28 R.I.P. (ROCK IN PEACE)

Eine Friedensmission fordert ihren Tribut

Die Welttournee zu The Razor’s Edge war mit über 150 Konzerten vor insgesamt drei Millionen Zuschauern nicht nur die längste und umfang­reichste in der Geschichte der Band, sondern auch die zusätzlichen Showele­mente waren so zahlreich und spektakulär wie noch nie zuvor. Ein paar Höhepunkte? Das Schlagzeug erhob sich beim Anzählen von „Thunder­struck“ auf einem beweglichen Podest in die Höhe, gigantische Puppen wurden, während die Band spielte, auf der Bühne aufgeblasen, Angus wurde auf einer beweglichen Plattform über die Köpfe der Zuschauer geschwenkt, und dies alles wurde durch eine gewaltige neue Lichtan­lage noch besser in Szene gesetzt. Geldscheinregen, Glocke und Kano­nen gehörten natürlich ebenfalls zu dem Abend mit AC/DC.

Trotz des großen technischen Aufwands, den man für die Konzerte trieb, war es immer noch Angus, der im Mittelpunkt des Kritiker- und Zuschauerinteresses stand. Mitch Potter schrieb in einem Konzertbe­richt im Toronto Star: „Angus war der Star des Abends, wenn er zwischen den einzelnen Saitenanschlägen enttäuscht die Hand ans Ohr legte, um seine Fans zu einer Antwort zu reizen, wenn er in einem Turnschuhverschnitt von Chuck Berrys Entengang über die Bühne hüpfte oder wenn er als Höhepunkt eines besonders albernen Strip­tease seine Hose herunterließ (er hatte noch eine drunter). In der ganzen großen Welt des Hardrock findet man keinen liebenswürdige­ren Tunichtgut als Angus. Er trägt immer noch die lächerlichen kurzen Hosen, mit denen er schon Ende der Siebziger mit viel Selbstironie den Mythos vom Gitarrengott zerstörte. Ist es möglich, dass altgediente Kämpfer wie AC/DC die Massen deshalb im Handstreich erobern, weil die neueste Hardrock-Welle so unglaublich langweilig ist?“

Jonathan Gold von der Los Angeles Times erklärte den Erfolg der Band folgendermaßen: „Manche Leadgitarristen stellen sich den Leuten als Götter dar, doch Angus ist ein Jedermann des Hardrock, der Bart Simp­son des Rock’n’Roll, und jeder der Halbwüchsigen in der Halle denkt insgeheim, dass er genau dasselbe auch machen könnte, wenn er nur eine richtig gute elektrische Gitarre hätte und sein Bruder ein berühmter Plattenproduzent wäre.“ Auch Malcolm bekam von Gold seine wohlver­diente Auszeichnung: „An seinen kompakten, leicht synkopierten Riffs erkennt man die Band sofort.“ Die Rhythmussektion, mit dem Einstieg von Chris um zwei Basstrommeln erweitert – er spielte drei! – entlarvte Gold als geschickt eingesetztes Mittel zur Täuschung des Gehörsinnes: „Genauso, wie der stampfende Geradeausrhythmus von AC/DC sogar die einfachsten Synkopen (die typischen Achtelvorzieher in den Riffs) ziemlich nach Funk klingen lässt – deshalb kommen auch die simpelsten Stücke von AC/DC allemal härter als die vertracktesten Riffs der Red Hot Chili Peppers –, kann auch das zurückhaltende Auftreten der Gruppe dazu dienen, Angus Youngs Bühnenshow um so mehr hervorzuheben.“

Der Orlando Sentinel kommentierte das Konzert in der Stadt wie folgt: „Stretchhosen sucht man hier vergebens. Die Band weiß sich dennoch wirkungsvoll in Szene zu setzen. Young betätigte sich als Possenreißer, indem er im Entengang über die Bühne hüpfte wie Chuck Berry mit Beinkrämpfen und die Rampen auf beiden Seiten der Bühne hinaufspurtete. Mehrere Male warf er sich nieder und spielte in einem Wutanfall weiter, während er sich auf dem Boden krümmte und mit den Beinen in der Luft strampelte, als ob er dort irgendwo Halt suchte. Der stämmige Johnson überließ zeitweise dem Gitarristen das Feld, blieb jedoch immer präsent, während er als übergroßes Insekt erbost ins Mikrofon heulte und sich wie ein Boxer zusammenduckte, um seine durchdringenden Schreie auszustoßen.“

Doch mitten in dem größten Karrierehoch der Band seit den Tagen von Back In Black und For Those About To Rock ‒ We Salute You wurde die Tournee von einem tragischen Unglücksfall überschattet. Am 18. Januar 1991 wurden während eines Konzertes im Salt Palace in Salt Lake City drei junge Zuschauer zu Tode getrampelt, als sie zu Beginn der Show von der zur Bühne drängenden Menge niedergerissen wur­den. Das war seit 1979 der erste große Zwischenfall dieser Art. Damals waren während eines Konzertes von den Who in Cincinnati elf Men­schen zu Tode gedrückt worden. AC/DC hatten damals den Abend eröffnet.

Wieder einmal kam die Band ins Gerede. Es blieb nicht bei dem öffentlichen Dialog über die von der Stadt geregelte Sitzverteilung in der Halle ‒ mit den Innenraumkarten war man an keinen bestimmten Platz gebunden, sondern konnte sich frei bewegen ‒, den Musikern wurde Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, da sie das Konzert nicht sofort unterbrochen hatten. Die Beschuldigungen, die Band habe un­berührt weitergespielt und sich nicht um die Unruhe im Publikum gekümmert, erklärte jedoch Charles M. Young in der Zeitschrift Musician für unzutreffend: Jeder, der einmal auf einer Bühne gestanden hat, weiß, dass man wegen der blendenden Scheinwerfer und der großen Lautstärken kaum mitbekommt, was im Publikum passiert.“

Ein Saalordner behauptete, er habe erfolglos versucht, den obersten Sicherheitsangestellten von AC/DC zu einer Unterbrechung des Kon­zerts zu bewegen, da einige Leute im Publikum gestürzt seien und nicht mehr hochkämen, doch das Management erklärte, die Band habe sofort zu spielen aufgehört, als man sie über den Ernst der Lage unterrichtet hatte. Sicher ist nur, dass ungefähr 45 Minuten nach dem folgenreichen Gedränge Brian Johnson die Zuschauer bat, vom Bühnenrand zurück­zutreten, und verlangte, dass man die Hallenbeleuchtung einschalten möge. In den 15 Minuten Pause konnten die Schwerverletzten endlich hinausgebracht werden, danach spielte die Gruppe bei voller Hallenbe­leuchtung weiter, um unter den vielen tausend anderen Zuschauern, die von der Sache nichts mitbekommen hatten, Ruhe und Ordnung zu erhalten.

Die Angehörigen der Opfer strengten Prozesse gegen die Band, gegen die Veranstalter und gegen die für die Genehmigung der Konzer­te zuständigen Behörden an, während die Tournee unbeeindruckt da­von fortgesetzt wurde. Im März und April ging es dann nach Europa. Aus Belfast wusste Angus von Vorkommnissen der etwas harmloseren Art zu berichten: „Ich hatte zwei Hosen an, aber ich wusste nicht, dass meine Unterhose vorne aufgerissen war. Als ich die Shorts herunterzog, machte Malcolm ein ganz erschrockenes Gesicht und zeigte auf irgend­was an mir. Doch ich war zu sehr beschäftigt und dachte nur: ,Was meint der bloß?“ Die Polizisten guckten mich irgendwie alle so komisch an, und die Zuschauer waren sprachlos, als ich mich zu ihnen umdreh­te. Ich schaute an mir herunter und sah schließlich, was los war. Aber die Leute nahmen es gut auf, und außerdem habe ich nichts zu verber­gen, wie Brian mich beruhigen konnte.“

Ende Mai kehrte die Band für die erste Hälfte des Sommers nach Amerika zurück. Die Los Angeles Times schrieb über ein Konzert in Laguna Hills: „Wenn auch ein Teil des Publikums aus recht wilden Gesellen bestand, so wurde in dem Konzert doch bestimmt nicht das Böse gefeiert, wie manche Kirchenführer es von den Auftritten von AC/ DC behaupten. Manche der jüngeren Zuschauer taten ihr Bestes, den beunruhigenden Statistiken über Jugendalkoholismus gerecht zu wer­den, doch die meisten hatten einfach nur eine Menge Spaß bei einer kräftigen Ladung mitreißender Musik. Die Stimmung war ganz anders als bei dem letztjährigen Heavy-Metal-Festival im Pacific Amphitheater mit Dio als Hauptgruppe, wo der Geruch von Drogen und ein Hauch von Gewalt in der Luft lagen.“

Patrick Macdonald schrieb in der Seattle Times: „Wenn andere Bands immer das Gleiche machen, bedeutet das, dass sie sich langsam verbrau­chen. Nicht so bei AC/DC, denn die Gruppe genießt offensichtlich, was sie tut, und wirkt dabei keineswegs verbissen. Young, ein kompaktes Energiebündel von 1,57 m und 50 kg, versteht es ausgezeichnet, sich in Szene zu setzen und das Publikum mit seiner Energie zu elektrisieren, und Sänger Brian Johnson ist ein vierschrötiger Arbeitertyp, zu dem der Rockstar eigentlich überhaupt nicht passt.“

Brian drückte dies natürlich etwas einfacher aus: „Wir spielen so, wie wir uns fühlen. Wir haben uns nie als große Künstler gesehen. Wir sind einfach fünf Typen, die gerne zusammen ein bisschen Musik ma­chen.“ – „Wir treten als Einheit auf“, erklärte Angus. „Deshalb sind wir, was wir sind. Wir müssen auf der Bühne nicht unbedingt ausflippen. Ich hüpfe zwar die ganze Zeit herum, aber das ist die Energie in mir. Bei Brian ist es genauso. Wir stehen immer ziemlich im Mittelpunkt, aber wir gehen mit einer gewissen Einstellung auf die Bühne, die uns verbie­tet, irgendetwas im Alleingang zu machen. Wir sagen uns immer: ,Wenn du etwas machst, lass die anderen wissen, dass du es machst.‘ ... Wir haben nie behauptet, wir seien besser als unser Publikum. Viele Leute gucken sich uns an und sagen: ,Was der kann, das kann ich doch auch!‘ Ich habe noch nie zu den Leuten gesagt: ,Ihr müsst Beifall spenden, denn hier sind wir, also steht auf und flippt aus!‘ Wenn wir auf die Bühne gehen, dann gehen wir zur Arbeit.“ – „Wir haben aber dabei den besten Job, den man sich vorstellen kann“, schwärmte Brian. „Mil­lionen von Menschen auf der ganzen Welt lieben uns, und immer wenn wir wollen, besuchen wir sie mit unseren Tourneen. Wir wären ja dumm, wenn wir das aufgeben würden. Ich weiß, dass es in manchen Bands Reibereien gibt, die den Leuten das Leben schwer machen, aber das ist bei uns ganz anders. Wir lieben einander wie Brüder.“

Im August und September spielte die Band nach 1981 und 1984 zum dritten Mal als Hauptgruppe auf den Monsters-Of-Rock-Festivals. Das Vorprogramm gestalteten diesmal Metallica, Mötley Crüe, Queensryche und die Black Crowes. Von der Keimzelle der „Monsters“, dem Festival in Castle Donington, verlautete, Brian habe irgendwann im Laufe des Tages zu Nikki Sixx von Mötley Crüe gesagt, seine Tätowie­rungen sähen aus, als habe jemand auf seinen Arm gekotzt. Ansonsten vertrug er sich aber ganz gut mit den Kollegen Musikern. „Es war einfach Klasse“, sagte er hinterher. „Hier geht es nicht nur ums Geld; diese Anerkennung von den anderen Musikern, und dann die Reakti­on der Zuschauermasse, das war fast zu viel. Wir sind wirklich stolz und dankbar.“

Donington sollte jedoch nicht der Höhepunkt der Festivaltournee gewesen sein. Am 28. September 1991 feierte die Band auf dem Tuschno-Flugplatz in Moskau russische Premiere. Das insgesamt zehnstündi­ge Gratiskonzert mit Metallica, Pantera, den Black Crowes und einer Moskauer Gruppe, das den Abschluss der Monsters-Of-Rock-Tournee bildete, sollte an den gescheiterten Putsch gegen die Demokratiebewe­gung in der Sowjetunion wenige Wochen zuvor erinnern. Die Veran­staltung war sehr kurzfristig angesetzt und geplant worden, doch das hinderte die russischen Freunde der Rockmusik nicht, zu Hunderttau­senden nach Moskau zu kommen; offizielle Stellen sprachen von 150.000 Besuchern, während die Schätzungen der Veranstalter weit darüber hinausgingen. Darunter waren auch 12.000 Soldaten der Miliz, die bei dem Spektakel für Ordnung sorgen sollten. „Die Soldaten hatten bei 850.000 aufgehört zu zählen“, übertrieb Angus die Zuschauerzahlen in einem Interview mit der Boston Globe. „Und als wir dann an der Reihe waren, hieß es, es kämen immer noch Leute rein. Die Stadt war wie leergefegt. Die waren wahrscheinlich alle auf dem Konzert.“

Ein besonderer Umstand, von dem Angus berichtete, legte den Schluss nahe, dass die Welt nur knapp einer Katastrophe entgangen war, als die Band bei „For Those About To Rock (We Salute You)“ ganze 21 großkalibrige Geschütze aufgefahren hatte: „Als die Soldaten die Kano­nen hörten, blickten sie überhaupt nicht mehr durch. Ihnen klappte die Kinnlade herunter, und sie sahen aus, als ob sie sagen wollten: ,Die haben uns reingelegt! Das war alles eine imperialistische Finte.‘“

Ein etwas ernsthafterer Kommentar zu dem „Fest der Demokratie und des Friedens“, als das das Konzert angepriesen worden war, kam von Brian: „Das war nur dreißig Tage nach dem Putschversuch, und es war das Dankeschön der Regierung an die Jugendlichen, die bei dessen Niederschlagung geholfen hatten. Es war toll zu sehen, wie die Leute, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, bei der Musik von AC/DC mitgingen wie die Leute überall.“

Trotz der über 1000 Milizionäre, die man aus Sicherheitsgründen um die Bühne herum postiert hatte, waren die nach Rockmusik ausgehun­gerten Russen kaum zu bändigen, und es gab vereinzelte Festnahmen wegen ungebührlichen Verhaltens. „Ich glaube, die Menge war ver­rückter als jedes andere Publikum, vor dem wir bis dahin gespielt hatten“, erzählte Angus. „Die Regierung hatte darauf bestanden, dass die Miliz als Sicherheitsmannschaft eingesetzt werden würde, aber einige von denen schlugen dann mit ihren Knüppeln auf die Zuschauer ein. Unsere eigenen Sicherheitsleute konnten sie dann aber dazu bringen, sich zurückzuziehen und einfach nur zuzuschauen.“ Entgegen anders­lautenden Meldungen unmittelbar nach der Veranstaltung kam nie­mand dabei zu Tode, jedoch mussten über fünfzig Personen mit zum Teil schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden.

Das Moskauer Konzert war insofern bedeutsam, als der größte Teil der westlichen Rockmusik bis zum Anbruch der Zeit von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion geächtet gewesen war. Obwohl AC/DC schon lange zu den beliebtesten Gruppen in Rußland gehörten, hatte man ihre Platten bislang nur auf dem Schwarzmarkt bekommen können.

Auch der Abschluss der Australientournee war von Ausschreitungen begleitet. Auf dem vorletzten Konzert in Wellington in Neuseeland wurden zwei der Zuschauer durch Messerstiche verletzt. Zudem muss­ten mehrere wegen einer Überdosis Rauschmittel behandelt werden. Danach zogen Teile der Konzertbesucher in Gruppen durch die Stadt, beschädigten Autos und zerschlugen Schaufensterscheiben. Ins­gesamt wurden fünfzig Personen festgenommen.