17 CARRY ME HOME

Laß mich in Bacchusʼ Armen ruhn

Das neue Jahr begann mit dem zweiten Teil der Frankreichtournee, wonach die Band in London die Arbeit an einer neuen Schallplatte aufnahm, für die als Nachfolger von Highway To Hell natürlich beson­ders hohe Erwartungen an die Band gestellt wurden. In Newcastle und Southampton waren noch zwei Konzerte nachzuholen, die auf der vergangenen Tournee ausgefallen waren. Der Auftritt am 27. Januar 1980 in Southampton sollte Bons letzter sein. Nur die Zuschauer der Fernsehsendung Top of the Pops durften ihn im Februar noch einmal erleben, als die Band ihre neue Single „Touch Too Much“ vorstellte.

Malcolm, Angus und Bon arbeiteten hart an der neuen Platte. Beson­ders Bon war überzeugt davon, dass sie die beste werden würde, die sie je gemacht hatten. Dennoch hatte er zuvor in vertraulichen Gesprächen mit Freunden geäußert, dass ihn die stilistische Enge von AC/DC nicht viel länger zufriedenstellen könne und dass er deshalb ein Soloprojekt ins Auge gefasst habe, in das er sich persönlich besser würde einbringen können.

ln der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1980 war Bon mit einem Musikerkollegen namens Alistair Kinnear bis gegen 2.30 Uhr im Music Machine im Stadtbezirk Camden. Er trank sieben Doppelte, was für seine Verhältnisse nicht viel war. Kinnear fuhr Bon mit dem Auto nach Hause. Dieser war jedoch so betrunken, dass er nicht allein gehen konnte und Kinnear Haus- und Wohnungstür öffnete, um ihn dann hineinschleppen zu können. Dabei sperrte er sich jedoch selbst aus ‒ er war ebenfalls ziemlich betrunken ‒ und musste mit Bon zu seiner eigenen Wohnung in der Overhill Road 67 in Dulwich fahren. Bon war inzwischen in einen tiefen Schlaf gesunken, und weil Kinnear ihn nicht tragen konnte, holte er eine Decke für ihn aus seiner Wohnung und ging schlafen. Erst am Abend des folgenden Tages wachte er auf und konnte wieder nach ihm sehen. Doch zu diesem Zeitpunkt war Bon bereits lange tot – an seinem Erbrochenen erstickt.

Drei Jahre zuvor hatte Bon in einem Fragebogen „Carry Me Home“ als sein liebstes Stück von AC/DC angegeben. Es war seinerzeit nur auf der Rückseite einer australischen Single erschienen und ist deshalb recht unbekannt geblieben. In ihm hatte Bon bis in die Einzelheiten das beschrieben, was ihm an jenem Tag im Februar 1980 zum Verhängnis werden sollte: Er sitzt mit einer Dame spätnachts in einer Bar und muss zu seiner Verwirrung feststellen, dass seine Begleitung weitaus mehr verträgt als er und nur darauf wartet, dass ihn, schwer angeschlagen, wie er ist, die Morgensonne vollends erledigt ‒ „You’re waiting for the sunshine to come and kill me“. Später bittet er, fast bis zur Besinnungs­losigkeit betrunken und auf dem Boden liegend, um eine Plastiktüte, da er sich übergeben müsse. Die einzelnen Strophen werden von Bons eindringlichem Flehen um Hilfe unterbrochen: „Won’t you carry me home, I need your help. ‒ Trag mich bitte nach Hause, ich brauche deine Hilfe.“ Das Lied endet in Bons schallendem Gelächter ...

Kinnear brachte Bon sofort in das Krankenhaus Kings College, wo ihn die Ärzte für tot erklärten. Als nächste Verwandte konnte er nur Bons Freundin Silver Smith angeben, die sogleich verständigt wurde. Sie rief Angus an, doch als der sich bei dem Krankenhaus vergewissern wollte, verweigerte man ihm am Telefon jegliche Auskunft. Es waren schließlich Manager Peter Mensch und Ian Jeffery, die der Band das Unfassbare bestätigten, nachdem sie Bon identifiziert hatten. Angus erinnert sich: „Peter fuhr ins Krankenhaus, so schnell er konnte, um herauszufinden, was geschehen war und ihn zu identifizieren, denn wir hatten alle unsere Zweifel. Erst wollte ich es gar nicht richtig wahrha­ben, aber am Morgen dämmerte es mir dann. Malcolm rief Bons Eltern an, denn wir wollten nicht, dass sie es ganz unvorbereitet aus den Nachrichten erführen.“

Am 22. Februar wurde eine Leichenöffnung vorgenommen, doch konnten die Ärzte nichts Außergewöhnliches feststellen. Somit wurde offiziell als Todesursache akute Alkoholvergiftung angegeben. Die Lei­che wurde nach Fremantle überführt und dort am 29. Februar einge­äschert. Am darauffolgenden Tag fand auf dem Friedhof der Stadt die feierliche Beisetzung der Urne im engsten Familien- und Freundeskreis statt. Die australische Plattenfirma hatte die Öffentlichkeit gänzlich uninformiert gelassen, so dass keine Medienvertreter zugegen waren, die über den Abschied von einem australischen Ausnahmemusiker hätten berichten können. Angus blickt zurück: „Die Beerdigung selbst verlief ziemlich ruhig, obwohl von draußen viele Fans zuschauten. Es war auch gut, dass es keinen Massenauflauf gab.“

In einem Nachruf der amerikanischen Plattenfirma heißt es: „Bon Scott war die Trumpfkarte im Spiel von AC/DC. Er war allseits bekannt für seine Ausschweifungen gleich welcher Art, und wenn sich unter seiner umfangreichen Fanpost mal ein Brief befand, der kein verlockendes Angebot eines weiblichen Bewunderers enthielt, so war es ein Appell an Bons Verantwortung, den armen Angus nicht auf die schiefe Bahn zu bringen. Nun ist Bon leider nicht mehr unter uns, doch uns bleibt angesichts seines verfrühten Todes der Trost, dass er, hätte er die Wahl gehabt, wahrscheinlich ebendiesen Abgang genommen hätte. Auch dieses letzte Mal schlug er wieder zu, ohne mit der Wimper zu zucken.“

Der verantwortliche Mitarbeiter von Atlantic hatte offenbar noch nie etwas davon gehört, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, und nicht etwa eine Lebenseinstellung, geschweige denn eine vorbildliche. In einem Interview mit Sounds fand Angus den passenden Ton: „Bon war für uns alle wie ein Vater. Er war ungefähr zehn Jahre älter und hatte eine Menge Wissen und Eifahrung. Wenn es nach einem Konzert Schwierigkeiten mit unserer Bezahlung gab, kümmerte Bon sich dar­um. Wenn wir persönliche Probleme hatten, gingen wir zu Bon. Er war eine ganz besondere Persönlichkeit. Er war einzigartig. ... Oft zog er nach den Konzerten mit Fans los und ging mit ihnen auf eine Party oder sonstwohin. Er beurteilte die Leute danach, wie sie waren, und wenn sie ihn einluden und er in der Stimmung dazu war, ging er mit. Ihm war es egal, ob diese Leute einen Namen hatten und Stars waren oder nicht, er ging einfach mit. Wir nannten ihn ,Bon der Liebenswerte‘. ... AJistair Kinnear dachte, er täte das Richtige. Er war schon ein paarmal mit Bon unterwegs gewesen, und Bon war an jenem Abend nicht das erste Mal so fertig. Bon hatte oft drei Flaschen Whiskey einfach so weggetrunken, und das machte ihm auch auf Dauer nichts aus. Er war eigentlich gesund. Sein Tod war ein Unglücksfall, da ist einiges zusammengekommen. Bon hatte auch schon hinter Verstärkern geschlafen oder erst ganz normal vor dem Fernseher gesessen, um dann plötzlich aufzustehen und sich hinter einem Sofa schlafen zu legen. Er war einfach so. Wenn er einen getrunken hatte, konnte er überall schlafen, aber wenn er morgens aufwachte, ging es ihm wieder gut. Er konnte bis nachts um drei oder vier saufen und am nächsten Tag um zehn aufstehen, um zum Flughafen zu fahren, und er sah nie krank aus ‒ ein erstaunlicher Mensch.“

Robert Ellis, der in jener Zeit als Fotograf für die Band arbeitete, sieht die Sache im Rückblick sehr nüchtern: „Bon war sich selbst eine Gefahr, und man musste ständig auf ihn aufpassen. Trotzdem war er fast immer der Erste, der sich morgens in Schale geworfen hatte und unten auf die Abfahrt wartete. Ich warnte ihn und alle anderen, aber niemand küm­merte sich darum, am allerwenigsten er selbst.“

Heute blickt Angus folgendermaßen auf seine Zeit mit Bon zurück: „Eigentlich war er in den letzten beiden Jahren seines Lebens ziemlich nüchtern. Er fühlte sich nur so stark von Partys angezogen. Wenn wir zusammen fortgingen, warnte er mich vorher: ,Egal was ich mache, du lässt es besser bleiben!‘ AC/DC war sein Leben, und das ist es auch für mich. In seinen alten Bands hatte er immer wie ein anderer singen müssen. Wir wollten, dass er singt wie er selbst. ... „Das war damals so, als ob jemand aus der Familie gestorben wäre, denn wir waren ständig zusammen gewesen. Bon war eine Persön­lichkeit, vor der man Respekt haben musste, denn obwohl er ein bisschen schluckte und gerne einen draufmachte, war er immer da, wenn man ihn brauchte. In all den Jahren musste er nur ein paar Konzerte ausfallen lassen, und das war, als wir ihn wegen seiner Stimme nicht singen lassen wollten. Aber er selbst ist am meisten zu bedauern, denn er sagte immer, dass er auf gar keinen Fall aufgeben würde, bevor er berühmt sei. ... Malcolm und ich hatten uns wirklich darauf gefreut, mit Bon die neue Platte aufzunehmen, mehr als sonst, denn der Erfolg von Highway To Hell war eine große Herausforderung für uns. Das war das Traurigste an der ganzen Sache, denn es wäre vielleicht seine beste Platte über­haupt geworden. Das wäre die Krönung für ihn gewesen. Das ist auch für die Fans der größte Verlust, denn sie hätten ihn auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung erleben können.“

Bon Scotts Schaffen war ein Kampf wider die Eintönigkeit und Ungerechtigkeit des Lebens in der traditionellen britischen Klassenge­sellschaft. Der Rock’n’Roll gab ihm eine neue Heimat und erfüllte sein Dasein mit Sinn. Sein ungezügelter Lebenswandel war nur ein unver­meidlicher Teil dieser Rebellion, und Bon Scott war alles andere als ein Nihilist oder gar ein Asozialer. Auch zu seinen Lebzeiten musste man schon sehr lange suchen, um jemanden zu finden, der etwas Schlechtes über ihn berichten konnte. Er pflegte stets ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, zu seinen Freunden und zu seinen Fans gleichermaßen. Das Charakterbild, das uns diejenigen zeichnen, die Bon kannten, setzt sich aus den Grundfarben Aufrichtigkeit, Großherzigkeit und Humor zusammen.

Der altgediente australische Rockmusikjournalist Glenn A. Baker bezeugt: „Ich begegnete Bon Scott in den siebziger Jahren einige Male, und jedesmal musste ich mich mehr darüber wundern, wie der wahre Charakter eines Menschen so von seinem Bild in der Öffentlichkeit abweichen kann. Bon war wirklich ein netter Mann, warmherzig, freundlich und außergewöhnlich witzig. Er spie kein Feuer, riss Fliegen keine Flügel aus und fraß auch keine kleinen Kinder. Seine furchterre­gende Bühnenshow war keinesfalls unecht, aber sie war eine Maske, die er nach Belieben auf- und absetzen konnte.“

Bons Anteil an dem, was AC/DC waren und sind, kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. Als Bon zu AC/DC stieß, steckte die Band noch in den Kinderschuhen. Malcolm und Angus waren zwar in ihrem Eifer kaum zu bremsen und besaßen die Fähigkeiten und nicht zuletzt auch die Beziehungen, um schnell voranzukommen, doch Bons Erfahrung, seine Ausstrahlung und natürlich auch seine Gesangslei­stung selbst gaben der Band eine völlig neue Dimension. Erst auf dieser Grundlage konnten AC/DC ihr ganzes Potential erkennen und den Sprung an die Spitze wagen. Und so steht Bon Scott heute da als eine Ikone der lebenden Legende AC/DC.

Bons Dichtung zeichnet sich durch Einfallsreichtum und literari­sches Geschick aus, wenn auch ihre allgemeine Schlichtheit oft als Seichtheit und ihre schamlose Dreistigkeit als Zotigkeit missverstanden wurden. Seine Texte sind nicht einfach nur lose Sammlungen von schmutzigen Witzen, sondern die packenden Geschichten eines guten Freundes aus den vielen Jahren, die er auf der Straße verbrachte.

„Er hatte überall Freunde“, verrät Angus. „Zu Weihnachten bekam er stapelweise Post, und er schrieb ständig Briefe, ich glaube, sogar seinen Feinden.“ Wenige Tage nach seiner Beerdigung passierten seltsame Dinge. Freunde in der ganzen Welt bekamen Post von Bon ‒ Weih­nachtskarten, die er in der für ihn typischen Nachlässigkeit nicht aus­reichend frankiert hatte und deren Beförderung sich wahrscheinlich deshalb verzögert hatte.

So hatte Bon zu seinem Abtritt noch einmal daran erinnert, dass ihm die Welt wirklich am Herzen gelegen hatte. Dafür schulden wir ihm etwas.