33 COME AND GET IT

Schluss mit Kaspermucke

Nach vollbrachter Produktion ist es vor allem Brian Johnson, der aus gegebenem Anlass – 20 Jahre seines Mitwirkens in der Band – die letz­ten zwei Jahrzehnte noch einmal Revue passieren lässt. „Bis 1980 hatte ich zwar bescheidenen Erfolg mit meiner Popband Geordie. Dabei bin ich davon ausgegangen, dass jeder Mensch in seinem Leben nur die berühmten 15 Minuten im Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit steht. Ich hatte meine 15 Minuten gehabt – so glaubte ich jedenfalls damals. Geordie waren am Ende, wir besaßen nicht einmal eine Schüssel zum Pinkeln. Und als ich nach drei Jahren des Tourens mit eingekniffenem Schwanz und leeren Taschen zu meiner Frau und meinen zwei kleinen Kindern nach Newcastle zurückkehrte und mir einen neuen Job suchen musste, war mir das alles unglaublich peinlich. Aber ich schluckte diese bittere Pille anstandslos. Nach einer gewissen Zeit machte mir mein Job sogar ein wenig Spaß. Ich arbeitete vier Jahre lang und spielte neben­bei in einer kleinen Barkapelle zum Tanz auf. Und wie aus dem Nichts bekomme ich einen Anruf, ich möge doch zum Vorsingen vorbeikommen – AC/DC suchten einen neuen Sänger.“

Dabei drückte noch Monate nach der offiziellen Bestätigung seiner Verpflichtung und selbst noch unmittelbar nach der Veröffentlichung von Back In Black ein gewisser Rest von Unsicherheit auf die Gemütslage des Sängers: „Ich war gerade acht Wochen in der Band und hatte davon sechs Wochen Studiozeit hinter mir. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit einer frisch kopierten Kassette des Albums nach Newcastle zurückkehrte und diese einem Freund vorspielte. Der fragte mich völ­lig entsetzt: ,Hey, Brian, was hast du da gemacht? Warum singst du plötz­lich so schrecklich hoch? Das passt doch gar nicht zu dir.‘ Das saß. Was war ich auf einmal fertig. ,Brian‘, sagte ich zu mir selbst, jetzt hast du vielleicht eine der größten Rock’n’Roll-Bands der Welt ruiniert.“ Und ich legte mir Argumente zurecht, wie ich vielleicht der Kritikerschelte begeg­nen könnte: ,Ich musste so hoch singen, weil es der Produzent Mutt lange von mir verlangte.“ Doch was war ich dann erleichtert, als ein Musikmagazin Back In Black vorab zum Album des Jahres kürte.“

Inzwischen haben sich die Zeiten, nicht aber die musikalische Direk­tive von AC/DC mächtig geändert: „Es ist immer noch der gleiche Rock’n’Roll wie damals“, analysiert Johnson. „Wir haben immer daran festgehalten und gehören deswegen zu den wenigen Glücklichen auf dieser Erde, die niemals etwas machen mussten, zu dem sie nicht stehen können. Auch heute haben wir den Leuten noch immer etwas mitzu­teilen, ohne dabei mit faulen Tricks arbeiten zu müssen. Es gäbe nur einen Grund für uns aufzuhören, nämlich wenn ein Arzt uns eröffnen würde: ,lhr müsst jetzt Schluss machen, sonst krepiert ihr.‘“

Johnson erhielt ein gutes halbes Jahr später ausgiebig Gelegenheit, diesen Satz erneut zu zitieren: Mitten in der Stiff Upper Lip-Tournee kamen ‒ wieder einmal ‒ Gerüchte auf, unter anderem eins, dies sei die Abschiedstour von AC/DC.

Doch nach dem ersten Teil der Pflicht, der Albumproduktion, stand der zweite Teil der Pflicht auf der Tagesordnung: die Promotion für das Album, dessen Veröffentlichungstermin in Deutschland auf den 28. Februar 2000 und in Nordamerika auf einen Tag später festgelegt wurde.

Dabei zog sich die Band gleich zu Beginn den Zorn ihrer amerika­nischen Vertragspartner zu, als sie sich weigerte, in den USA mit der Werbung für ihr neuestes Produkt zu beginnen. „Wir sagten klipp und klar, dass wir zuerst nach Deutschland gehen würden“, betont Johnson, und er begründet diesen Schritt wie folgt: „Zwei Wochen nach Veröf­fentlichung von Ballbreaker hatten unsere deutschen Vertragspartner mehr Einheiten verkauft als die Amerikaner: 600.000 Stück standen lediglich 520.000 Exemplare in den USA gegenüber. Angus schäumte vor Wut, denn noch nie hatte ein europäisches Land die Verkaufszahlen der USA übertroffen.“

Wieder einmal setzten AC/DC ihren Dickschädel durch. „Wir über­lebten unter anderem auch deshalb, weil wir im entscheidenden Moment immer cool blieben und stets unserem Instinkt folgten. Dabei ignorierten wir stumpf sämtliche Geschäftsleute. Wenn einer meinte: ,Das Album muss im August fertig sein‘, antwortete Malcolm immer mit stoischer Ruhe: ,Es ist fertig, wenn es fertig ist.‘ – Ja, aber wir brauchen ein Rock­album. Und zwar JETZT!‘ ‒ ,Okay, ihr kriegt es, sobald es fertig ist.‘ Sie hatten es nie leicht mit uns. Ich glaube, wir sind die einzige Rockband, die in den Neunzigern lediglich zwei reguläre Alben veröffentlichte.“

Dass die Band durchaus in der Lage ist, mit der Zeit zu gehen, bewie­sen die fünf Rocker, indem sie verstärkt moderne Medien wie das Inter­net für sich nutzten. So veranstaltete die Online-Firma eBay in Zusam­menarbeit mit Elektra, dem amerikanischen Label der Gruppe, eine Auk­tion, als deren Hauptpreis sie eine Stunde Gitarrenunterricht mit Angus auslobte. Aber auch konventionelle Aktionen wie Live-Radiointerviews, Autogrammsessions und Album-Launch-Partys gehörten zum Repertoire der Vorabpromotion.

Bei der Bemusterung der Fachpresse mit Vorab-Tonträgern schoss aller­dings eastwest recorcls, der deutsche Vertragspartner, den Vogel ab: Um zu verhindern, dass einige Pfiffikusse Auszüge des Albums oder gar das gesamte Werk zum kostenlosen Herunterladen ins Internet stellen, wurden ausschließlich analoge Datenträger, also Musikkassetten, an die Medien ver­schickt. Und das auch nur in einer äußerst mäßigen Klangqualität – und mit einem skurrilen Bonus: Etwa alle 30 Sekunden wurde der Satz „Schluss mit Kasper-Mucke!“ in die Songs eingeblendet, monoton gesprochen von einem bei der Plattenfirma tätigen Praktikanten. Zur etwaigen Anfertigung von Raubkopien ließen sich dermaßen präparierte Tonträger natürlich nicht mehr verwenden. Allerdings fiel es dadurch auch den Musikjournalisten schwer, sich auf die Songs zu konzentrieren: Spätestens nach zehn Minu­ten war meistens tatsächlich Schluss mit Kasper-Mucke. Als hätte das noch nicht genügt, schaltete eastwest in der Fachpresse Anzeigen, auf denen ein kleiner Kasperkopf und eben jener nervige Satz prangten.

In Spanien hingegen wurde den Riff-Rockern eine Ehrung zuteil, die sonst bürgerlicher Prominenz vorbehalten bleibt: Der Bürgermeister des kleinen, in der Nähe der Hauptstadt Madrid gelegenen Örtchens Leganes rang sich dazu durch, eine Straße seiner Gemeinde auf „AC/DC“ zu taufen. Allerdings rechnete der gute Mann nicht mit der Sammelwut der AC/DC-Jünger: Bereits am nächsten Morgen war das Schild ver­schwunden. Der Stadtobere holte daraufhin Angebote für ein Dutzend Ersatzschilder ein und rang sich zu dem sinnvollen Entschluss durch, die Schilder zukünftig nicht in Augenhöhe, sondern in einer sicheren, nicht ohne Leiter erreichbaren Höhe an die Hauswände schrauben zu lassen.

Am 19. Februar 2000 stand hingegen wieder Dave Evans im Schein­werferlicht, und zwar in der Edward’s Taverne in Melbourne: Anlässlich des 20. Todestages von Bon Scott absolvierte der Ur-AC/DC-Sänger eine von der lokalen AC/DC-Coverband Thunderstruck initiierte Nostalgie-Show. „Es ist wie Reiten“, ließ sich der Mann anschließend vernehmen, befragt danach, wie er sich nach all den Jahren dabei fühlte, wieder ein­mal vor einem AC/DC-Publikum zu stehen und deren Songs zu singen. „Wenn du es einmal gelernt hast, vergisst du es nie wieder. Du kommst auf die Bühne, alles ist wie immer, und du findest dich instinktiv zurecht.“ Dabei gaben Thunderstaick vier Songs zum Besten, die zu Evans’ Ära bereits feste Bestandteile des AC/DC-Programms waren: „Can I Sit Next To You Girl“, „Rockin’ In The Parlour“ (also die A- und B-Seite der damals gemeinsam eingespielten Single) sowie „Baby Please Don’t Go“ und „Rock’n’Roll Singer“, die damals bereits auf der Setlist standen und die Bon Scott später mit AC/DC erneut aufgenommen hatte. „Hinzu kamen“, so Evans weiter, „noch ein paar Titel aus Bons Ära. Ich habe lange dar­über nachgedacht, welche Songs seinen Werdegang wohl am besten widerspiegeln. Entschieden habe ich mich schließlich für ,It’s A Long Way To The Top (If You Wanna Rock’n’Roll)‘, weil dieses Stück perfekt beschreibt, was Rock’n’Roll eigentlich bedeutet, ,T.N.T.‘, die bluesige Bal­lade ,Ride On‘, die Bon eher als Person denn als Musiker präsentierte, und schließlich .Highway To Hell‘.“ Die Show, die den Charakter eines einmaligen Gedenkkonzerts trägt, wurde übrigens als CD aufgenommen und mitgefilmt, um den Fans, die nicht zum Ereignis anreisen konnten, die Gelegenheit zu bieten, nachträglich mit dabeizusein.

Doch von derartigen Vorfällen und Events bekamen die Musiker so gut wie gar nichts mit. Sie konzentrierten sich nämlich schon auf die Vor­bereitungen für die kommende Welttournee. Allein die Songauswahl nahm gut vier Wochen in Anspruch: „Wie meistens stellten wir auch diesmal eine Liste mit all den Stücken zusammen, die wir gern spielen würden, und kamen so letztlich wieder einmal auf etwa vier Stunden Spieldauer“, erklärt Johnson das AC/DC-interne Verfahren der Pro­grammgestaltung. „Das hält jedoch niemand durch. Also streichen wir dann diese Liste zusammen. Am Ende ist es reiner Zufall, welche Songs übrigbleiben. Allerdings berücksichtigen wir auch, dass einige Klassiker einfach unverzichtbar sind. Und eine bestimmte Dramaturgie sollte unser Set auch haben: Am Anfang soll es krachen, um die Stimmung einzu­heizen. Nach 30 bis 40 Minuten gönnen wir den Zuschauern eine kleine Verschnaufpause – am besten mit ,The Jack‘. Unsere Spezialitäten – die Glocke von ,Hells Beills‘, der Geldscheinregen, die Ballbreaker-Kugel ‒ sind weiterhin ebenfalls ein fester Bestandteil unseres Programms. Und Stücke von unserem neuen Album wollen wir ja auch vorstellen. Alles in allem dauerte es ungefähr einen Monat, bis unser Programm seine endgültige Form annahm.“

Doch dann kam gerade auf den Sänger das nächste Problem zu, und da war für Johnson wirklich Schluss mit lustig: „Für mich beginnt dann immer die härteste Zeit, denn ich muss wieder die Texte jener Songs neu lernen, die wir in das Tourprogramm aufnehmen. Viele meiner Freunde schauen mich dann immer entgeistert an und belächeln mich, weil ich diese Stücke doch bereits x-mal gesungen habe. Stimmt. Doch das ist immerhin drei bis vier Jahre her. Jahre, in denen man viel vergessen kann.“