29 TWO’S UP

Doppelt hält besser

Ein knappes Jahr nach Beendigung der Razor’s-Edge-Tournee erschie­nen lang erwartete Liveaufnahmen, die ersten mit Brian Johnson am Mikrofon. Die Bruce-Fairbairn-Produktion war unter dem schlichten Namen AC/DC Live als einzelne Kompaktdisk mit 14 Stücken, als dop­pelte Kompaktdisk mit 23 Stücken, als doppelte Vinylschallplatte mit 20 Stücken und als Videofilm mit 18 Stücken erhältlich. „Für uns war das Doppelalbum das wichtigste“, erklärte Angus. „Das Einzelalbum ist eine Idee der Plattenfirma für die Leute, die uns vielleicht nur von Back In Black kennen. Wir wollten nicht versuchen, eine Greatest-Hits-Platte zu machen, denn wir hatten noch nie einen.“

Es stammten nicht nur die einzelnen Stücke der Veröffentlichungen von unterschiedlichen Spielorten, es waren auch zum Teil verschiede­ne Aufnahmen ein- und desselben Stücks auf die Veröffentlichungen verteilt worden, so dass sich insgesamt ein recht uneinheitliches Bild ergab. „Ich bin mir nicht sicher, wo die Songs von der Liveplatte alle herkommen“, musste auch Brian zugeben. „Ich bin wirklich durchein­andergekommen mit den ganzen Bändern, die hin- und hergeschickt wurden. Die Lieder kommen aus Moskau, Donington, Schottland, Ka­nada und Amerika. Es wurden nicht zu viele von einem Konzert ge­nommen, sonst wären einige Leute beleidigt gewesen. Man wollte diplomatisch sein, aber das meiste ist aus Amerika und Kanada.“

Die Videofassung von David Mailet fing die Atmosphäre in einem AC/DC-Konzert vorzüglich ein und konnte im Vergleich zu dem ersten Konzertfilm Let There Be Rock von einem der letzten Auftritte mit Bon Scott, der auf dem Höhepunkt der Popularität der Band Anfang der Achtziger in den Kinos gezeigt worden war, sowohl durch eine überle­gene Ton- und Bildqualität als auch durch eine einfallsreiche und vielseitige Kameraführung überzeugen. An der Musik selbst hatte sich jedoch nicht viel geändert. Zum direkten Vergleich mit einem älteren Konzert, der dies bestätigte, konnte man sich auch If You Want Blood You’ve Got It von der Powerage-Tournee anhören.

„Wir wollten den Film machen, bevor uns Haare und Zähne ausfallen“, scherzte Angus. „Die Leute sollen uns doch nicht an der künstlichen Lunge hängen sehen. Das Doppelalbum ist eigentlich mehr für die Sammler. Wenn wir nach den Konzerten mit ihnen sprechen, ist immer die erste Frage: ,Wann bringt ihr die nächste Liveplatte raus?‘ Wir wollten aber damit warten, bis es genug Studioplatten mit Brian gibt, so dass er auch seinen Anteil eigener Lieder hat.“

AC/DCLive war auch eine Reaktion auf die Schwarzmitschnitte von Konzerten der Band, die über die Jahre in immer größeren Zahlen den inoffiziellen Markt überschwemmt hatten. René Wölfels Boots And Their Roots, das einschlägige Standardwerk aus Deutschland, führt an die 450 Stück dieser Raubpressungen auf, und mit jeder Tournee kommen neue hinzu. „Viele Bootlegger haben wirklich das ganze Gefühl eines AC/ DC-Konzerts auf Platte festgehalten“, musste Angus anerkennen. „Da dachten wir: ,Vielleicht sind wir jetzt mal dran.‘ Und es war die beste Zeit dazu, denn wir waren fast zwei Jahre auf Tournee gewesen.“ – „In Europa und Asien werden ständig Bootlegs von uns hergestellt, deshalb haben wir jetzt selbst einen Boot von uns gemacht“, erklärt Brian. „Auf dem Doppelalbum und auf dem Video sind Songs, die nie als Single erschienen sind oder die wir nicht oft spielen.“

Natürlich verschafften die Live-Veröffentlichungen der Band auch ein wenig Luft bis zur nächsten Studioplatte, wie Angus offen zugab: „Wir haben jetzt das Glück, dass wir ein bisschen Zeit haben. Wir können Songs für eine ganze Platte schreiben, ohne dass jemand sagt: ,Los, Leute, in zwei Wochen müsst ihr fertig sein.‘ Hoffentlich können wir diese Platte genauso machen, wie wir wollen.“ – „Natürlich haben wir dadurch eine kleine Atempause bis zur nächsten Studioplatte“, sagte auch Brian. „Aber die Liveplatte war nicht nur zur Überbrückung ge­dacht. Sie sollte etwas Besonderes mit einem großen Angebot für die Fans sein. – Bedeuten diese ganzen Livesachen, dass wir erst noch ein bisschen absahnen wollen und dann zusammenpacken? Das fragen mich die Leute die ganze Zeit, und die Antwort lautet: ,Nein, ganz bestimmt nicht.‘“

Die Aufnahmen wurden im Studio nur sehr behutsam überarbeitet, wie Angus versicherte: „Die technischen Unsauberkeiten wie Rück­kopplungen oder das Rasseln der Schnarrsaiten am Schlagzeug ver­sucht man rauszubekommen, aber die falschen Töne ‒ eigentlich spiele ich keine falschen Töne; ich nenne das künstlerische Freiheit –, die werden dringelassen, sonst haben wir am Ende ein Studioalbum.‘“

Nach seinen liebsten Liveplatten von anderen Künstlern gefragt, antwortete Angus: „Live At The Fillmore von den Allman Brothers ist ein tolles Livealbum. Auf Woodstock sind ein paar wirklich gute Stücke, zum Beispiel die Version des ,Summertime Blues‘ von den Who. Live At Leeds von den Who ist eine Spitzenplatte, und auch Live At Cook County Jail von B.B. King. Ich finde auch die eine von Muddy Waters toll, die kurz nach seinem Tod erschien. Johnny Winter spielt darauf Gitarre.“

Insgesamt wurde das veröffentlichte Livematerial zum größten Ver­kaufserfolg für die Band seit For Those About To Rock ‒- We Salute You. Angus beteuerte, dass die intensive Beziehung zu ihrer Anhängerschaft, wie sie auf AC/DC Live hörbar wurde, auch außerhalb der Konzerthal­len bestehe: „Ich war auch mal jung, und heute sieht man mich immer noch auf der Straße herumlaufen. Wir leben nicht abgeschieden von der Öffentlichkeit. Es gibt immer viele junge Leute, die uns treffen und mit uns reden wollen, und so schwer ist das gar nicht. Wenn wir in der Stadt sind, kann man uns an jeder Ecke sehen.“