Der kleine Vorgarten ist zubetoniert, eine Statue von der Größe eines Erstklässlers steht in der Mitte. Das Gebilde aus rostigen Fahrrad- und Autoteilen sieht aus wie ein Roboterkomparse aus Krieg der Sterne. Es gibt drei Wohnungen im Haus, Eli will in die im Erdgeschoss. Eine Außentreppe windet zu sich den beiden oberen Wohnungen hinauf. Die Reisetasche in der Hand geht er auf die Tür zu. Vielleicht ist die Adresse, die er sich aus Joys Adressbuch abgeschrieben hat, falsch oder nicht mehr aktuell? Aber als er das an die Tür geklebte handgemalte Schild sieht, weiß er, dass er hier richtig ist. Es ist eine Abwandlung des üblichen Schilds, mit dem »les colporteurs«, also Vertreter, Haus-zu-Haus-Verkäufer und Drücker, ferngehalten werden sollen.
Pas de Cole Porter
Pas de »In the Still of the Night«
Pas de »It’s De-Lovely«
Pas de »I’ve Got You Under My Skin«
Ha! Er stellt die Tasche auf einen Campingstuhl unter dem Briefkasten und fühlt sich schmierig und schmutzig, weil er in der Jugendherberge nicht gut geschlafen hat. Das Zimmer roch nach schimmligen Badetüchern und kam ihm beengter vor als ein Rennmauskäfig (was ihn an den armen Barney erinnerte, den er zurückgelassen hat). Fünf andere junge Männer, alle älter als Eli, schliefen in den anderen Betten. Einer von ihnen schrie im Schlaf.
Es ist früher Nachmittag, der Himmel ist schwimmbadtürkis. Vielleicht ist niemand zu Hause. Dann kann er sich immer noch hinsetzen und warten. Er klingelt, bemerkt hinter dem dünnen Vorhang an der Glastür eine Bewegung. Schritte nähern sich, die Tür wird geöffnet, ein Mann in einem Hawaiihemd sieht ihn ohne jedes Zeichen des Erkennens an. Doch dann legt sich ein breites Lächeln über sein Gesicht. »Sieh an, sieh an, was die Katze da ins Haus geschleppt hat«, sagt der Mann. »Aus meinem kleinen Patenkind ist ein Mann geworden, verdammt nochmal.«
Der Pate tritt in seinen Cowboystiefeln auf die Terrasse und umarmt Eli so ungestüm, wie Eugene senior seinen Sohn umarmt. Eli errötet. Er ist inzwischen größer als der Pate, und während der Umarmung sieht er unter der schwarzen Schmalztolle des Mannes einen grauen Ansatz sprießen.
»Für wie lange bist du in Montreal?«, fragt der Pate, nachdem er den Jungen losgelassen hat.
»Pour toujours.«
»Für immer? Das ist lange.«
»Kann ich bei dir wohnen?«, fragt Eli, um diesen unangenehmen Punkt hinter sich zu bringen. Er ist auf ein Nein gefasst; aber er hat noch Nanny als Reserveadresse.
»Du willst bei mir wohnen?«
»Du hast versprochen, dich um mich zu kümmern, du bist eine rechtlich bindende Verpflichtung eingegangen, als du mein Pate geworden bist.« Eigentlich wollte Eli witzig klingen, doch müde, wie er ist, klingt seine Stimme ernst, fast vorwurfsvoll.
Trotzdem lacht der Patenonkel. »Ich soll mich um dich kümmern, wenn deine Eltern tot sind. Haben sie den Löffel abgegeben, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hat, es mir zu sagen?«
»Ja, sie sind abgekratzt.«
Das Gesicht des Patenonkels erstarrt.
Eli lächelt, um zu zeigen, dass das ein Witz war, aber für ihn sind die Elterneinheiten unwiderruflich und unabänderlich gestorben.
Am Abend besteht der Pate darauf, dass Eli bei Pal und Joy anruft, um ihre Erlaubnis für seinen Aufenthalt in Verdun einzuholen. »Deine Schwester dachte, du wärst nach New York getrampt! Ausgerechnet nach New York!«, sagt Joy. »Du verdammter Idiot hast uns einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Noch dazu gleich nach der Nummer, die Abi abgezogen hat. Wir wollten schon die Polizei rufen und dich vermisst melden. Konntest du nicht ein einziges Mal an jemand anderen denken als an dich selbst?«
An sich selbst denken: Um zu überleben, wird er das von nun an konsequent tun müssen.
»Meinetwegen kannst du eine Weile bei Carol wohnen, aber Familienangelegenheiten bleiben gefälligst in der Familie, hast du mich verstanden?«, fährt Joy fort, womit sie sagen will, dass der Pate kein richtiger Jones ist und auf keinen Fall in das große Geheimnis eingeweiht werden darf.
»Ich halte den Mund«, versichert Eli seiner Mutter.
»Übrigens habe ich Pal und Abi nicht gesagt, dass ich die Katze aus dem Sack gelassen habe. Wir drei waren uns einig, dich da rauszuhalten.«
»Und wie lange wolltet ihr mich anlügen? Für immer?«
»Wir haben dich nicht angelogen. Solange du es nicht wüsstest,« – an dieser Stelle wird ihre Stimme ein bisschen zittrig – »dachten wir, könnten wir alle so tun, als sei es nie passiert, zumindest dir gegenüber.«
Es. Das unaussprechliche, unfassbare Es. Es widerspricht jeder Logik. Selbst in den vielen grauenhaften Fernsehfilmen, die seine Mutter sich jede Woche ansieht – über Ehebruch, Magersucht, Prostitution, prügelnde Ehemänner – würde nichts so Monströses wie dieses Es je vorkommen.
»Willst du deine Schwester oder deinen Vater sprechen?«
»Pal nicht.«
»Dann hole ich Abi.«
Auch mit ihr will er nicht reden; er schämt sich, weil er abgehauen ist, als sie ihn brauchte. Fast will er schon auflegen, als Abi den Hörer nimmt. »Hey, Jones«, sagt sie ganz beiläufig.
Er versucht, etwas zu sagen, stottert aber nur und fängt dann an zu weinen. Was für ein unerträgliches Baby er geworden ist. Er sollte endlich erwachsen werden.
»Nicht weinen, mein kleiner Kohlkopf.«
»Kohlkopf« ist ein französischer Kosename und klingt so lächerlich, dass seine Tränen versiegen. »Ich bin so ein Feigling«, sagt er laut schniefend. »So ein Schwächling.«
»Du bist kein Schwächling«, versichert sie ihrem Bruder. »Du bist stark. Du bist wie Mikhail Baryshnikov. Du hast dich aus einem brutalen Staat abgesetzt, der von einem wahnsinnigen Despoten regiert wird. Jetzt bist du frei, also sei glücklich. Auch für mich.«
»Du bist nicht glücklich.«
»Ich meine, sei an meiner Stelle glücklich, sei glücklich, weil ich es nicht sein kann.«
Eine eins achtzig große Flasche Smirnoff aus demselben aufblasbaren Plastikmaterial, aus dem Planschbecken gemacht sind. Ein mannsgroßer rosaroter Panther aus Plüsch, der nach neuem Teppichboden riecht. Solche Sachen stehen in Caroline Jones’ altem Zimmer herum. Nicht gerade ein minimalistisches Mekka. Deshalb, und obwohl Caroline nicht mehr hier lebt, zieht Eli es vor, auf der Ausziehcouch in dem kleinen, fensterlosen Kabuff zu schlafen, das der Pate großspurig »das Arbeitszimmer« nennt.
Caroline ist etwa ein Jahr vor Elis Ankunft ausgezogen. Sie besucht eine Schauspielschule und lebt mit einem Schauspieler aus Quebec zusammen, der eine der Hauptrollen in einer Kindersendung spielt, einen Flickschuster, dessen Stiefel voller Löcher sind (es gibt eine französische Redensart über Schuster, die ihre eigenen Schuhe nie flicken). Um sich von ihrem launischen Flickschuster zu erholen, kommt Caroline manchmal für ein paar Tage nach Hause. Ihr Selbstbewusstsein ist größer als ihre aufblasbare Wodka-Flasche. »Ich bin eine gute, nein, eine unglaublich gute Schauspielerin, und ich weiß, dass ich ganz groß rauskommen werde«, sagt sie zu Eli. »Es ist nur eine Frage des Wann, nicht des Ob.«
»Versprich mir, dass du immer so bescheiden bleibst«, witzelt Eli.
»Bescheidene Schauspieler sind Schauspieler, die schauspielern.«
An einem Wochenende, das Carol bei einer seiner »Damenbekanntschaften« verbringt, steht Eli nachts auf, um sich noch etwas zu essen zu holen. Ganz normale Getreideflocken. In Kanada isst er nicht mehr so viel süßen Dreck. Caroline folgt ihm in die Speisekammer und küsst ihn so hart, dass er mit einer blutigen Lippe rechnet. Er erlebt seinen ersten richtigen Geschlechtsverkehr auf dem Boden dieser Speisekammer, Caroline auf ihm. Dabei fällt eine offene Fettuccini-Schachtel von einem Regal und die Nudeln verteilen sich wie Mikadostäbchen rund um ihre nackten Körper.
Mit der Zeit passiert der Sex immer häufiger, jedes Mal, wenn Carol nicht da ist. Eli hätte eigentlich erwartet, dass Sex mit einem Mädchen (einer Frau: Caroline ist zwanzig) sanfter ist als Sex mit einem Jungen (der, findet er, fast einem Ringkampf gleichkommt). Die Maries waren sanft, Caroline ist es nicht. Wie Junior schlägt und beißt sie gern und verteilt gelegentlich sogar Boxhiebe. Im Schwimmbad sind ihm die blauen Flecken überall auf seinem Körper manchmal peinlich. Er sieht aus wie ein misshandeltes Kind.
Caroline ist die Einzige, der er die Junior-Episode anvertraut, und sie benutzt sie, um ihren Vater auf eine falsche Fährte zu locken. »Weißt du, dieser Junge aus Chicago, der Eli oft anruft«, sagt sie zu ihrem Vater. »Der ist Elis fester Freund, sein Liebhaber.«
Eli hat dem Paten vorgelogen, Pals Trinkerei sei der Grund dafür, dass er von zu Hause abgehauen ist. Aber nachdem der Pate das mit Junior erfährt, vermutet er, dass auch Elis sexuelle Orientierung eine Rolle gespielt haben könnte. »Die Staaten sind zu rückständig für dich, Eli«, sagt er. »In Montreal kannst du sein, wer immer du willst. Du kannst dein wahres Ich sein.« Wenn Junior anruft und der Pate den Anruf annimmt, ist er ganz besonders freundlich. »Willst du nicht den Sommer hier bei uns verbringen?«, sagt er zu Junior. »Wir nehmen dich mit zum Skilanglaufen, und du kannst mit uns kanadischen Hinterwäldlern die Elche füttern.«
Eines Tages bittet der Pate Eli, ihm ein Foto »seines Typs« zu zeigen. Eli hat keins. »Dann sag ihm, er soll dir eins schicken. Man sollte immer Fotos von denen um sich haben, die man liebt.« Der Pate hat eine alte Keksdose voller Fotos seiner beiden Ex-Frauen und aller Damenbekanntschaften, die er im Lauf der Jahre hatte. Liegt auch ein Foto der jüngeren Joy in dieser Dose? Eli will es lieber nicht wissen.
»Junior fehlt dir sicher«, sagt der Pate. »Liebst du ihn noch?«
»Äh, ja, klar«, sagt Eli und verstrickt sich damit noch tiefer in seiner Lüge. Er hat Junior gern, Junior ist immer noch sein bester Freund, aber alle leidenschaftlichen Gefühle, die er seinetwegen hatte, haben sich auf Caroline verlagert (obwohl er nicht einmal sicher ist, ob er sie sonderlich mag, oder sie ihn). Doch wenn er es mit ihr treibt, fantasiert er manchmal trotzdem von Junior.
Eli fürchtet, der Pate könnte merken, dass seine Augen, wenn Caroline in der Wohnung ist, jeder ihrer Bewegungen folgen. Sie hat eine wundervoll feinporige Haut, wie ein Baby, wieso versteckt sie sie also unter so viel Make-up? Ihre Haare sind aschblond, aber sie färbt sie punkig-platinweiß. Ihre Areolae sind so hellrosa, dass sie fast weiß wirken. Manchmal geht sie verrückte Risiken ein, wie an dem Morgen, an dem sie Eli, als er in der Küche den Abwasch macht, die Pyjamahose runterzieht und ihn in den Hintern beißt, während ihr Vater sich keine fünf Schritte entfernt in der Speisekammer aufhält. Aber normalerweise kommt Caroline am Wochenende, und an denen besucht der Pate seine Damenbekanntschaften.
Anderthalb Jahre vergehen, in denen Eli Montreal wiederentdeckt, sein Französisch perfektioniert (er beherrscht inzwischen sogar die schriftsprachlichen Tempora), und sich an einer Cégep einschreibt. An einem Wochenende Anfang August, kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag, schießen die Temperaturen nach oben. Kein Sex bei dieser Hitze. »Too Darn Hot« – diesen Cole Porter-Song summt Caroline die ganze Zeit vor sich hin. Eli lässt kaltes Wasser in die große Badewanne mit den Klauenfüßen ein und sitzt gerade darin, als das Telefon klingelt. Caroline geht ran und macht sich mit dem Apparat an seiner langen Schnur auf den Weg zum Badezimmer.
»Er sitzt in der Wanne«, sagt sie in den Hörer. »Ich bringe ihm das Telefon.«
Eli denkt erst, es wäre Junior – er ruft oft an den Wochenenden an, weil es da billiger ist –, aber es ist Abi. Seit er sich aus dem Staub gemacht hat, hat er höchstens ein halbes Dutzend Mal mit ihr gesprochen, und es waren meistens verkrampfte, gestelzte Unterhaltungen, bei denen Eli sich selbst versicherte, seine Schwester endlich aus sich ausgetrieben zu haben, sodass sie ihn nicht mehr bewohnen kann wie irgendeinen dahergelaufenen Waschbären. Als Letztes hat er gehört, sie sei wieder zu Timothy gezogen, aber die beiden trennen sich ständig und kommen dann wieder zusammen.
»Der mehlige Pfirsich kommt also ins Badezimmer, während du in der Wanne sitzt«, sagt seine Schwester. »Was läuft da zwischen euch beiden?«
»Nichts«, lügt er, ein bisschen zu vehement. Eine weitere Lüge: »Ich habe meine Badehose an.«
»Du badest in Badehose?«
»Wir haben hier fast vierzig Grad Celsius«, sagt er, als sei das eine Erklärung. »Das sind über 100 Grad Fahrenheit.«
»Ich habe schlechte Neuigkeiten. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du sitzt, aber da du in der Wanne bist, kann ich mir das wahrscheinlich sparen.«
Sein erster Gedanke: Sie hat eine tödliche Krankheit. Die ganzen Abführmittel, die er im Lauf der Jahre für sie geklaut hat, haben einen Tumor in ihren Eingeweiden wachsen lassen, der sich ausbreitet wie die Wurzeln eines Affenbrotbaums und ihre Organe abwürgt.
»Nanny hatte gestern einen Schlaganfall«, sagt Abi. »Einen schweren. Heute Morgen ist sie gestorben.«
»Oh nein! Die arme Nanny. Ich war noch vor ein paar Tagen zum Mittagessen bei ihr und habe ihr Gazpacho gemacht. Da war sie noch völlig in Ordnung.« Das stimmt nicht: Sie hat ihn dreimal James genannt – so hieß ihr verstorbener Ehemann. Und außerdem behauptete sie, auf dem Schiff, mit dem sie als Zwölfjährige von England nach Kanada gekommen war, hätte es am Bug eine große Schaukel gegeben, damit die Kinder über den Wellen schaukeln konnten. Das konnte keinesfalls stimmen, aber Eli tat so, als sei er beeindruckt. »Muss Spaß gemacht haben«, hatte er gesagt.
»Es wird eine Beerdigung geben. Die Einheiten sind auf dem Weg nach Montreal.«
»Kommst du auch?«
»Ich kann nicht.«
»Wieso nicht? Du musst. Bitte! Nanny würde wollen, dass du kommst. Sie hat ständig gesagt, wie gern sie dich hat.«
Auch das ist eine Lüge. Ihre Großmutter hat Abi – oder Joy – nur selten erwähnt.
»Ich kann nicht weg. Ich gehe ins Douglas.«
»Ins Douglas? Wieso?«
»Also – ich weiß, dass das ein schlimmer Schock für dich sein wird, Jones, aber die allgemeine psychologische Meinung lautet, dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin.«
Mit vor Schweiß glänzenden Gesichtern gehen Eli und der Pate durch die Wellington Street, vorbei an Geschäften und Restaurants, während die Sonne, dieser glühende Ball, auf die Stadt herunterbrennt, als wolle sie alles und jeden kremieren. Ein Waschsalon, dessen Tür von einem Keil offengehalten wird, stößt Wolken noch heißerer Luft aus. Eli und der Pate haben sich den Trauergottesdienst in der nahegelegenen anglikanischen Kirche gespart, gehen aber zum Leichenschmaus, den Joy in Nannys Wohnung ausrichtet. Da es für schwarze Kleidung zu heiß ist, hat der Pate Weiß vorgeschlagen. Er selbst trägt einen weißen Seersucker-Anzug mit blauen Nadelstreifen und dazu blaue Wildlederschuhe, die von Elvis besungenen »Blue Suede Shoes«. In der Hand hat er eine Papiertüte mit einer Flasche Merlot. Eli hat sich für eine weiße Jeans und ein weißes T-Shirt entschieden und sieht, laut Caroline, aus wie »ein Meister Proper mit Haaren, dafür aber ohne Muckis.« Sie wird nicht kommen, weil sie die Nähe von Toten nicht mehr erträgt, seit sie in einer Episode einer Quebecer Krimiserie eine Leiche auf einem Seziertisch gespielt hat. »Nanny ist doch nur noch ein Häufchen Asche in einer Urne«, hat Eli sie erinnert, aber Caroline sagte: »Urnen, diese glorifizierten Aschenbecher, sind mir auch nicht geheuer.«
Als Eli und der Pate vor Nannys Haus ankommen, haben sich bereits ein halbes Dutzend Leute auf ihrem Balkon versammelt. Eli erkennt zwei seiner Onkel. Er vermutet, sie sind gekommen, um Pal zu sehen, denn Nanny kannten sie kaum. Pal hat sechs Brüder, alle groß, schlaksig und dunkelhaarig, allesamt Hohlköpfe. Seit Eli in Montreal ist, hat er sie gemieden, vor allem weil sie, bis auf den Ältesten – ein Geistlicher der United Church of Canada – allesamt Alkoholiker und teils dazu noch heroinsüchtig sind.
Die Haustür steht offen, also gehen Eli und der Pate nach oben. Auf Nannys Plattenspieler läuft »It’s Not for Me to Say« von Johnny Mathis, und der Pate singt ein paar Zeilen mit. Nanny hat die Gerüchte, Johnny Mathis sei schwul, nie geglaubt. »Mein Johnny ist kein richtiger Homosexueller«, hat sie zu Eli gesagt. »Er experimentiert nur ein bisschen.« Eli hat Junior am Telefon von dieser Unterhaltung erzählt, und Junior, der inzwischen an seiner Highschool eine Freundin hat, sagte: »Dann experimentieren wir beide wohl auch, Bruder.«
In Nannys Wohnung halten sich in jedem Raum verschwitzte Trauergäste auf. Manche fächeln ihre hitzegeröteten Gesichter mit Reklamezetteln, Briefumschlägen oder Modezeitschriften. Mehrere Tischventilatoren sind im Einsatz, reichen aber nicht aus, um wirklich Abkühlung zu bringen. Ein großer Strauß roter, weißer und rosafarbener Rosen, der neben Nannys Urne auf dem Kaffeetisch im Wohnzimmer steht, verbreitet seinen Duft.
Eine intensiv nach Haarspray riechende Frau mit aufgetürmter Hochsteckfrisur stürzt sich auf Eli und reißt ihn in ihre Arme. »Mes condoléances«, sagt sie. »Ta pauvre grand-mère.« Als sie ihn loslässt, glänzen Tränen in ihren Augen. Die Frau heißt Madame Lauzon und ist Nannys Nachbarin von nebenan. Vor einem Jahr wäre sie selbst fast gestorben, als ihr Balkon unter ihr zusammenbrach. Obwohl sie fast vier Meter tief gestürzt war, brachte sie es noch fertig, ihren Rock herunterzuziehen, bevor die Sanitäter kamen, damit Unterrock und Unterwäsche nicht zu sehen waren. »Diese Französin hat Nerven aus Stahl«, sagte Nanny voller Bewunderung.
Madame Lauzon war zum Vier-Uhr-Tee bei Nanny gewesen, als sie den Schlaganfall hatte. »Sie ist einfach umgekippt, genau unter dem Foto von Königin Elizabeth«, erzählt sie Eli und dem Paten, senkt die Stimme und wedelt mit einem Finger vor dem Paten herum. »Ach, wie Dolly Sie geliebt hat. Sie hat sich immer gewünscht, Sie wären ihr Schwiegersohn.« Ihr Blick kehrt zu Eli zurück. »Was nicht gegen deinen Vater gerichtet ist.«
»Ist er hier?« Eli sieht sich um.
»Er besorgt mehr Bier«, sagt Madame Lauzon. »Seine Brüder schütten es in sich hinein wie Limonade. Und deine Mutter ist in der Küche und macht mehr Sandwiches. Ich würde ja helfen, aber meine Arthritis spielt wieder einmal verrückt.« Sie hebt ihre Hände, deren Finger so knorrig sind wie Ingwerwurzeln. »Wie immer, wenn es heiß ist.«
Als Madame Lauzon den Paten anbettelt, »Dolly zu Ehren« einen Elvis-Song zu singen, entschuldigt sich Eli und schlängelt sich durch die Trauergäste. Im Esszimmer trifft er auf eine größere Version von Pal, einen Mann in einem halb aufgeknöpften Hemd mit Schweißflecken unter den Armen, der eine blaue, schuppige Schlange mit einem Diamanten als Auge quer über die Brust tätowiert hat. »Oh Mann, bist du etwa Pals Junge?«, fragt er. »Hölle und Verdammnis, es ist nicht zu fassen! Ich dachte, du bist so ungefähr elf, aber Joy sagt, du fängst auf einer Cégep an. Und dass du schon eine ganze Weile in der Stadt bist. Wieso hast du deinen Onkel Bill noch nicht besucht?«
Joys Spitzname für Bill lautet »Falschgeld«, weil er ihrer Meinung nach ein falscher Fünfziger ist.
»Ich hatte zu viel zu tun. Ich habe ein paar Sommerkurse belegt und arbeite in einem Sommercamp, wo ich Siebenjährigen Englischunterricht gebe.«
»Das ist doch keine Entschuldigung.« Falschgeld nimmt einen Schluck von seinem Bier, ohne den Blick von Eli zu lösen. Anschließend sagt er: »Du siehst deiner Schwester verdammt ähnlich« und streicht Eli die Ponyfransen aus der Stirn, um sein Gesicht besser sehen zu können. »Wenn du dir die Haare wachsen lassen würdest, könntest du ihr eineiiger Zwilling sein.«
»Auf keinen Fall eineiig. Dafür müsste ich Titten haben.«
»Witzig«, sagt Falschgeld, ohne die Miene zu verziehen. »Oh, übrigens, das mit deiner Großmutter tut mir leid. Da deine Großeltern auf unserer Seite schon lange tot sind, bist du jetzt so was wie eine Enkelwaise. Ist doch scheiße, oder?«
»Ziemlich.«
»Und wo wohnst du? Im Wohnheim?«
»Bei Carol Jones.«
»Diesem Elvis-Freak?«
»Er ist hier«, sagt Eli, damit der Onkel seine Stimme senkt. »Er war nett zu mir.«
»Ich könnte auch nett zu dir sein. Wir sind schließlich eine Familie.«
Das F-Wort.
»Zieh doch zu mir. Chez moi gilt das Prinzip der offenen Tür, weißt du.« Falschgeld stellt sein Bier auf den Esstisch, reißt einen Streifen von einem Reklamezettel ab, fischt einen Bleistiftstummel aus seiner Hemdtasche, schreibt seine Adresse und Telefonnummer auf und stopft den Zettel in die Tasche von Elis Jeans. »Nicht verlieren«, sagt er augenzwinkernd.
Eli entschuldigt sich und macht sich auf die Suche nach Joy. In der Küche sitzen vier alte Damen am Resopaltisch und fächeln ihre zu stark gepuderten und gerougeten Gesichter. Über ihnen dreht sich der Deckenventilator. Joy steht an der Arbeitsplatte. In ihrem knallgelben Sommerkleid, eine rote Perlenkette um den Hals, eine rote Schleife so groß wie die von Minnie Maus in den Haaren, sieht sie aus, als sei der Tod ihrer Mutter ein freudiges Ereignis für sie. Sie beugt sich über die mit Linoleum bezogene Arbeitsfläche, auf der die Zutaten für die Sandwiches bereit stehen: Schüsseln mit Thunfisch- und Eiersalat, Weißbrotlaibe, ein zerpflückter Eisbergsalat, ein Stapel einzeln abgepackter Käsescheiben und eine offene Packung Margarine von der Farbe gelber Knete.
»Hey, Joy«, sagt Eli.
Sie hebt den Kopf. Ihr Lippenstift ist genauso feuerwehrrot wie die Schleife und die Halskette. »Du bist also gekommen«, sagt sie. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich Erleichterung ab. Nicht einmal ihre normale Distanziertheit kann das verbergen.
»Tut mir leid, dass ich die Beerdigung verpasst habe.«
»Gott, ich war selbst nicht da. Mein Beitrag zu dieser Sause sind die Sandwiches.«
»Kann ich dir dabei helfen?«
»Nein, du wärst mir nur im Weg. Ich habe ein System.« Sie klatscht zwei Brotscheiben auf die Fläche, bestreicht sie mit Margarine, schöpft Eiersalat mit einem Melonenausstecher aus der Schüssel und schmiert ihn auf das Brot. »Aber du könntest einen Krug rosa Limonade für die Schreckschrauben machen.« Sie meint die vier am Tisch, die sich immer noch stumm Luft zufächeln.
Eli holt eine Büchse Grenadine-Konzentrat aus der Tiefkühltruhe und den Glaskrug aus dem Geschirrschrank mit dem aufgesetzten Tellerbord, den Nanny immer ihre Vitrine genannt hat. Auf dem obersten Bord stehen mehrere kleine Porzellanfigürchen, die es als Beigabe in Teepackungen der Firma Red Rose gab: der Lebkuchenmann, Humpty Dumpty, sogar ein Fuchs ist dabei. Als Kind hat Abi immer darum gebettelt, damit spielen zu dürfen, aber Nanny sagte jedes Mal: »Sie sind kein Spielzeug.« Eli beschließt, die ganze Bande mitgehen zu lassen.
Während er die Büchse mit dem gefrorenen Konzentrat öffnet und den rosa Glibber in den Krug plumpsen lässt, wirft Joy ihm immer wieder Blicke zu. »Du siehst gut aus«, sagt sie. »Größer. Und deine Haut ist viel klarer geworden.«
»Danke«, sagt er, dabei hatte er nie Pickel. Schon ein einziger Mitesser wäre ein Affront für Abi gewesen, die ihn jahrelang gezwungen hat, sich rigide an ihr Hautpflegeprogramm zu halten.
Aus dem Wohnzimmer erklingt die samtige Stimme des Paten, der mit Johnny Mathis und Deniece Williams »Too Much, Too Little, Too Late« singt. Eli ist dankbar, dass der Pate ihn begleitet hat. Der Mann ist keineswegs ein Freak, sondern ein Notar, der seine Berufung zum Schnulzensänger verpasst hat.
»Wenn diese Hölle vorbei ist, reden wir«, sagt Joy. »Kannst du hinterher dableiben und mir beim Aufräumen helfen?«
Er nickt und sagt dann: »Das mit Nanny tut mir leid.«
»Tja, sie war eben alt. Einundsiebzig. Es wäre ein gottverdammtes Wunder, wenn wir anderen so lange leben würden.«
Eine Weile später flüchtet Eli vor der Hitze auf den langen Balkon auf der Rückseite des Hauses. Er zieht sich über das ganze Gebäude und mündet in eine Feuertreppe aus schwarzem Metall, die sich zu einem Stückchen Garten hinunterwindet, in dem hier und da Gänseblümchen und schwarzäugige Susannen wachsen.
Eli trinkt Wein aus einer von Nannys guten goldgeränderten Teetassen. Der Merlot des Paten ist trocken und kein bisschen eichig. Eli hat es dem Paten zu verdanken, dass er sich inzwischen mit Wein auskennt.
Der Pate steht an der Feuertreppe bei Madame Lauzon, die ihn, zwei der alten Damen und einen von Pals Brüdern mit der Geschichte von ihrem Balkonsturz unterhält. »Im Fallen zog mein ganzes Leben an mir vorbei«, berichtet sie ihrem Publikum. »Alle siebenundsechzig Jahre.«
»Siebenundsechzig Jahre«, sagt der Pate. »Da müssen Sie ziemlich langsam gefallen sein.«
Eli trinkt seinen Wein und beobachtet drei kleine Kinder in der Gasse hinter dem Garten, die trotz der Hitze Hockey spielen, mit Plastikschlägern und einem orangefarbenen Ball. Er wäre gern bei ihnen, oder, noch besser, allein am Sankt Lorenz. Es gibt da einen Felsen, auf dem er gerne sitzt und schreibt und auf das vorbeifließende Wasser schaut. Dort unten am Fluss ist es kühler.
Jetzt kommt Pal mit einer Bierflasche in der Hand durch die offenstehende Balkontür gestolpert. An seinem gerötetem Gesicht, den verschwommenen Augen, dem benebelten Lächeln und dem aus der Hose hängenden Hemd erkennt Eli, dass sein Vater nicht nur einer, sondern wahrscheinlich sogar mehreren Flaschen den Hals gebrochen haben muss. Vor anderthalb Stunden ist er losgegangen, um mehr Bier zu besorgen und scheint sich noch in eine Kneipe geschlichen zu haben, bevor er zurückkam. »Junge!«, ruft er. »Was für ein erfreulicher Anblick!«
Eli hat die Stimme seines Vaters nicht mehr gehört, seit er Amerika verlassen hat. In Kanada klingt sie dämlicher, aber das kann auch am Alkohol liegen. So zerknirscht und ängstlich, wie der Mann aussieht, ahnt er vielleicht, dass Eli Bescheid weiß. Hat er Angst, ich könnte ihn vom Balkon schmeißen?, denkt Eli. Ihn vor allen Gästen bloßstellen?
»Salut, Pal«, begrüßt er ihn. »Comment vas-tu?«
»Pas mal«, antwortet Pal. »Pas pire.«
Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei, wünscht sich Eli gegen seinen Willen, sein Vater würde ihn in die Arme nehmen und sagen, er sei stolz, dass Eli sich ein neues Leben aufgebaut hat. Gleichzeitig läuft ein Selbsthass-Mantra in Endlosschleife in Elis Kopf ab: Je me déteste, je me déteste, je me déteste.
Pal hebt die Bierflasche auf genau dieselbe Weise an den Mund wie vorhin Falschgeld, als sei diese Art des Biertrinkens genetisch in den Jones verankert.
»Neulich musste ich an dich denken«, sagt Pal und fährt sich mit den Fingern über die Lippen. »Als ich Barney auf der Wiese hinter dem Komplex begraben habe.«
Es war nicht erst neulich. Abi, die sich um die Rennmaus gekümmert hat, seit Eli von zu Hause weggegangen ist, hat ihn vor zwei Monaten angerufen, nachdem es passiert war.
»Zu dumm, dass der Junge nicht bei mir ist, um Barney zu verabschieden, habe ich gedacht. Wie alt war er nochmal?«
»Über fünf, was so ungefähr 110 Menschenjahren entspricht.«
»Mannomann, das ist ja uralt.«
»Vielleicht hätte Nanny als Rennmaus geboren werden sollen.«
»Ha! Du warst schon immer ein witziges Kind. Du hast mich immer zum Lachen gebracht.«
Ach ja? Eli kann sich nicht erinnern, dass bei ihnen viel gelacht worden wäre.
»Schreibst du immer noch in deine Hefte? Übersetzt du noch? Steigerst du dich immer noch in alle möglichen Sachen rein?«
»Schon. Vor allem steigere ich mich in Sachen rein. Und ich mache immer noch die Sache mit dem blauen Ball.«
Ein verständnisloser Blick Pals, als hätte er seine Meditationseinweisung völlig vergessen, aber dann zeichnet sich verschämter Stolz auf seinem Gesicht ab. »He, ich muss dir was zeigen.« Er zieht ein Polaroidfoto aus seiner Gesäßtasche. »Ich habe es schon bei meinen Brüdern rumgezeigt, damit sie sehen können, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.« Er reicht Eli das Foto. Es zeigt Joy in einem trägerlosen rosa Sommerkleid, einen Arm über eine Maschine drapiert, die ungefähr eins zwanzig hoch ist und aussieht wie eine Kreuzung aus Kühlschrank und Klimaanlage. In der Mitte befindet sich eine rechteckige blaue Schaltfläche mit Drehknöpfen, Reglern und Skalen am oberen Rand.
»Es ist eine Apparatur, die ich entworfen und gebaut habe. Was Thermoelektrisches. Und dann habe ich deine Mutter dazu gebracht, daneben zu posieren.«
Auf dem Foto zeigt Joy ein strahlendes, gekünsteltes Lächeln, wie die Assistentinnen, die in Spieleshows die Gewinne überreichen.
»Beeindruckend«, sagt Eli und meint es sogar so, obwohl er immer noch keine richtige Vorstellung von Thermoelektrik hat. Es ist, als würde sein Verstand sich weigern, sich mit dem Thema zu beschäftigen, da es zu eng mit Pal verbunden ist.
»Es ist ein Prototyp. Weißt du, wer sich dafür interessiert? Die NASA. In letzter Zeit habe ich gedacht, dass ich mich vielleicht selbständig machen sollte, weißt du? Eine eigene Firma gründen. Ich könnte sie P. A. L.-Apparaturen nennen.«
»Wofür würden das P, das A und das L stehen?«
Sein Vater sieht ihn verständnislos an.
»Ich meine, stehen die Buchstaben für irgendwelche Worte?«
»Sie stehen für meinen Namen, Junge.«
Pal legt den Kopf in den Nacken und trinkt, wobei sein Adamsapfel aussieht wie ein echter Holzapfel, der unter der Haut seines Halses auf- und abhüpft.
Er ist genauso nervös wie ich, geht Eli auf. Vielleicht ist er vorhin losgezogen und hat sich betrunken, um seinem Sohn gegenübertreten zu können. In Eli blitzt ein Hauch von Machtgefühl auf.
Pal streckt die Hand aus, um sich ans Balkongeländer zu lehnen, schätzt die Entfernung falsch ein, kippt zur Seite und bekommt das Geländer gerade noch zu fassen. Der in diesem Moment vorbeikommende Pate sagt: »Vorsicht, Pal, sonst landest du noch unten in der Rabatte und kannst dir die Radieschen von unten angucken.«
Pal wirft ihm einen wütenden Blick zu.
»Madame Lauzon hat uns gerade von ihrem Sturz und ihrer Nahtoderfahrung erzählt«, erklärt der Pate.
Eli hat seinen Merlot nicht angerührt, während er mit Pal geredet hat, jetzt jedoch, wo sein Vater und sein Pate nebeneinanderstehen, nimmt er schnell einen Schluck aus der Teetasse.
Pal nimmt einen aus seiner Bierflasche.
»Bei dieser Hitze sollten wir alle mit dem Alkohol ein bisschen vorsichtig sein«, sagt der Pate und legt Pal eine Hand auf die Schulter.
Pal schüttelt sie ab. »Ich habe dir was zu sagen.«
Der Pate sieht ihn an, als sei er eine Wanduhr, deren Kuckuck jeden Augenblick herausgeschossen kommen wird.
»Der Junge hier, der gehört mir.« Pal deutet mit der Flasche auf Eli. »Nicht dir. Wird dir auch nie gehören.«
Mit verschwitztem Gesicht steht Pal auf wackligen Beinen da und funkelt den Paten an. Dann dreht er seine Flasche absichtlich um, sodass die letzten Zentimeter Bier auf die Seersuckerhose und die Wildlederschuhe des Paten spritzen.
Der sieht ihn nur ausdruckslos an, woraufhin Pal sich umdreht und Richtung Balkontür schlurft.
»Nein, du brauchst mir nicht dafür zu danken, dass ich mich um deinen Jungen gekümmert habe«, ruft der Pate ihm hinterher. »Das habe ich aus reiner Herzensgüte gemacht.«
Eli zuckt zusammen, absolut sicher, dass Pal mit geballten Fäusten zurückkommen wird, aber sein Vater dreht sich nur um und sagt: »Er braucht niemanden, der sich um ihn kümmert. Was, Eli?«
Eli schweigt, dann langzuckt er.
Pal stolpert weiter in die Wohnung.
»Tut mir leid«, sagt Eli zum Paten, der die Flecken auf seiner Hose und seinen Schuhen beäugt.
»Entschuldige dich nie für diesen Kerl, mein Junge.«
Eine Haarbürste, ein Kamm und ein Handspiegel aus Sterlingsilber, jeweils graviert mit einem geschwungenen D, M und D (für Dolores Margaret Duckworth) liegen auf Nannys Kommode. Eli nimmt die Bürste in die Hand. Sie ist schwer genug, um einen Schädel zu zertrümmern. Er überlegt, ob er sie in einer von Nannys Kommodenschubladen verstecken soll, fährt sich stattdessen damit durch die Haare und legt sie wieder hin. Joy ist in der Art von Stimmung, in der es nicht unvorstellbar wäre, dass sie zuschlägt. »Einmal Schlampe, immer Schlampe«, tobt sie, während sie von Zimmer zu Zimmer stürmt und Papierteller, Servietten und Plastikbecher einsammelt und in eine Mülltüte stopft.
Die Schlampe, die sie meint, ist Fay, die Tochter von Pals zweitältestem Bruder, die im Norden der Provinz Quebec lebt. Eli kennt sie kaum und hat sie auf dem Empfang nur am Rand wahrgenommen. Sie kam gegen Ende hereingerauscht und hat sich kurz darauf mit Pal und Falschgeld davongemacht. Als Eli jetzt an sie denkt, sieht er sie als Fay Wray, King Kongs Freundin, weil beide lange, wellige Haare haben.
»Sie sagen, sie haben einen Kneipenzug gemacht, aber glaub mir, Pal hat in der Wohnung dieser Schlampe eine schnelle Nummer mit ihr geschoben.«
Eli, der staubsaugen soll, macht Nannys Bodensauger wieder an. Dessen langes Gehäuse sieht aus wie die Roboterversion eines Dackels. Während er das Ding durch die Wohnung zieht, redet Joy ununterbrochen weiter, obwohl das, was sie sagt, fast komplett übertönt wird. Eli bewegt sich von Zimmer zu Zimmer, zieht das Kabel aus der einen Steckdose und steckt es anderswo wieder ein. Im Wohnzimmer stößt er mit dem Sauger versehentlich gegen den Kaffeetisch, aber zum Glück kippt Nannys Urne, ein Ungetüm aus Bronze, nicht um. Als der Motor wieder einmal kurz aus ist, hört Eli seine Mutter sagen: »Fay ist der verdammte Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. Ich verlasse das Arschloch.«
Ach wirklich, denkt Eli. Wieso war nicht Abi der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte? Wieso war nicht sie der ganze Eimer, der das Fass überschwappen ließ?
Später, als Eli und Joy die Böden gewischt, das Geschirr abgewaschen und die Toilette und das Waschbecken saubergemacht haben, setzen sie sich auf den vorderen Balkon und beobachten die Leute, die im sanften Abendlicht unten vorbeigehen. Der Himmel hat die Farbe von schmelzendem Orangeneis angenommen. Obwohl die schlimmste Hitze vorbei ist, sind beide schweißgebadet. Elis weißes T-Shirt klebt an ihm, unter dem Stoff zeichnen sich seine Brustwarzen ab, was ihm peinlich ist. Die rote Schleife in Joys Haaren ist verrutscht und sitzt jetzt schief wie eine Baskenmütze. Am liebsten würde Eli sie ihr herunterreißen. Er hat sich eine Käsepizza bestellt, die Joy sich nicht mit ihm teilen wollte, aber er hat ihr ein Stück auf einen Teller getan, und Joy knabbert immer wieder daran, während sie an ihrem Pulverkaffee nippt.
Nannys Urne steht zwischen ihren beiden Balkonstühlen. Joy hat sie dorthin gestellt, weil Nanny ihre Abende gern damit verbrachte, über die Riverview Avenue zu wachen und ihre Nachbarn auszuspionieren.
An die Urne gerichtet sagt Joy: »Und? Hat die Party dir gefallen, Mum?«
»Sie muss ihr gefallen haben«, antwortet Eli. »Sie hat Besuch geliebt.«
»Aber sie war nie mit irgendwas zufrieden, was ich für sie getan habe. Ich glaube, sie wollte nie ein Kind. Weißt du, dass sie eine Abtreibung hatte, als ich vier war? Zweifellos bei irgendeinem Quacksalber mit einem Kleiderbügel, weil Abtreibungen damals verboten waren.«
Unten auf der Straße schiebt eine Frau einen Kinderwagen vorbei.
»Du hast einen ganzen Monat im Bett gelegen, nicht wahr, Mum?«, sagt Joy zur Urne. »Und geblutet und geblutet. Fast wärst du gestorben.«
Eli hat schon von der Abtreibung gehört, und zwar von Abi, die behauptete, die Flecken auf der Matratze im früheren Zimmer ihres Großvaters stammten von Nannys Abtreibungsblut.
»Ich musste auf einem Klappbett in der Küche schlafen«, fährt Joy fort. »Gleich neben der Wolldecke für den Hund. Erst als ich vierzehn war und wir in eine größere Wohnung gezogen sind, habe ich ein eigenes Zimmer bekommen.«
Diese Klage hat Eli schon Trillionen Male gehört.
»Nicht jeder ist fürs Elternsein gemacht, stimmt doch, Mum, oder?«, sagt sie zur Urne. Und zu Eli: »Dich und Abi sehe ich auch nicht als Eltern. Nichts für ungut, aber keiner von euch beiden hat das Zeug dazu.«
Er widerspricht ihr nicht, obwohl er die Kinder im Sommerlager großartig findet. Sie nennen ihn »Monsieur«.
»Ich dagegen wollte immer Kinder haben. Übrigens hättest du fast einen älteren Bruder gehabt, wusstest du das?«
Zwei Jahre vor Abis Geburt hat Joy einen kleinen Jungen verloren, der im siebten Monat tot geboren wurde, weil sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt hatte. »Der kleine Kerl war schlau«, hat Abi einmal zu Eli gesagt. »Er hat sich rechtzeitig aufgehängt.«
Auf der Straße kommt es zu einem Streit über den Parkplatz hinter Pals Rambler. Zwei Fahrer beschimpfen sich gegenseitig, werfen sich die Namen von Gegenständen an den Kopf, die in jeder katholischen Kirche zu finden sind: Kelch, Hostie, Tabernakel. In Quebec flucht man auf diese Weise. Nachdem einer der Männer mit quietschenden Reifen davongebraust ist, findet Eli den Mut, seiner Mutter zu sagen: »Als ich noch klein war, hast du mich ständig geschlagen.« Ihre Augen blitzen auf vor Kelch-Hostien-Tabernakel-Wut.
»Ach, sei nicht so ein Weichei! Du warst nun mal ein schreckliches Kind. Ständig hast du gelogen und dich in alles Mögliche reingesteigert. Du wolltest nichts Grünes anziehen. Keine Fernsehsendungen mit Lachkonserve sehen. Nichts essen, was Knochen hatte. Die Liste war endlos. Es war nicht auszuhalten. Es hat mich verrückt gemacht. Wenn ich dich nicht umgebracht habe, dann nur, weil Pal mich davon abgehalten hat. ›Du kannst es nicht aus ihm rausprügeln‹, hat er gesagt. Das zumindest kannst du deinem Vater zugutehalten.«
Pal, mein Retter, denkt Eli, und merkt erst dann, dass er ein Palindrom benutzt hat.
»Du verlässt ihn also endlich?«
Sie steckt sich eine Kool an, bläst einen Rauchring in die Luft, zerrt die Schleife aus ihren Haaren und wirft sie beiseite.
»Du könntest Nannys Wohnung übernehmen«, schlägt er vor. »Du könntest dem Vermieter sagen, dass du sie haben willst. Und du findest ganz sicher einen Job in Montreal.«
»Wer würde mich denn nehmen? Mon français, c’est de la marde.«
»Pal könnte dir Geld schicken. Palimente.«
»Ich würde nie auch nur einen Cent aus diesem Mistkerl rausschlagen.«
»Vielleicht könntest du dich wieder mit Carol zusammentun.«
Was redet er denn da? Der arme Carol!
»Der Typ hat ein Dutzend Mädchen am Laufen.«
»Nein, nein, höchstens ein halbes Dutzend.«
»Ha.«
Der Pate hatte sich kurz nach dem Vorfall mit dem umgekippten Bier verabschiedet, um die Nacht bei einer seiner Damenbekanntschaften, einer Frau namens Gigi, zu verbringen. Sie hat einen grün-gelben, zweisprachigen Papageien, der jeden entweder mit »Hé, imbécile« oder »Hey, du Idiot« begrüßt.
»Ich bin froh, dass du bei Carol wohnst. Falschgeld hat vorhin zu mir gesagt, er würde dich auch bei sich aufnehmen, aber mach das bloß nicht. Er mag Jungen im Teenageralter ein bisschen zu sehr, falls du weißt, was ich meine.«
Eine Stimme in Elis Kopf sagt: »Vielleicht schläft er aus Liebe mit ihnen.«
»Es gibt noch etwas anderes, worüber ich mit dir reden will«, sagt Joy dann. »Nanny hatte ein bisschen Geld. Kein Vermögen, aber ein kleines Finanzpolster. Vierzehntausend Dollar. Sie hat sie mir vermacht.«
»Toll.« Er legt sein Stück Pizza beiseite. »Damit kannst du doch in Montreal neu anfangen.«
»Ich gebe es dir und deiner Schwester.«
»Was? Alles?« Seine Eltern haben ihm keinen einzigen Cent geschickt, seit er weggegangen ist.
»Ja. Zahl damit das College. Oder kauf dir einen Computer.«
»Mann, danke!« Er hat bereits einen verdammt teuren mit einem toastscheibengroßen Bildschirm im Auge.
»Abi ist nicht fürs College gemacht. Ihre Hälfte wird für ihre Psychiater und Therapien aufkommen. Sie bläst ständig Trübsal, und das deprimiert mich.«
»Es gibt einen Grund für die Trübsal.«
Das unaussprechliche Es.
»Ach, hör auf. Sie benutzt es als Entschuldigung, um nicht in die Schule oder zur Arbeit zu gehen oder beim Abwasch helfen zu müssen. Und Pal fühlt sich zu schuldig, um ein Machtwort zu sprechen. Sie ist jetzt neunzehn! Manchmal denke ich, sie ist wie ein autistisches Kind, das ich mein ganzes Leben lang am Hals haben werde. Hoffentlich kriegen die Psychiater sie wieder hin.«
Wird Abi ihnen erzählen, was Pal gemacht hat? Und falls ja, was werden die Psychiater tun? Ihn anzeigen?
Joy bläst weitere Rauchringe. »Als Kind wurde ich auch missbraucht«, sagt sie.
»Um Gottes Willen! Wirklich?«
»Ich war zwölf und habe bei meiner Freundin Sandra übernachtet, nur ein paar Blocks von hier entfernt. Mitten in der Nacht kommt ihr Vater ins Zimmer, schiebt die Hand unter mein Nachthemd und fängt an, mich zu anzufassen, obwohl Sandra keinen Meter entfernt liegt. Ich bin starr vor Angst und weiß nicht, was ich machen soll. Als ich anfange zu weinen, hört er endlich auf und verzieht sich.«
»Gott, wie furchtbar.«
»Aber halte ich mich etwa ständig damit auf? Nein, ich arbeite trotzdem, ich habe Kinder großgezogen. Ich habe es hinter mir gelassen.«
Eli stellt seinen Teller ab. Ihm ist der Appetit vergangen.
»Es war unser eigener Vater«, sagt er mit jetzt schriller Stimme. »Und es ist drei Jahre lang immer und immer wieder passiert. Das ist ein Unterschied.«
Ein grimmig-entschlossener Blick seiner Mutter. Sie wird sich weigern, den Unterschied zu sehen. Eli steht auf. »Ich hole mir ein Glas Wein«, sagt er mit wieder normaler Stimme. »Willst du auch was?«
Sie schüttelt den Kopf, beobachtet zwei keckernde Eichhörnchen, die sich gegenseitig einen Baum hinaufjagen.
Er geht rein und bleibt eine Weile in Nannys Wohnzimmer stehen, während sein Herz wie wild in seiner Brust herumhämmert. Dann geht er statt in die Küche zur Wohnungstür, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, durch die Haustür und dann die kleine Treppe zur Straße hinunter.
Als er davonhastet, entdeckt ihn seine Mutter, die noch auf dem Balkon sitzt. »Ja, Eli, lauf weg!«, ruft sie ihm nach. »Das ist das Einzige, was du kannst.«
Der rosarote Panther und die Wodkaflasche aus Plastik sehen in der Dunkelheit bedrohlich aus, Soldaten, die rechts und links von Carolines Bett Wache stehen. Es ist nach ein Uhr morgens. Eli ist gerade von einem langen Spaziergang zurück, ist kreuz und quer durch die von Touristen überlaufenen kopfsteingepflasterten Straßen von Old Montreal gewandert, um einen klaren Kopf zu bekommen. Auf der Place Jacques-Cartier drehte ein Clown Ballons zu Wiener Würstchen, ein Karikaturist verwandelte irgendjemandes leichten Überbiss in eine monströse Entstellung, Straßenmusiker sangen Folk-Rock-Songs von Harmonium und Beau Dommage. Als es Mitternacht wurde, hatte die drückende Hitze sich gelegt, und es war eine wundervolle Sommernacht. Viele der Menschen, sowohl Mädchen als auch Jungen, sahen in Elis Augen so umwerfend schön aus, dass er sich zusammenreißen musste, um nicht die Hand auszustrecken und sie zu berühren.
»Caroline?«, flüstert er. »Schläfst du?«
Im Dunkeln kann er sie kaum sehen, weiß aber, wie sie aussieht: Sie schläft immer auf dem Bauch, das Gesicht von den Haaren verdeckt.
»Verdammt, Eli«, murmelt sie benommen. »Ja, ich schlafe. Ich habe morgen früh Probe.«
»Kann ich bei dir schlafen? Kein Sex, einfach nur schlafen?« Nur mit Boxershorts bekleidet setzt er sich auf die Bettkante.
»Es ist zu heiß für zwei in einem Bett«, murmelt Caroline.
»Nein, es ist kühler geworden.«
»Du nervst.« Sie dreht sich auf den Rücken. »Also gut, aber ich sage nur ja, weil deine Großmutter gestorben ist.«
Von der Mitte des breiten Betts rutscht sie zur Seite und hebt das Laken an. Die Stelle, auf der sie gelegen hat, ist noch warm, fühlt sich aber gut an. Er legt die Hand auf ihren nackten Oberschenkel, ohne die Finger zu bewegen. Nur sein Daumen streicht langsam vor und zurück, über dieselben paar Zentimeter Haut. Sie hat es gern, gestreichelt zu werden, und ihn beruhigt es, es gibt ihm das Gefühl, weniger allein zu sein, lässt ihn einschlafen.
Später, viel später, wird er wach, als Caroline sich auf ihn legt und seine Erektion durch den Schlitz seiner Boxershorts zieht. Sie versetzt ihm eine Ohrfeige, fest genug, dass es wehtut. So dunkel, wie es ist, könnte sie irgendwer sein. Sie ist Mademoiselle Gagnon; sie ist Eugene Jones junior. Sie ist alle, die er vorhin auf der Straße angeschmachtet hat: Das haitianische Mädchen im gestreiften Schlauch-Top, der langhaarige Typ mit dem Ring in der Brustwarze. Er stöhnt lauter als je zuvor, obwohl das Fenster offen ist und die Nachbarn womöglich alles hören können. Die Hitze ist vorbei, und er stellt sich vor, dass der ganze Block, die ganze Stadt, zur Feier dieses Ereignisses in dieser Nacht ficken.
Als sie gekommen ist, als er gekommen ist, als er ihre verschwitzte Stirn geküsst hat und sie neben ihm eingeschlafen ist, steigt er, immer noch in Boxershorts, aus dem Bett und geht in die Küche im hinteren Teil der Wohnung, um ein Glas Saft zu trinken. Erst als er den Kühlschrank aufmacht und das Licht quer durch den Raum fällt, merkt er, dass jemand am Küchentisch an der hinteren Wand sitzt.
»Fuck!«, ruft er. Es ist der Pate in seinem Seersucker-Anzug. »Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist.«
»Offensichtlich.«
Eli erstarrt. Die Leuchtziffern der Mikrowelle zeigen die 3:33, die Mistgabelstunde. Er macht den Kühlschrank zu, und die Küche versinkt wieder in Dunkelheit. Der Pate steht auf, betätigt den Schalter an der Wand und setzt sich wieder. Die Lampe über dem Tisch wirft nur ein trübes, geisterhaftes Licht, trotzdem blinzelt Eli.
»Setz dich zu mir.«
Den Saftkrug in der Hand geht Eli hin, stellt den Krug auf den Tisch und setzt sich. Er kommt sich nackt vor, obwohl er sich oft nur in Unterwäsche durch die Wohnung bewegt, auch wenn der Pate da ist.
»Ich habe beschlossen, doch nicht bei Gigi zu übernachten. Nach allem, was du durchgemacht hast, wollte ich am Morgen für dich da sein.«
»Danke«, sagt Eli, obwohl er vermutet, dass Gigi den Paten rausgeworfen hat. Er hat ständig Krach mit seinen Damenbekanntschaften.
»Vögelst du mit meiner Tochter?«
»Nein«, murmelt Eli, obwohl er fühlt, dass sein Schwanz auf seinen Oberschenkel tröpfelt, was die Lüge noch schlimmer macht.
Der Pate fährt sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er Falten glätten. Dann streicht er sich damit durch die Schmalztolle. »Ist Junior tatsächlich dein Liebhaber?«, will er wissen. «»Bist du überhaupt schwul?«
Elis Selbsthass meldet sich lautstark zurück. »Ich bin gar nichts, Carol«, sagt er. Das zumindest scheint ihm die Wahrheit zu sein, aber der Pate macht ein skeptisches Gesicht.
»Oh, du bist so Einiges.«
»Es tut mir leid.«
»Ich will dich hier raushaben. Nicht morgen früh. Jetzt sofort. Zieh dich an, verzieh dich. Deine restlichen Sachen kannst du in ein paar Tagen holen, wenn ich mich abgeregt habe.«
Er spricht in einem so ruhigen, gleichmütigen Ton, dass er jetzt schon abgeregt wirkt. Vielleicht ist er von seinem kürzlichen Streit mit Gigi zu ausgepowert, aber dass er so gar nicht wütend wirkt, ist für Eli schlimmer, als wenn er ihm eine blutige Nase verpasst hätte.
Er steht vom Tisch auf und versucht, nicht in Tränen auszubrechen.
»Du bist so ein Lügner, Eli Jones«, sagt der Pate im gleichen unterkühlten Tonfall. »Wie der Rest deiner Familie.«
Elis Hals ist wie ausgetrocknet. Er hat den Saft nicht trinken können, bevor er aus der Wohnung des Paten verschwinden musste. In ein Perrette’s kann er nicht gehen, die sind um vier Uhr morgens alle geschlossen. Unter einer Straßenlaterne vor dem Schönheitssalon Chez Andrée an der Wellington fasst er in die Tasche seiner weißen Jeans, um sich noch einmal zu vergewissern, dass er den Schlüssel zu Nannys Wohnung eingesteckt hat. Dabei findet er einen Zettel und holt ihn hervor: Es sind Adresse und Telefonnummer von Falschgeld, die er ihm vorhin zugesteckt hat. Die Wohnung ist nicht allzu weit weg. Wenn er dorthin geht und Falschgeld einen bläst, wird er sich dann noch mehr hassen? Vielleicht könnte es ein Racheakt an sämtlichen Jones sein: an Pal, an Joy, am Paten, an Caroline, sogar an Abi. Seht ihr, was ihr aus mir gemacht habt? Seht ihr, was für ein Widerling ich geworden bin?
Aber statt zur Wohnung von Falschgeld macht er sich auf den Weg zu der von Nanny. Unterwegs sieht er zerlumpte Obdachlose, die in Ladeneingängen auf plattgedrückten Pappkartons liegen. Noch ein Jones, denkt er jedes Mal, denn so hat Abi alle genannt, die auf der Straße leben. Und er erinnert sich so voller Sehnsucht, dass ihm die Tränen in die Augen steigen, an das Manhattan aus Pappe.
Vor Nannys Haus angelangt, sieht er eine dunkle Gestalt aus der entgegengesetzten Richtung durch die Riverview kommen. Eine Gestalt mit Marionettengang. Im verwaschenen Lichtoval einer Laterne wartet er, bis Pal nah genug ist, um ihn zu erkennen.
»Junge, ich bin so froh, dich zu sehen.«
Er fragt nicht, wieso sein Sohn zu dieser unchristlichen Zeit unterwegs ist.
Total blau, vermutet Eli. Wenn er seinen Vater umbringen wollte, wäre dies der perfekte Zeitpunkt. Keine Zeugen, Pal zu betrunken, um sich zu wehren. Zu dumm, dass Eli keine Schusswaffe und keinen Ziegelstein bei sich hat, auch keinen Strumpf, um ihn damit zu erwürgen.
Aber er hat sowieso keinen Kampfgeist mehr. »Brauchst du Hilfe, um nach oben zu kommen?«, fragt er.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagt Pal aufgekratzt. Er versucht, den Fuß auf die unterste Stufe zu heben, bleibt aber hängen.
Eli packt ihn, hält ihn fest. Sein Vater und er sind inzwischen gleich groß, eins achtzig, aber Pal wiegt wahrscheinlich gute zwanzig Pfund mehr. Er legt einen Arm um Elis Schulter, und der packt seinen Vater um die Taille. Soldaten in Korea, denkt er. Einer, der einem verwundeten Kameraden vom Schlachtfeld hilft.
Aus Pals Poren wabert Alkoholdunst. Eli atmet nur ganz flach. Gemeinsam stolpern sie die Stufen zum Absatz hinauf. Eli erinnert sich an eine Zeit, als er fünf war und Pal ihn abends herumgetragen hat, damit er dem Resopaltisch, dem Fernsehsessel und der Stereoanlage Gute Nacht sagen konnte.
Auf dem Absatz lehnt sich Pal schwer gegen die Tür des Erdgeschossnachbarn, während Eli in seine Tasche greift und Nannys Schlüssel hervorholt. Zum Glück hat Joy das Außenlicht angelassen, sodass er das Schlüsselloch sehen kann. Nachdem er Nannys Tür aufgestoßen hat, dreht er sich zu seinem Vater um. Eine lange Haarsträhne steht auf seinem Hinterkopf hoch wie bei Alfalfa aus Die kleinen Strolche. Fast muss Eli lachen. »Bereit für die nächste Treppe?«, fragt er.
Pal hebt eine Hand. »Erst muss ich dir was sagen.«
»Okay, und was?«
»Ich muss dir sagen, dass ich dich lieb habe, Eli.«
Da sein Vater lügt, fühlt Eli sich frei, auch zu lügen: »Ich dich auch«, murmelt er, ohne Pal anzusehen, wohl wissend, dass der Mann sich morgen früh an nichts erinnern wird.
Eng aneinandergeklammert gehen Vater und Sohn den Rest der Treppe hinauf.