zu wenig geschlafen hat, denn seit Abi aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen ist, muss Joy sie jede Stunde wecken. Das Mädchen hat eine Gehirnerschütterung, und es besteht die Gefahr eines Komas, wenn sie in den ersten vierundzwanzig Stunden in Tiefschlaf fällt.

Pal ist unterwegs, um Bandagen, Schmerzmittel und Wasserstoffperoxid zu besorgen. Joy muss gleich zur Arbeit, sie wird das kurze Stück zu Fuß gehen, und wenn sie weg ist, ist Eli dafür verantwortlich, seine Schwester stündlich zu wecken.

»Es ist wirklich wichtig«, sagt Joy. »Wehe, du vergräbst dich in deinen Heften und vergisst es.«

Es ärgert ihn, dass sie ihm wieder einmal unterstellt, alles zu vermasseln, aber vielleicht wirft sie ihm auch vor, gestern Abend nicht gut genug auf Abi aufgepasst zu haben. Du hättest sie wirklich besser im Auge behalten müssen, tadelt er sich selbst. Das war dumm, dumm, dumm!

Abi brabbelt im Schlaf etwas Unverständliches.

»Sie klingt wie früher, als sie noch Marsianisch gesprochen hat. Weißt du noch?«, sagt Eli. »Da habe ich immer für dich übersetzt: ›Sie sagt, sie will Pop-Tarts und ein Glas Schokomilch.‹«

»Die Stunden, die ich damit zugebracht habe, sie zur Sprachtherapie zu bringen, wo sie gelernt hat, was sie mit der Zunge tun muss, um das ›th‹ hinzubekommen«, sagt Joy. »Dabei war sie einfach nur zu faul, um normal zu sprechen.«

Eli langzuckt zwei oder drei Mal. Seine Mutter wirft ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Jesus Murph, wieso bloß konnte ich keine normalen Kinder bekommen?«, murmelt sie.

Weil du nicht normal bist, denkt Eli.

Seine Mutter macht sich auf den Weg zu McDonald’s und verspricht, anschließend Burger, Pommes, Apfelkuchen und Cola mitzubringen und eine Käsepizza für ihren vegetarischen Sohn zu besorgen.

Eli holt sich eins seiner Hefte und setzt sich auf ein Kissen auf dem Boden, gleich neben Abis Leihbüchereistapel mit Naked Lunch von William S. Burroughs, Metropolitan Life von Fran Lebowitz, Andy Warhols Philosophiebuch, dessen Einband gestaltet ist wie eine Suppendose von Campbell’s, und einem Fotoband von Diane Arbus.

Am letzten Tag ihres Lebens stieg Diane Arbus vollständig angekleidet in eine Badewanne und schnitt sich die Pulsadern auf. »Bis auf die Sehnen!«, hat Abi Eli erzählt. Er tritt das Arbus-Buch unters Bett, weil er nicht an diesen Selbstmord denken will, vor allem nicht, weil seine Schwester gern lange in der Badewanne liegt. Wird er sich ab jetzt immer zu Tode ängstigen, wenn sie ein Bad nimmt?

Draußen wirft jemand Körbe auf dem Platz neben ihrem Haus und das Geräusch des aufprallenden Balls beruhigt seine Nerven. Während er zuhört, skizziert er die Fantasiewohnung, die Abi und er in Manhattan mieten werden. Nach langem Hin und Her hat sich Abi für das Viertel Hell’s Kitchen entschieden. »Nicht zu weit nördlich, nicht zu weit südlich«, lautete ihre Begründung. »Und ich mag den Namen. Findest du nicht auch, Hell’s Kitchen klingt, als würden dort Hexen in ihren Kesseln voller Salamanderblut, Hundeschwänzen und Opossumgedärmen rühren?«

Seine Zeichnung soll eine Überraschung für Abi sein, wenn sie aufwacht. Er zeichnet vier kleine Kreise auf den Herd in der Küche. Die Manhattaner Wohnung wird klein sein, hat Abi ihn gewarnt, daher weiß er, dass er es mit der Größe nicht übertreiben darf. Er wird Abi das einzige Schlafzimmer überlassen und selbst auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Während er das Badezimmer zeichnet – Wanne, Toilette, Waschbecken –, hört er die Wohnungstür aufgehen. Kurz darauf steht Pal in Abis Tür, in der Hand eine große braune Einkaufstüte aus Papier. Er kommt herein und setzt sich neben seinen Sohn auf den Boden. Hastig schlägt Eli eine neue Seite auf, um das Ziel der Großen Flucht vor Pal zu verbergen.

Der kramt in der Einkaufstüte herum und zieht ein neues schwarzes Spiralheft hervor. »Hab ich dir mitgebracht«, flüstert er.

»Danke.« Pal bringt ihm nie Geschenke mit. Ist sein Vater dabei, sich zu ändern? Er hat mit dem Rauchen aufgehört und war schon seit Monaten nicht mehr sturzbetrunken.

»Hast du Abi die Flasche Whiskey gegeben?«, fragt Eli.

»Wovon redest du da, Junge?«

»Sie hat gesagt, das hast du.«

Abi brabbelt mehr Unverständliches im Schlaf.

»Du darfst nicht alles glauben, was dieses Mädchen sagt. Sie lügt genauso viel wie du.« Pal wirft Eli einen durchdringenden Blick zu. »Jetzt, wo deine Mutter nicht da ist, will ich wissen, ob Abi tatsächlich aus diesem Jeep gefallen ist.«

»Ich hab doch gesagt«, braust Eli auf, »dass es ein Unfall war!«

Das also ist der Grund für das Geschenk: Pal will die Wahrheit aus ihm herauskitzeln. Eli langzuckt und hat Angst, dass er gleich anfangen wird zu heulen. Eine Weile sitzen Pal und er schweigend da und lauschen dem Aufprallen des Basketballs. Als Eli seinen Vater wieder ansieht, sind die Lider des Mannes rot wie Schabefleisch, als würde auch er gleich anfangen zu weinen. »Ich muss meine Rennmäuse füttern«, murmelt Eli, steht auf, geht durch den Flur in sein Zimmer und legt Hefte und Bleistift auf seinen Schreibtisch.

In Utah steht Barney und Bernice eine Art Apartmentkomplex zur Verfügung, drei separate Plastikkäfige, die unter Elis Fenster stehen und durch Röhren miteinander verbunden sind. Das Ganze sieht aus wie ein Weltraumgebilde, wie etwas aus der Zeichentrickserie Die Jetsons. Auf dem Boden des kleinsten Käfigs liegt Bernice auf der Seite, die Augen geschlossen, die Beine steif von sich gestreckt. Eli fällt auf die Knie und starrt das reglose Tier an. Bernice sieht so tot aus wie eine Kaninchenpfote an einem Schlüsselring.

Am nächsten Tag gibt es ein Erdbeben. Kein verheerendes Katastrophenfilm-Beben mit einem die Menschheit rettenden halbnackten Charlton Heston, sondern ein leichteres, das im Supermarkt dafür sorgt, dass Sachen von den Regalen purzeln und von der Decke hängende Sonderangebotsschilder über den Köpfen der Kundschaft, darunter auch Joy, hin und her schwingen. Eli und Pal, die im Rambler unterwegs sind, bekommen das Erdbeben erst mit, als sie im Autoradio davon hören.

Pal fährt mit seinem Sohn zu der Stelle am Fuß der Berge, an der Abi ihren »Unfall« hatte. Es war Abis Idee, Bernice dort zu begraben. Sie hat Eli den Sarg für die Rennmaus geschenkt, eine Zigarrenkiste aus Blech, die sie für einen Dollar auf einem Hausflohmarkt in Middlesex gekauft hatte. Auf dem Deckel ist eine farbige Manhattan-Karte zu sehen – der Central Park ein Rechteck aus leuchtendem Grün, während die U-Bahnlinien die Insel kreuz und quer durchziehen wie Adern. Eli hatte ein schlechtes Gewissen, diese schöne Kiste für die sterblichen Überreste der Rennmaus anzunehmen, aber Abi hat darauf bestanden. »Bernice ist gestorben, damit ich leben kann«, hat sie, immer noch im Bett liegend, zu ihm gesagt. »Ich werde es vermissen, in ihr zu wohnen. Sie war eine so stille, sanfte Seele. In ihr zu sein war, als wäre man in einem buddhistischen Tempel.«

Eli hat die Zigarrenkiste mit Streu ausgepolstert und Bernice darauf gebettet. Jetzt, auf dem Beifahrersitz, hält er die Dose feierlich auf dem Schoß und denkt voller Mitleid an den armen Barney, den trauernden Hinterbliebenen, der jetzt ziellos im größten der Weltraum-Käfige in seinem Hamsterrad herumrennt.

Barney und Bernice haben nie Interesse daran gezeigt, sich zu paaren. »Vielleicht sind sie asexuell. Oder homosexuell«, hat Eli einmal zu Abi gesagt. Worauf sie geantwortet hat: »Oder sie sind Geschwister und wollen keine Mutanten-Kinder mit zwei Köpfen und fünf Beinen.«

Pal findet den Zeltplatz am Hang ohne Probleme. Bevor sie losgefahren sind, hat Eli ihm die Stelle auf der Karte gezeigt, die immer im Handschuhfach liegt. Jetzt hält Pal am Straßenrand an und schaltet die Warnblinkanlage ein. »Ich hole den Spaten aus dem Kofferraum«, sagt er.

Sie werden Bernice nicht genau an der Stelle begraben, an der die Sanitäter Abi auf einer Trage hochgebracht haben. Dort ist es ihnen zu offen. Stattdessen entscheidet sich Eli für eine Stelle im Wald, außer Sicht der Camper, die gerade dabei waren, sich lautstark über die Stärke des Erdbebens zu streiten, als er und Pal an ihnen vorbeikamen.

»Vier Komma zwei auf der Richterskala.«

»Nie im Leben. Es waren mindestens fünf.«

Im Wald gräbt Pal ein so tiefes Loch, dass Eli sagt: »Da drin könnten wir einen Waschbären beerdigen.«

»Wir wollen schließlich nicht, dass ein Waschbär die gute Bernice ausgräbt, oder?«

Eli hat die Blechdose mit Malerkrepp zugeklebt. Hätte er lieber Isoband nehmen sollen? Als die Dose auf dem Grund des Lochs liegt, sagt Pal: »Wie wär’s mit einem Gebet?« Das soll ein Witz sein: Pal ist der Atheistischste von ihnen und hat den katholischen Priestern an der katholischen Schule, die er vor Jahrzehnten besucht hat, nie verziehen, dass sie ihn mit Zollstöcken und manchmal mit Fäusten traktiert haben.

»Lieber Gott, mach mich klug, Blöde gibt es schon genug«, rezitiert Eli.

Pal grinst. »Ich erinnere mich. Das hat sich Abi ausgedacht, als sie noch klein war.« Er hält Eli den Spaten hin. »Willst du Bernice den letzten Dienst erweisen?«

Eli nimmt den Spaten, schaufelt Erde auf die Manhattan-Dose und hat dabei das merkwürdige Gefühl, Abis Traum zu begraben. Er richtet den Blick in den dunklen Wald, auf die majestätischen Bäume, die laublosen Sträucher, die überall aus der Erde ragenden Felsen, und mit brutaler Plötzlichkeit wird ihm klar, wieso sich Abi aus Donny Osmonds Jeep fallen ließ.

Weil der Tod die Große Flucht ist.

Er wirft den Spaten hin, kann nicht weitermachen. Wieso hat er sich bereit erklärt, hierher zurückzukommen, zum Ort des furchtbaren Geschehens? Er muss verrückt sein, Douglas-verrückt. Als er aufstöhnt, versteht Pal ihn falsch und sagt: »Das mit Bernice tut mir ehrlich leid, Junge.«

Er macht einen Schritt auf Eli zu, um ihn zu umarmen, aber der Junge weicht zurück. Er verspürt eine Wut, die er nicht versteht, aber sie ist wie Lava, die aus dem Erdkern hochblubbert. Er hebt den Spaten auf und stellt sich vor, wie er damit ausholt und ihn seinem Vater über den Kopf zieht. Plötzlich will er den Mann umbringen, seine Leiche in dieser unberechenbaren Erde begraben, die ohne Vorwarnung unter einem erbeben kann.