An seinem einundzwanzigsten Geburtstag sitzt Eli Jones mitten auf einer Straßenkreuzung voller Schlaglöcher, auf der zweihundert Menschen »Schwul sein, frei sein, nie mehr unterdrückt sein« skandieren. Eli skandiert nicht, sondern lässt die Protestrufe über sich hinwegfluten. Das Sit-in findet auf dem De Maisonneuve Boulevard statt, genau gegenüber einer dreistöckigen Polizeiwache, auf deren Dach Scharfschützen stationiert sind. Angekündigt wurde die Demo als »Kiss-in«, und wenn die Organisatoren ihre Trillerpfeifen betätigen, küssen die Jungen Jungen und die Mädchen Mädchen. »Jungen und Mädchen«, weil sie so jung sind, die meisten allerhöchstens Anfang zwanzig. Sie riechen nach Schweiß und Sonnencreme und sind mit knappen Shorts, Trägerhemden und Doc Martens bekleidet. Eli, der niemanden in der Menge kennt, bleibt ungeküsst, hätte aber nichts gegen Lippenkontakt mit dem Jungen rechts oder dem Mädchen links von ihm. Das Mädchen sieht aus wie Sinéad O’Connor: rasierter Schädel, Rehaugen; der Junge hat einen Irokesenschnitt und ein Nasenpiercing.
Am Abend zuvor haben Dutzende Polizisten aus dieser Wache eine laute schwul-lesbische Feierabend-Party in einem großen Loft mit vielen Fenstern in der Nähe der Altstadt aufgelöst. Ohne jeden Anlass setzten sie Schlagstöcke ein, teilten Tritte und Boxhiebe aus, zerschmetterten Kniescheiben, schlugen Lippen blutig und nahmen wahllos Leute fest. Deshalb der heutige Protest.
Eli war nicht auf der Party, sondern ist an diesem Nachmittag zufällig auf das Sit-in gestoßen, da die Polizeiwache in der Nähe seiner kleinen Mietwohnung in einem der Hochhäuser der Innenstadt liegt. Eigentlich wollte er in einem Geschäft in der St. Catherine Street neue Vorhänge kaufen. Ein Geburtstagsgeschenk für ihn selbst. Doch die Vorhänge waren vergessen, als er die wütenden Stimmen hörte, die Gerechtigkeit forderten, und die geschwenkten Protestschilder mit ihrem SCHWEIGEN = TOD sah.
Er versucht, den Mut aufzubringen, in die Rufe der Protestierenden einzustimmen. Über die Jahre hinweg hat sich eine stille Wut in ihm aufgebaut. Wenn sie ganz schlimm wird, joggt er den Mount Royal hinauf, bis ganz nach oben zu dem riesigen erleuchteten Kreuz, und sprintet dann wieder hinunter. Erst wenn sein Herz wie wild hämmert und hämmert, lässt die Wut nach, aber heute wächst sie, nährt sich von der anschwellenden Wut der anderen, die im Kreis auf der Straße sitzen. Er selbst sitzt ein paar Reihen vom äußeren Rand entfernt, angetan mit grauer Chinohose, weißem Polohemd mit einem kleinen französischen Krokodil darauf, das über seine linke Brust kriecht, und schwarzen Collegeschuhen. Seine Haare sind kurz mit ordentlichem Seitenscheitel. Er sieht aus wie ein Pfadfinder auf Abwegen.
Reporter und Reporterinnen lokaler Nachrichtensender stehen am Rand der Menschenansammlung – Hyänen, die eine Zebraherde beäugen – und bellen Anweisungen an ihre Kameraleute, dies aufzunehmen, das einzufangen. Als eine der Kameras auf Eli zuschwenkt, dreht er den Kopf weg, sieht nach oben und entdeckt auf dem Dach der Polizeiwache die Scharfschützen, die ihre Waffen auf die Menge gerichtet haben.
Mannschaftswagen der Polizei kommen aus allen vier Richtungen auf die Kreuzung zu. Aus ihnen quellen Dutzende behelmter Polizisten wie Clowns, die im Zirkus aus einer alten Klapperkiste purzeln, bloß dass diese Clowns in Kampfausrüstung stecken. Sie haben Schutzschilder und Schlagstöcke und tragen blaue Latexhandschuhe wie Chirurgen, die gleich operieren müssen. Auf allen Seiten formieren sie sich zu Reihen und kommen mit erhobenen Schilden auf das Sit-in zu. »Hakt euch unter!«, ruft jemand, und Eli verschränkt die Arme mit Sinéad und dem Irokesen.
Kurz darauf stürzen sich die Polizisten auf sie, stoßen ihre Schlagstöcke in Leisten, Brüste, Rippen, bis sie die menschliche Kette aufgebrochen haben. Sie zerren die Protestierenden, die teils noch zu zweit oder zu dritt aneinanderhängen, über das Pflaster. Die am Rand des Kreises werden als Erste attackiert; sie schreien die Polizisten an, sie sollen sie in Ruhe lassen, und treten um sich, aber jeder Widerstand lässt die Männer nur noch brutaler werden. Einer von ihnen zerrt ein Mädchen an den Haaren hinter sich her wie ein Höhlenmensch. Andere Demonstranten werden hochgerissen, nur um wieder zu Boden gestoßen und dann weggeschleift und in die vergitterten Mannschaftswagen geworfen zu werden.
Eli selbst bekommt mehrere Schläge mit einem Schlagstock ab, die brutaler sind als jede Haarbürste. Seine Beschützer, Sinéad und der Irokese, werden von ihm weggerissen. Er selbst wird an den Knöcheln weggeschleift, wobei einer seiner Schuhe verloren geht und sein Polohemd hochrutscht und seinen Bauch entblößt. »Lève-toi, câlisse!«, brüllt der Bulle, dessen Augen hinter dem Visier nicht zu sehen sind. Eli versucht, sich aufzurappeln, doch der Bulle stößt ihn wieder zu Boden und kniet sich auf seinen Rücken. Ein anderer packt Sinéad, die so wild um sich schlägt und tritt, dass der Bulle, der auf Eli kniet, ihn loslässt, um das Mädchen zu bändigen. Eli rappelt sich auf und zwängt sich durch die Menge, während die Demonstranten rufen: »Schwul sein, frei sein, nie mehr unterdrückt sein – wer von euch reiht sich ein?«
Er stolpert raus aus dem Gedränge, rennt am U-Bahnhof vorbei und von da an im Halbtrott weiter. Passanten werfen ihm verwunderte Seitenblicke zu: Er hat nur einen Schuh an. Er zerrt sich den anderen vom Fuß und wirft ihn in einen Müllcontainer. Den Rest des Wegs nach Hause legt er auf Socken zurück.
An seiner Straße angekommen, bleibt er stehen und horcht. Selbst hier, drei Blocks entfernt, kann er die Rufe der Demonstranten, die Pfiffe, die Sirenen hören. Er hebt den Kopf. Der Julihimmel ist Norman-Rockwell-blau: an seinen Geburtstagen ist immer schönes Wetter und es passieren schlimme Dinge.
Er geht auf das Gebäude zu, in dem er wohnt. Als er näherkommt, sieht er ein Mädchen mit langen, glatten blonden Haaren auf der niedrigen Mauer rund um das Geranienbeet vor dem Haus sitzen. Sie hat eine Mary-Poppins-Reisetasche auf dem Schoß. Jesus Murph, denkt er und bleibt wie angewurzelt stehen. Sie sieht ihn, steht auf, winkt und schwebt wie Julie Andrews über den Bürgersteig auf ihn zu. Nein, das tut sie natürlich nicht, aber er nimmt die auf ihn zukommende Abi Jones als schwebend wahr.
»Ich habe mich noch nie so geschämt wie jetzt für dich«, sagt Joy am Telefon, und würden seine Rippen nicht so wehtun, wenn er tief atmet, hätte Eli laut gelacht. Sie schämt sich für ihn? Zum Brüllen. Und zum Ausrasten.
Er deckt die Hand über den Hörer und sagt zu Abi: »Ich habe die Familienehre befleckt.«
»Du warst ja auch abscheulich«, sagt Abi. »Was für ein ungeheuerliches Verhalten! Absolut widerwärtig!« Sie hat es sich auf dem Canapé bequem gemacht und nippt an einem Weinglas, das bis zum Rand mit seinem zwanzig-Dollar-Bordeaux gefüllt ist. Ihre Lippen umspielt ein katzenhaftes Lächeln. Fast kann man gelbe Kanarienvogel-Federn aus ihrem Mund ragen sehen. An diesem Morgen hat sie in der Pension in der Torontoer Innenstadt, in der sie wohnt, ihre Mary-Poppins-Tasche gepackt und ist in einen Zug nach Montreal gestiegen, um ihren Bruder an seinem Geburtstag zu überraschen.
»Wehe, du hast AIDS«, fährt Joy fort. »Ich muss mich immer noch um deine Schwester kümmern. Ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern.«
»Ich habe kein AIDS.«
Das Sit-in hat es in die Nachrichten geschafft, nicht nur in Montreal, sondern im ganzen Land. Einer der Beiträge zeigt einen entgeisterten Eli Jones, der von einem Polizisten aus der Menge gezerrt und dann von ihm zu Boden gestoßen wird. Als Falschgeld seinen Neffen im Fernsehen entdeckt hat, hat er Pal und Joy in dem kleinen Mietbungalow in einem Vorort von Toronto angerufen, in dem sie seit ein paar Jahren leben. »Euer schwuler Sohn ist im Knast gelandet«, hat er ihnen voller Häme in dem Glauben mitgeteilt, Eli gehöre zu den gut fünfzig Personen, die auf der Demo festgenommen wurden.
Am Telefon sagt Joy nun zu ihrem Sohn: »Wehe, du gibst mir die Schuld daran, dass du so geworden bist.«
»Jesus Murph.«
»Die Leute geben immer der Mutter die Schuld und sagen, wir hätten euch überbehütet.«
»Ich kann dir versichern, dass ich nicht überbehütet wurde.«
»Wenn du jemanden suchst, dem du die Schuld geben kannst, dann gibt sie Pal. Auf seiner Seite der Familie wimmelt es vor Schwulen und Perversen. Wimmelt es!«
»Klappe, Joy«, schreit Pal im Hintergrund. »Gib mir das Telefon.«
Er kommt an den Apparat. »Haben diese Schweine dich verletzt, Junge? Haben sie?«
»Sie haben mich mit Schlagstöcken traktiert. Ich bin überall grün und blau.« Seine Stimme klingt erstickt, er hat einen dauerlutschergroßen Kloß im Hals. Verdammt, er wird doch nicht etwa anfangen, vor seinem Daddy zu heulen? Wie erbärmlich wäre das denn?
»Ich bring sie um, die verfluchten Montrealer Bullen. Barbaren! Kinder zusammenzuschlagen! Ich steige sofort ins Auto und komme. Und dann werde ich sie windelweich prügeln und ihnen die verfluchten Schädel einschlagen.«
»Nein, nein, das brauchst du nicht«, beharrt Eli. »Danke, aber Abi ist hier. Sie wird sich um mich kümmern. Wir gehen zu Ehren meines Geburtstags aus. Erst Essen, und dann noch was trinken.«
»Okay, gut, tu mir den Gefallen, und trink ein Glas auf deinen alten Herrn. Ich bin nämlich zum verflucht sechzehnten Mal wieder trocken. Aber pass auf deine Schwester auf. Das Mädchen trinkt jeden unter den Tisch.«
Auf der Couch kippt Abi den Wein nur so in sich hinein.
»Und wegen dem Schwulsein, ich –« Er bricht ab. Was will er sagen? Dass er es auch mal probiert hat?
»Wen kümmert das denn schon, Junge? Hetero, bi, schwul, ist doch alles dasselbe. Wen du vögelst, spielt keine Rolle.«
Eli sieht zu Abi hinüber, die sich mit ihrem Bic eine Camel ansteckt, trotz seiner strikten »In-der-Wohnung-wird-nicht-geraucht«-Regel.
»Und mach dir keine Gedanken wegen deiner Mutter«, redet Pal weiter. »Die kriegt sich schon wieder ein. Tut sie immer.«
»Nett von dir, Pal«, sagt er und hasst die schmierige Dankbarkeit in seiner Stimme. »Danke.«
»Bonne fête, Élie. Und denk dran, falls du doch jemanden brauchst, der für dich einen Bullen umlegt, ruf mich an, hast du mich verstanden? Jederzeit, Tag und Nacht. Dein alter Herr steht bereit.«
Eli Jones ist Patti Smith; Abi Jones ist Robert Mapplethorpe. Nackt bis auf die Boxershorts kauert er vor dem gusseisernen Heizkörper, sodass seine Rückenwirbel und die sommersprossigen Schultern deutlich zu erkennen sind. Mit seiner Polaroid macht sie Nahaufnahmen seiner Schürfwunden und seiner blauen Flecken. Sobald ein Foto aus der Kamera gleitet, pustet sie auf die Oberfläche, so wie sie früher auf ihre im Tischbackofen aufgewärmten Pop-Tarts gepustet hat. Die Idee, seine Verletzungen zu dokumentieren, stammt von ihr. Als Beweis für Polizeibrutalität.
»Mit den Fotos legen wir ein Album an«, sagt sie. »Es wird ein objet d’art, und wir nennen es Geburtstag. Meinetwegen können wir auch ein Foto von einem Geburtstagskuchen mit 21 Kerzen einfügen.«
»Aus der Tragödie Kunst machen«, sagt er, steht auf, trinkt einen Schluck Wein. Wippt auf den Zehenspitzen auf und ab, immer noch überdreht, wild darauf, irgendetwas Destruktives und Unumkehrbares zu tun. Sein Blick fällt auf seinen schwarzen Ghettoblaster. Soll er ihn von seinem Balkon im zehnten Stock schmeißen? Im Augenblick läuft »L’affaire Dumoutier«, ein Song über einen Mann, der wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit von einem Mord freigesprochen wurde.
Abi macht weitere Fotos von ihm, einschließlich einiger Fahndungsfotos von seinem Gesicht: frontal und beide Profile.
»Versuchst du, Mapplethorpe zu übertreffen?«, fragt er. »Soll ich mir vielleicht eine neunschwänzige Katze in den Hintern stecken?«
»Du hast keine neunschwänzige Katze, Jones.«
»Woher willst du das wissen, Jones?«
»Halt still«, befiehlt sie und fotografiert seine Brust, die immer noch so haarlos ist wie die einer neugeborenen Rennmaus. »Der blaue Fleck da, ich wette, der wird bald genauso grünlich-blau wie ein Seerosenteich von Monet.«
Sie macht ein Foto von seinen rot aufgeschürften Knien.
»Deine Verletzungen und Blutergüsse bringen immerhin ein bisschen Farbe in diese Bude.«
Praktisch alles in Elis Wohnung ist grau, schwarz oder weiß. Weiße Laken auf einem weißen Futon. Ein glänzend-schwarzer Schreibtisch. Ein Stapel schwarzer Notizbücher, das Neueste davon ist ihr Geburtstagsgeschenk (sie schenkt ihm jedes Jahr eins). Eine mit grauem Filz bezogene Couch. Die Wände sind im sanften Weiß von Vanille-Softeis gestrichen, die Fußleisten sind lakritzschwarz.
»Es ist, als würde man in den Kansas-Szenen von Der Zauberer von Oz leben«, nörgelt sie, die ein langes, lindgrünes T-Shirt über einer Leggins trägt, die mit Campbell’s- Suppendosen bedruckt ist – Tomate, Rindfleisch, Hähnchen mit Reis.
Er nimmt ihr die Kamera aus der Hand und richtet sie auf sie.
»Nein!« Sie dreht sich so schnell weg, dass ihre glatten Haare auf diese Swinging-Sixties-Joni-Mitchell-Art fliegen, die sie an sich hat.
»Aber ich habe überhaupt keine Fotos von dir. All die Fotos aus Manhattan, die du mir geschickt hast, und nicht ein einziges von dir.«
»Ich war allein da. Ich konnte keine Fotos von mir selbst machen.«
Er hat sich von einem Teil seines Nanny-Geldes einen Macintosh-Computer gekauft; sie hat ihres für einen Sommer in Manhattan ausgegeben und ihm jede Woche Polaroid-Fotos geschickt: vom Chelsea Hotel, den Bars der Lower East Side, einem Straßenschild der Great Jones Street, dem protzigen Apartmentgebäude, in dem Salinger gelebt hat, der Wagenauffahrt des Dakota-Buildings, von einer Ratte, die über U-Bahngleise flitzt, von einem bettelnden Jones auf einem zusammengelegten Pappkarton. Die ganze Zeit hat er darauf gewartet, dass sie sagt, er solle sich in einen Zug setzen und zu ihr kommen, aber nein. Das Einzige, was er hat, ist ein Fotoalbum, das er mit »Manhattan« beschriftet hat, mit Bildern von Abis Manhattan, nicht von ihrem und seinem. Er ist deswegen immer noch eingeschnappt.
Er richtet die Kamera noch einmal auf sie. »Komm, fais amour à la caméra.«
»Lass das.« Allmählich wird sie wütend.
»Wieso?«
»Weil ich nicht fotogen bin.«
»Wie bitte? Wolltest du nicht Fotomodell werden?«
»Zieh dir was an«, befiehlt sie. »Wir gehen aus. Wir holen uns ein bisschen Farbe.«
Er legt die Kamera beiseite und schiebt seinen Schrank auf.
»Aber nicht dieses brave Zeug. Du bist schließlich kein Mormone, verdammt, sondern ein schwuler Aktivist. Zieh dir was Wilderes an.«
Er kleidet sich ganz in Schwarz – geripptes T-Shirt mit U-Ausschnitt, das seine Schlüsselbeine zeigt, abgeschnittene, ausgefranste Hose, knöchelhohe Stiefel mit abgestoßenen Spitzen. Da er sein Haargel gerade aufgebraucht hat, sträubt er seinen Pony mit Gleitgel.
Auf der Oberlippe hat er einen Weinfleck, der seinen Mund wie den des Joker aussehen lässt. Seine Schwester hat auch einen. Sie werden sie unter keinen Umständen abwaschen. An diesem Abend sind sie Batman-Bösewichte, und très très böse.
»Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.« Dieses Oscar Wilde-Zitat steht auf Englisch und Französisch auf den Tischsets des Chez Oscar, wo die Geschwister zu Abend essen.
»Und sich selbst zu hassen«, ergänzt Abi, »ist der Beginn einer lebenslangen Romanze mit seinem Psychotherapeuten.« Nach Jahren der Psychotherapie weiß sie, wovon sie spricht.
Obwohl es sein Geburtstag ist, hat sie das Restaurant ausgesucht. Ihr gefallen die Tischdecken: blaues Vichy-Karo, wie Dorothys Kleid im Zauberer von Oz. Sie sitzen im Innenhof, der von Papierlaternen überspannt ist. Ihr Tisch steht unter einer Trauerwitwe, die von winzigen, erbsengrünen Raupen bewohnt wird, von denen sich eine an einem Seidenfaden zu ihrem Brotkorb herablässt. Ein Kellner – sie nennen ihn Oskar der Grautsch – hat ihnen den Brotkorb gebracht. Der Grautsch ist nicht wirklich grautschig, hat aber dieselben buschigen braunen Augenbrauen wie der Mülltonnenmann aus der Sesamstraße.
»Sagst du deinem Therapeuten immer die Wahrheit?«, will Eli von seiner Schwester wissen. Sie haben eine Flasche Rotwein bestellt, einen weiteren Bordeaux, und sie trinkt ihn in großen Schlucken. »Wenn ich eine Therapie machen würde, würde ich mir Geschichten ausdenken, damit es nicht langweilig wird.«
»Jones, ich brauche mir keine Geschichten auszudenken. Mein Leben ist ein beschissener Roman«, sagt sie und lacht ihr Cartoon-Gickeln. Sie sieht gut aus. Wie ist das möglich, wo sie kaum etwas isst (heute hat sie nur einen Salat ohne Dressing bestellt), eine Camel nach der anderen raucht (die Leute am Nebentisch werfen ihr schon angewiderte Blicke zu), und den Wein in sich hineinschüttet wie er nach dem Laufen seine Energydrinks? Vielleicht wird sie mit vierzig nicht mehr so belle aussehen. Bis dahin hat sie vielleicht ein angenähtes Basset Hound-Ohr wie Pal und einen Raucherinnen-Anusmund wie Joy. Was denkt er denn da? Es ist ein Wunder, wenn sie überhaupt vierzig wird, und es gibt auch keine Garantie dafür, dass er es so lange machen wird.
Sie lebt immer noch in bedrohlicher Nähe zu Pal und Joy. Anscheinend ist sie wirklich non compos mentis. Diesen Ausdruck aus »Erweitere deinen Sprachschatz« wendet er auf seine Schwester an, die nach wie vor an den Einheiten klebt und mit ihnen mitgezockelt ist, als sie nach Kanada zurückzogen. Rockzipfel und Nabelschnur haben sich bei ihr zu einem großen wirren Knäuel verknotet, das Eli Jones, der nie ein guter Pfadfinder war, nicht entwirren kann.
Als Chef der frisch gegründeten Firma P. A. L. kam Pal nach Kanada zurück, weil er dachte, in seinem eigenen Land hätte er es mit weniger bürokratischen Hürden zu tun als in Amerika. Er eröffnete seine Thermoelektrik-Firma in einem angemieteten Loft über einer maroden Tankstelle. Wegen seiner nur rudimentären Französischkenntnisse kam Montreal nicht in Frage, und dafür, dass sie die Einheiten von seiner Stadt ferngehalten haben, dankt Eli Allah, Buddha, Nanuk, Ra, Thor und Jesus Murph auf Knien. Jedes Mal, wenn Pal und Joy zu Besuch in die Stadt kommen, ist Eli ebenfalls non compos mentis und muss sich praktisch selbst ins Douglas einweisen.
Oscar der Grautsch bringt ihnen ihre Bestellung. Eli, einen riesigen Spaghettiberg vor sich, bringt Abi auf den neuesten Stand, was sein Leben angeht. Er besucht Seminare an zwei Universitäten, einer französischen und einer englischen, und arbeitet als freiberuflicher Übersetzer. Ein kleiner Verlag hat ihm den Auftrag erteilt, die ersten Kapitel einer ganzen Serie von Kinderbüchern zu übersetzen, damit die Rechte auf internationalen Buchmessen verkauft werden können. Die Worte »Buchmesse« und »international« auszusprechen, gibt ihm das Gefühl, erwachsen zu sein.
»Und wann schreibst du dein eigenes Buch?«, fragt sie.
Er hat nicht das geringste Bedürfnis, je ein eigenes Buch zu schreiben. »Du solltest schreiben«, gibt er zurück. »Du hast die Fantasie, den Scharfsinn, den Wortschatz. Ich bin wie ein blasser XX-Abklatsch deines XYs.«
»Männer sind XY, Frauen XX.«
»Siehst du, du bist sogar klüger als ich.«
Sie wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, entweder um den Rauch ihrer Camel oder eine weitere Trauerwitwenraupe zu vertreiben. »Meine Hauptbeschäftigung ist nicht das Schreiben«, sagt sie.
»Was dann? Das Servieren von Suppe?« Sie arbeitet Teilzeit im Soupçon, der Suppenküche des Christlichen Vereins junger Frauen in Toronto.
»Nein, meine Hauptbeschäftigung ist es, nicht zu sterben, okay? Mein Job ist es, zu versuchen durchzuhalten und am Leben zu bleiben. Das ist es, was ich tue, und zwar Vollzeit, mehr als Vollzeit. Es ist ein rund-um-die-Uhr-ohne-Kaffeepausen-Job.« Sie lacht, aber es ist kein fröhliches, sondern ein schreckliches und trauriges Lachen. Seit sie die Schlaftabletten von Eugene Jones senior geschluckt hat, hat sie nicht noch einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, jedenfalls nicht, dass er wüsste – und er will es auch nicht wissen. Er kann allein den Gedanken daran nicht ertragen.
Sie schiebt Gurkenscheiben in ihrer Salatschüssel herum, isst eine Cherry-Tomate. Ausgehungert schaufelt er sich weitere Spaghetti in den Mund. Sein Teller ist so tomatensoßenverschmiert, dass er aussieht, als hätte darauf ein Gemetzel stattgefunden.
Um das Thema zu wechseln, fragt sie: »Was macht dein Liebesleben?«
»Lieblos.«
»Sexlos?«
»Nein.«
»XY oder XX?«
»Ein bisschen von beidem.«
Er trinkt einen weiteren Schluck Wein. Das Schwanken der Papierlaternen kommt nicht vom Wind, sondern von dem Wein, den er getrunken hat. »Und was ist mit dir? Triffst du dich mit jemand?«
»Ja, mit einem süßen Typen, den ich kennengelernt habe, als ich das letzte Mal im Douglas war. Er ist manisch-depressiv, spielt Akkordeon, heißt Stew und sorgt sich über alles.«
»Ein manisch-depressiver sorgenvoller Akkordeonspieler – scheint zu passen.«
»Ich werde dem armen Kerl endlose Stunden des Kummers bereiten.«
»Du und ich, wir sind einfach nicht der Stoff, aus dem Beziehungen gemacht sind«, sagt er.
»Was für ein Stoff sind wir dann?«
»Irgendwas Empfindliches, das von Hand gewaschen werden muss.«
»Da bin ich anderer Meinung.« Sie lächelt ihr Joker-Lächeln. »Ich denke, wir sind irgendeine robuste Kunstfaser. Ich denke, wir sind so was wie verdammte Kunstseide.«
Die Drag-Queen heißt Fifi Larue. Für Eli sind Drag-Queens nahe Verwandte von Zirkusclowns – beide der Stoff von Alpträumen, aus denen man schreiend aufwacht. Nur Abi konnte es fertigbringen, ihn in diesen Club zu schleppen, aber vielleicht haben auch die diversen Flaschen Wein, die sie getrunken haben, dazu beigetragen. Der Club heißt Élisabeth, da der Besitzer gerne die englischen Königinnen, sowohl I als auch II, verkörpert. Karikaturen beider Königinnen und weiterer Elizabeths – Taylor, Montgomery, Barrett Browning – hängen in verschnörkelten, vergoldeten Rahmen an den Wänden.
Der Tisch, den Abi wählt, steht so dicht vor der Bühne, dass die Geschwister das dicke Make-up sehen können, das sich in den großen Poren von Fifi Larues ölig glänzendem Gesicht absetzt. Fifi hat massige Hängebacken und trägt eine strassbesetzte Brille und eine rosafarbene Perücke, die aussieht wie aus Glaswolle gesponnen. Abi beugt sich über den kleinen runden Bistrotisch zu ihrem Bruder und sagt: »Diane hätte Fifi geliebt.« Diane, die große Diane Arbus, ist immer noch ihre Königin.
Eli erwärmt sich für die Drag Queen, als die ersten Keyboardtöne seines liebsten Tanz-Songs aus den Lautsprechern tönen, die rechts und links der Bühne stehen und Fifi anfängt, die Lippen zu »Marcia Baïla« zu bewegen. Der Song von Les Rita Mitsouko feiert das Leben einer jungen Tänzerin, die vom Brustkrebs dahingerafft wird. Ihr Tod wird in eine Aufforderung zum Tanz verwandelt; aus der Tragödie entsteht Kunst.
Am Ende des Songs ist Fifi schweißüberströmt und fächert sich das Dekolleté mit einem zusammenklappbaren Fächer. Der Club ist nur halbvoll, da es mitten in der Woche ist, aber vielleicht ist Fifi auch nicht derselbe Publikumsmagnet wie Elizabeth I und II. Das heutige Publikum ist gemischt: Schwule Männer in eng anliegenden Act-up-T-Shirts, Gruppen weiblicher Büroangestellter, die aufgeregt quietschen, weil sie den Mut hatten, in einen Drag-Club zu gehen, und ein paar ältere Heteropaare, die wie typische Elterneinheiten aussehen.
Die Drinks im Élizabeth werden mit winzigen Schirmchen serviert, als wollten sie sich vor Fifis Schweißtropfengesprüh schützen. In einer Mischung aus Englisch und extrem akzentuiertem Französisch sagt Fifi, das Leben einer Drag Queen bestehe keineswegs nur aus Vergnügen und Pailletten. »C’est très très sérieux, mes amis, ich muss jetzt für eine Sekunde ernst werden.«
Ein als Polizist kostümierter Mann kommt auf die Bühne und baut sich mit weit gespreizten Beinen in der Mitte auf. Er trägt hohe schwarze Stiefel, eine kugelsichere Weste, einen Einsatzhelm mit Visier, eine verspiegelte Sonnenbrille und einen angeklebten Schnurrbart. In der Hand hält er einen Schlagstock, den er langsam in seine andere Hand klatschen lässt. Beide seiner Hände stecken in blauen Latexhandschuhen.
Fifi sieht den Polizisten durchdringend an und stöckelt in ihren rosa Pumps, deren Zehenriemchen mit Pompons verziert sind, anmutig um ihn herum. Als sie hinter ihm ist, versetzt sie ihm einen Karateschlag in die Kniekehlen, woraufhin er in sich zusammenklappt und den Schlagstock fallen lässt. Fifi setzt sich auf seinen Rücken, greift sich den Schlagstock und schlägt ihm damit auf den Hintern wie eine Domina mit Reitpeitsche. Das Publikum applaudiert, Abi lacht, Eli windet sich.
Fifi steht auf, packt den Polizisten bei den Stiefeln, zerrt ihn hinter sich her, wischt mit ihm den Boden. Dann schleudert sie ihre hochhackigen Pumps von sich, hebt den Polizisten hoch (Fifi ist ein großes Mädchen) und wirft ihn hinter die Kulissen, wo hoffentlich eine Matratze seinen Fall abmildert. Dann reibt sie ihre Hände gegeneinander, wie um sie von Schmutz zu befreien. »C’est assez, tabarnak! Es reicht, du Stück Scheiße!« Sie reckt den Schlagstock hoch in die Luft und ruft: »Wir Schwule müssen lernen, zurückzuschlagen!«
Abi springt auf und klatscht. Sie ist ziemlich wacklig auf den Beinen. Schon bevor die Show angefangen hat, hat sie einen Gin Tonic gekippt, während Eli nur ein Perrier bestellt hat.
Den Schlagstock in ihre andere Hand klatschend, kommt Fifi an ihren Tisch geschlendert. »Hat die Nummer dir gefallen, Blondie?« fragt sie, während Abi sich wieder setzt.
Abi sieht zu Eli hinüber, der panisch den Kopf schüttelt, um ihr zu verstehen zu geben: »Halt bloß den Mund«, aber schon platzt sie heraus: »Die Polizei hat heute meinen Bruder zusammengeschlagen.«
»Pauvre enfant«, ruft Fifi und beugt sich über den Tisch. Ihr dickes Make-up hyperdefiniert jede einzelne Falte, ihr Lippenstift ist über die Konturen ihrer Lippen hinaus verschmiert, als wäre sie ein Kind, das beim Ausmalen über die Ränder hinausgeraten ist. »Haben sie dir wehgetan, Baby?«, fragt sie Eli.
»Ich habe blaue Flecken.«
Fifi sieht ihn mitleidig an.
»Soll Mommy sie wegküssen?«
»Lieber nicht.«
»C’est dommage.«
»Ich bin seine ältere Schwester«, sagt Abi. »Und spiele heute Abend den Babysitter für ihn.«
Eli hofft inständig, dass sie seinen Geburtstag nicht erwähnen wird.
»Ihr seid ja zuckersüß«, sagt Fifi. »Vous vous appelez comment?«
»Abi und Eli.«
»Lüg Fifi nicht an. Vous n’êtes pas Abi et Élie.« Fifi sieht sie mit scharfem Blick an. »Wisst ihr, wer ihr seid? Ihr seid Hänsel und Gretel.« Nun richtet sich ihr Blick auf das ganze Publikum. »Hänsel und Gretel in Fleisch und Blut, n’est-ce pas, mes amis?«
Das Publikum lacht.
Abi sieht so verblüfft aus, als könne Fifi hellsehen. »Als wir klein waren, haben wir immer so getan, als wären wir Hänsel und Gretel.«
Mehrere Leute im Publikum fangen an, sich zu unterhalten, was Fifi als Affront nimmt. Sie hebt die Stimme wie eine Lehrerin, die die Klasse auf sich aufmerksam machen will. »Kann ich dir eine persönliche Frage stellen, Hänsel?«, sagt sie zu Eli.
»Lieber nicht«, wiederholt Eli.
»Ach komm schon«, sagt Fifi. »Sei kein Baby.«
»Du kannst mich fragen«, schlägt Abi vor.
Fifi wirft ihr einen Hexenblick zu. »Treiben Hänsel und Gretel es miteinander?«
Das Publikum verstummt.
»Wie bitte?«, fragt Abi.
»Treibt ihr beiden es manchmal miteinander?« Fifi hebt eine Hand, bildet mit Daumen und Zeigefinger ein O, hebt die andere Hand, schiebt den Schlagstock durch das O und bewegt ihn vor und zurück. »Wie man hört, treiben manche Geschwister es miteinander«, erklärt Fifi. »Vor allem, wenn sie blond sind. Weil sie es nicht besser wissen. Wie in Blumen der Nacht.«
Ein gequältes Lachen hinter Eli, aber der größte Teil des Publikums stöhnt. Abis Gesicht wird ausdrucklos, als hätte es die Räumlichkeiten verlassen, aber Eli springt so abrupt auf, dass der Tisch wackelt. Seine blauen Flecken pochen synchron mit dem Pochen in seinem Kopf. »Verzieh dich, va-t’en!«, sagt er mit glockenklarer Stimme zu Fifi. »Sonst schlage ich zurück, darauf kannst du dich verlassen.«
»Oh là là«, ruft Fifi. »Ich habe einen Nerv getroffen.« In Erwartung eines Lachers sieht sie sich im Publikum um, aber nein, niemand reagiert. Es ist totenstill geworden; sogar der Barkeeper an der hufeisenförmigen Theke hat aufgehört, mit Gläsern zu klirren.
»Setz dich, Jones«, murmelt Abi. »Es ist okay.«
Ein irres Grinsen auf dem Gesicht zieht sich Fifi langsam von den Geschwistern zurück, als seien sie gefährlich, als könnten sie sie in einen Ofen schubsen. Hinter der Bühne betätigt jemand einen Regler, und ein poppiger Song dringt aus den Lautsprechern. Den Schlagstock wie ein Mikrofon haltend, bewegt Fifi die Lippen zur trickfilmartigen Schluckaufstimme Cyndi Laupers, die »Girls Just Want to Have Fun« singt.
»Wie das vielfarbige Pferd«, sagt Abi über die Fontäne im Park, die alle paar Minuten die Farbe wechselt wie das Pferd in der Smaragdstadt in Die dunkle Welt von Oz. Die Fontäne befindet sich mitten in einem künstlich angelegten Teich, aus dem alle paar Minuten ein Wasserstrahl in die Luft schießt und auf die in der Nähe herumdümpelnden Enten herabrieselt. Dank der Beleuchtung der Fontäne – im Augenblick Yves-Klein-Blau – und dank des großen, hellen Monds, können die Geschwister von der grasbewachsenen Böschung aus die Enten sehen. Als ein Beagle ins Wasser platscht und auf eine Ente mit ihren Küken zupaddelt, heben die Vögel in Reih und Glied ab. Ihre Flossenfüße trippeln über die Wasseroberfläche, wobei die Mutter ihr Quack-quack-quack von sich gibt, die Küken ihr Piep-piep-piep.
Die Geschwister sind im Parc La Fontaine, um in Ruhe ein Bier zu trinken. Auf Abis Drängen hin hat Eli nach dem Élisabeth in einem Perrettes’s vier Schraubverschlussflaschen gekauft. »Klau sie«, hatte Abi gescherzt, wie damals, wenn sie Eli dazu anstiftete, im Perrette’s in Middlesex Flaschen mit Cola Light mitgehen zu lassen.
Er fischt ein Bier aus der Papiertüte und reicht es ihr.
»Wo ist das Etikett?«, fragt sie.
»Oh, das Bier war im Angebot«, lügt er, als ergäbe das irgendeinen Sinn. Ehe er den Laden verließ, hat er die Etiketten abgerissen, damit Abi nicht merkt, dass es alkoholfreies Bier ist. Er findet, sie hat genug getrunken. Sie spricht schon undeutlich, als hätte sie einen Rückfall ins Marsianische.
Am Fuß der Böschung lässt eine Gruppe Cégep-Studenten, die am Rand des Teichs auf Bänken sitzen, einen Joint herumgehen. Der Achselgeruch des Grases wabert bis zu den Geschwistern hinauf, deren Falschbier einen zitronigen Nachgeschmack hat und widerlich schmeckt. Trotzdem trinken sie weiter. Als der Beagle mit seinem Herrchen weitergeht, paddeln die Enten zurück zum Rand des Teichs, lassen sich für die Nacht nieder und stecken die Schnäbel unter die Flügel. Über ihnen hat der Mond eine orange Färbung angenommen, wie Abi, wenn sie zu viel Beta-Karotin zu sich genommen hat.
Die Fontäne ist jetzt ampelrot. Die Geschwister sitzen einfach nur da und beobachten, ohne viel zu reden. Nach einer Weile sagt Eli: »Siehst du die kleine Brücke da drüben? Die den Teich in zwei Hälften teilt? Letzten Monat habe ich auf dieser Brücke gestanden und die Enten beobachtet, als ein Typ, vielleicht in den Vierzigern, aus heiterem Himmel auf mich zukommt und sagt: ›Je peux te demander combien tu charges?‹«
»Er hat dich gefragt, wieviel du verlangst?«
»Genau. Ich wollte schon fragen, ›Wofür?‹, aber dann hat es in meinem idiotischen Schädel doch noch Klick gemacht.«
»Was hast du gesagt?«
»›Die Augen in deinem Kopf.‹«
Die Augen in Abis Kopf sind halb geschlossen. »Was?«, fragt sie.
»Du weißt schon. Les yeux de la tête. Der französische Ausdruck dafür, dass etwas extrem teuer ist. Und der Typ sagt: ›Und wenn ich dir nur eins meiner Augen gebe? Was kriege ich dafür?‹«
Eli lacht. Damals fand er die Antwort des Mannes geistreich, aber Abi wirft ihm einen Blick zu, der so durchdringend ist wie der von Fifi Larue.
»Du hast doch nicht etwa –?«
»Natürlich nicht.«
»Im Perrette’s hast du immer dieses gekünstelte Lächeln aufgesetzt, um die Kundinnen dazu zu bringen, dir ihr Kleingeld zu schenken.« Ihr Lallen ist weg, als sei sie plötzlich nüchtern geworden. »Du warst damals eine kleine Hure, und das bist du immer noch.«
»Verdammt, ich habe nicht mit dem Kerl geschlafen, okay?«
Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es. Sie ist wieder in seinem Inneren, bewohnt ihn.
»Ihm in einem Auto für vierzig Mäuse einen runterzuholen zählt nicht als mit ihm schlafen«, sagt er und wird so rot wie die Fontäne. »Bring mich bitte nicht dazu, mich zu schämen.« Erst recht nicht nach allem, was du abgezogen hast, würde er am liebsten hinzufügen, tut es aber nicht.
»Eigentlich solltest du der unkaputte Jones sein«, sagt sie.
Er trinkt einen Schluck des grässlichen Biers, um die Wut hinunterzuspülen, die in seiner Kehle aufsteigt. »Ich bin mit sechzehn abgehauen, damit ich nicht kaputt gehe – so kaputt wie du.«
Seine Worte sollen verletzen, aber ihr Gesicht bleibt unbewegt. Die Fontäne wird Crème-de-Menthe-grün. Abi fummelt in ihrem Handtäschchen herum, holt die Camels und das Bic heraus, fischt mit den Zähnen eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich an. Als sie den Rauch ausgestoßen hat, sagt sie: »Ich war froh, als du gegangen bist. Weil ich es nicht ertragen konnte, dein Gesicht zu sehen.«
»Mein Gesicht?«
»Dein Gesicht, das mir die Schuld gab. Ich kann es ertragen, wenn sie mir die Schuld gibt, ich kann es ertragen, wenn er mir die Schuld gibt, nicht ertragen kann ich, wenn du sie mir gibst.«
»Die Schuld wofür?«
»Was glaubst du wohl?«
Er hat seit Jahren nicht gelangzuckt, jetzt tut er es, zwei Mal.
»Der Fuchs und der Waggon«, sagt sie.
Es klingt wie ein Märchen der Gebrüder Grimm, und fast hätte er sich dumm gestellt und »Hä?« gesagt, aber er weiß, worauf sie hinauswill: auf das, in was er an dem Tag, an dem er zwölf wurde, hineingestolpert ist.
Sie weiß es also; sie weiß, dass er es weiß. Sie weiß, dass er es tief im Inneren immer gewusst hat, oder zumindest seit dem Tag mit dem Fuchs und dem Waggon. An diesem schicksalhaften Tag hatte er die Chance, den einen Menschen zu retten, den er liebte, aber als der Versager, der er ist, hat er es vermasselt. Lass uns so tun, als wüsste ich es immer noch nicht, würde er gern sagen, sagt aber: »Ich habe nie dir die Schuld gegeben, Jones.«
»›Wieso hat sie zugelassen, dass es passiert? Wieso hat sie es so lange weitergehen lassen? Wieso hat sie nicht geschrien? Wieso hat sie sich nicht gegen ihn gewehrt? Hat es ihr gefallen? Es muss ihr gefallen haben‹«, sagt Abi. »All das lässt sich von deinem Gesicht ablesen.« Sie klatscht die Hand gegen ihr eigenes Gesicht, ohrfeigt sich praktisch.
»Joy denkt vielleicht so. Ich nicht, das schwöre ich.« Er sieht sie nicht an, dreht ihr nicht das Gesicht zu, denn er hat sich das alles gefragt und schämt sich dafür zu Tode. Er sieht die Böschung hinunter, betrachtet die hintereinander aufgereihten Enten. In der Ferne, in der Nähe der Brücke, ziehen ein Mann und eine Frau sich bis auf die Unterwäsche aus und waten, vor Kälte kreischend, in das dunkle, hüfttiefe Wasser.
»Du denkst, er hat es gemacht, weil er mich mehr liebt«, sagt Abi. »Vielleicht aber hat er es gemacht, weil er mich weniger liebt. Mich konnte er brechen, aber dich, seinen Jungen, hat er heil gelassen.«
»Foutaise!«, faucht er und sieht sie nun doch an. »Hat dein Psychofritze dir diesen Mist in den Kopf gesetzt? Diese Typen unterziehen einen doch einer Gehirnwäsche, bringen einen dazu, allen möglichen Scheiß zu glauben. Denk nur an Sybil aus Eine Frau mit vielen Gesichtern. Ihr Therapeut hat sie dazu gebracht zu glauben, dass sie ungefähr sechzehn verschiedene Persönlichkeiten hat, dabei war das alles nichts als ein Haufen Scheiße.« Die Worte purzeln nur so aus seinem Mund, dabei glaubt er sie nicht einmal selbst; er redet einfach nur um des Redens willen.
Urplötzlich geht das farbige Licht der Fontäne aus, aber der Mond ist hell genug, um Abis Gesicht sehen zu können, das trotz der kantigen Cruella-de-Vil-Schatten, die darüber fallen, irgendwie engelhaft bleibt.
»Weißt du was, Jones?«, sagt sie. »Ich denke, du bist eifersüchtig. Ich denke, manchmal wünschst du dir, er hätte dich an deinem dreizehnten Geburtstag zum Vögelbeobachten mitgenommen und im Wald gefickt.«
»Verdammte Scheiße!«, schreit er. »So eine verdammte Scheiße!« Die Kiffer weiter unten sehen mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen hoch. »Wie kommst du nur darauf, so etwas zu sagen?«
Sie sieht den Mond an. »La vérité fait mal«, sagt sie.
»Deine Wahrheit tut nicht weh. Deine Wahrheit ist eine beschissene kranke Lüge.«
»Ach, gib mir noch ein Bier.«
Am liebsten würde er ihr die Flasche überziehen, dreht aber den Verschluss ab und reicht sie ihr. Innerlich kochend beobachtet er sie. Wieso hat er keinen richtigen Alkohol mitgebracht, keine Flasche Whiskey? Sie könnten sich bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen lassen, umkippen und den ganzen verdammten Tag auslöschen, oder vielleicht sogar ein Ohr verlieren.
Sie setzt ihr kleines verführerisches Lächeln auf, das Perrette’s-Lächeln, das er als Kind von ihr gelernt hat. Trotz aller Hässlichkeit, die sie beide ertragen haben, hat sie ihre Schönheit bewahrt. Es scheint unlogisch, unfair.
»Gott, ich hasse dich«, murmelt er, aber sie hört es.
»Ich weiß.« Sie trinkt einen großen Schluck des unechten Biers und gibt einen leisen Rülpser von sich. »Irgendwann bringe ich alle dazu, das zu tun.«