Der Triumphzug setzt neue Maßstäbe
Am 1. August 2000 fiel in der mit 24.000 Zuschauern bis auf den letzten Platz gefüllten Van Andel Arena von Grand Rapids, Michigan, der Startschuss zur fälligen Welttournee, die das Quintett bis zum 20. Oktober erst einmal durch 33 Metropolen der USA und Kanadas führte. Der Premiere vorausgegangen waren intensive Proben in den ebenfalls in Grand Rapids gelegenen River City Studios und – seit dem 22. Juli – genauso penibles Feilen an der Setlist im Delta Plex Studio. Für Brian hatten die ständigen und strapaziösen Generalproben einen unangenehmen Nebeneffekt: Heiserkeit am Premierentag. Der 48 Stunden zuvor konsultierte Arzt verordnete dem Sänger striktes Sprech- und somit Interviewverbot, sah ansonsten angesichts der exzellenten Konstitution des Sängers und bei disziplinierter Einhaltung aller therapeutischen Maßnahmen keinerlei Veranlassung, den Tourneeauftakt zu verschieben.
Slash’s Snakepit, die als Anheizer fungierende Band des ehemaligen Gitarristen von Guns N’ Roses Saul Hudson, stieß in dem bestenfalls halb gefüllten Auditorium auf höflich distanzierte Resonanz. Eine typische Reaktion des ausschließlich auf die Hauptgruppe fixierten US-Publikums. Allerdings verlebten Slash und seine Mannen entschieden gemütlichere Minuten auf der Bühne als ihre Leidensgenossen von King’s X, die 1991 von der ersten bis zur letzten Sekunde gnadenlos ausgebuht wurden, da sie musikalisch nicht unbedingt auf der Linie des Headliners lagen.
„Ladies and gentlemen: Please welcome AC/DC!“, bat dann endlich die sonore Stimme eines Roadies alle in der zappendusteren Arena Anwesenden. In den Scheinwerferkaskaden offenbarten sich die Bühnenaufbauten, die an der rechten und linken Flanke im Stil eines stählernen Baugerüsts gehalten waren und im Vergleich zur Bailbreaker-Tour einen entschieden spartanischeren Eindruck vermittelten. Mit „You Shook Me All Night Long“ wählte Malcolm Young einen reichlich unkonventionellen, aber dennoch gut funktionierenden Eröffnungssong aus. Erst nach der Tour gestand er, dass er sich die ganze Zeit über nie sicher gewesen sei, ob diese Wahl richtig war oder ob die Band nicht lieber doch mit einem anderen Song hätte anfangen sollen. Letztlich hielten AC/DC aufgrund der positiven Resonanzen dann doch zumindest bis zur Europa-Tournee an dieser Nummer als Einstieg fest. Denn spätestens mit dem zweiten Song, „Stiff Upper Lip“, war die Schlacht sowieso gewonnen, zumal hinter Phils Drumpodest das etwa zwölf Meter hohe Replikat der vom Cover her bekannten Angus-Statue erschien und auf Videoleinwänden der entsprechende, in den Wolkenkratzerschluchten New Yorks gedrehte Clip flimmerte. Nach „Shot Down In Flames“ und „Thunderstruck“, bei dem das Publikum euphorisch im Takt mitklatschte, intonierte das Quintett „Hell Ain’t A Bad Place To Be“, zu dem die Augen von Groß Angus dämonisch aufglühten. Beim sich anschließenden Titel „Hard As A Rock“ kamen erneut die Videoprojektoren zum Einsatz: Diesmal wurde zur Erheiterung der Fans allerlei Getier, wie Nashörner, Schildkröten und Affen, beim Vollzug einer artgerechten Vermehrungsprozedur gezeigt. Nach dem moderaten „Shoot To Thrill“, dem getragenen „Rock’n’Roll Ain’t Noise Pollution“ und dem wieder schnelleren und stark bejubelten „Safe In New York City“ folgte eine handfeste Überraschung: „Bad Boy Boogie“ fand sich das erste Mal seit 1984 auf der Setlist ‒ und wurde gleich noch mit einem unvergleichbaren Strip von Angus optisch in Szene gesetzt, der diesmal allerdings in einer leicht entschärften Variante seinen Höhepunkt fand, indem Angus nur andeutungsweise seine Stars-and-Stripes-Shorts runterließ. Was allerdings im Land der unbegrenzten Möglichkeiten (oder begrenzten Unmöglichkeiten) das Höchste der zeigbaren Gefühle darstellt: Nicht selten verhafteten Polizeibeamte Musiker für die im Amerikanischen „Mooning“ genannte Pose wegen Zurschaustellung obszöner Gesten unverzüglich von der Bühne weg.
Nach vollzogener Entblätterung des Gitarristen tauchte die Halle in totaler Dunkelheit ab. Plötzlich durchschnitten drei Scheinwerfer das Schwarz und gaben den Blick auf den an der Glocke hängenden Brian frei: „Hells Bells“! Beifallsstürme von den Rängen. Kein Zweifel: Diese Einlage hat auch 20 Jahre nach ihrer Einführung als Bestandteil der Show nichts von ihrem Charisma und Charme verloren. „Satellite Blues“ und „The Jack“ gaben den ausgepumpten Fans anschließend etwas Gelegenheit zum Luftholen. Und ordentlich Puste benötigten sie angesichts der nächsten Kracher noch reichlich: „Dirty Deeds Done Dirt Cheap“, „Back In Black“ und so weiter. Zu den Riffs von „Highway To Hell“ wuchsen dem Zwölf-Meter-Angus Hörner durch die Baseballkappe, und es stiegen ‒ fast wie in einschlägigen Endzeit-Filmen – Feuersäulen von den die Bühne flankierenden Traversen auf. Und natürlich geizte auch Püppchen Rosie bei „Whole Lotta Rosie“ nicht mit ihren üppigen Reizen. „Let There Be Rock“, zu dem Monster-Angus noch einmal mit rotglühenden und rauchenden Augen alles gab, beendete zünftig das eigentliche Konzert. Pause. Zugaben. „T.N.T.“ und „For Those About To Rock (We Salute You)“ ‒ hier ballerten zu einem standesgemäßen Finale noch einmal sechs Kanonen Salut ‒ beendeten eine Rock’n’Roll-Show, die 24.000 Zuschauer von der ersten bis zur letzten Sekunde fasziniert hatte.
Und auch die Musiker zogen eine erste Bilanz: Die Songzusammenstellung funktionierte im großen und ganzen brillant. Allerdings sollte ab dem 11. November „Get It Hot“ anstelle von „Hells Bells“ auf „Meltdown“ folgen. Dieser Titel von Highway To Hell stellte dann so etwas wie eine kleine Sensation dar, denn AC/DC hatten ihn selbst noch zu seligen Zeiten von Bon Scott nie ins Live-Programm genommen. Doch nach den Konzerten in Kanada disponierten die Youngs erneut um: „Meltdown“ flog aus dem Programm und musste „Satellite Blues“ weichen.
Noch ehe das Quintett zur ersten europäischen Show am 14. Oktober 2000 im belgischen Gent übersetzte, kursierten erneut die obligatorischen Auflösungsgerüchte: AC/DC hätten angeblich beschlossen, sich nach dieser Gastspielreise definitiv zur Ruhe zu setzen, und die Stiff Upper Lip-Tour stelle in Wahrheit nur eine verkappte Abschiedstournee dar. Vor allem der 53-jährige Brian sei seines Jobs überdrüssig und seine Stimme sowieso stark angegriffen.
Doch die Youngs ‒ allen voran Angus in einem Interview für das deutsche Monatsjournal Hard Rock & Metal Hammer vor dem ersten Auftritt in Deutschland in der Stuttgarter Schleyerhalle am 18. Oktober 2000 – dementierten prompt und vehement: „Es verging noch nie eine Tour, während deren nicht die abstrusesten Gerüchte die Runde machten. Brian ist jedenfalls hier, er steht auch heute Abend auf der Bühne, und seine Stimme klingt wahrscheinlich stärker als jemals zuvor.“ Darauf angesprochen, ob er wirklich keine Angst davor habe, dass tatsächlich mal ein Musiker die Gruppe verlässt, antwortete Angus gelassen: „Man muss halt mögen, was man tut. Phil stieg ja schon mal für ein paar Jahre aus, weil er einfach keinen Spaß mehr hatte. Dieser Job ist wirklich sehr anstrengend: Du verbringst viel Lebenszeit auf der Straße ‒ und das alles nur, um für ein paar Stunden auf der Bühne live zu spielen. Kein Wunder, dass man sich da irgendwann einmal eingeschränkt fühlt. Was mich betrifft: Ich muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Und da ich meinen Bruder Malcolm sehr genau kenne und wir beide von Anfang an dabei sind, kann ich auch hier und heute versichern, dass wir nach wie vor zu dieser Band stehen.“ Auch die Unterstellung, das Quintett werde nur eine andere, im Vergleich zur monströsen USA-Produktion stark abgerüstete Show auf dem Alten Kontinent zeigen, quittierte Angus mit Kopfschütteln: „Wir haben nur eine Show. Und wir wollen, dass die ganze Welt diese eine Show sieht. Jedenfalls sind wir bemüht, diese in jeder Halle aufzubauen, so dass möglichst nie ein Fan den Eindruck gewinnt, er werde zu kurz kommen.“ Genau aus diesem Grund bekamen die europäischen Konzertbesucher auch exakt dieselbe Songzusammenstellung präsentiert, die sich nach anfänglichen Experimenten bereits in Nordamerika relativ früh endgültig herauskristallisiert hatte.
Die bis unmittelbar vor Weihnachten andauernde Tour durch Europa glich einem Triumphzug: ausverkaufte Hallen überall. Über die Feiertage zum Jahreswechsel gönnten sich die Musiker dann lediglich eine kleine, knapp vierwöchige Verschnaufpause.
Rechtzeitig zum 15 Konzerte umfassenden und vom 19- Januar bis zum 15. Februar 2001 dauernden Abstecher nach Australien veröffentlichten Albert Productions am 8. Januar über die australische EMI eine nur auf dem Fünften Kontinent erhältliche Version von Stiff Upper Lip, die eine zweite CD enthält, auf der neben dem nicht auf dem Album vertretenen Titel „Cyberspace“ noch fünf Stücke von der 1996 in Madrid mitgeschnittenen CD Live und drei Multimedia-Tracks ‒ und zwar die Videoclips von „Stiff Upper Lip“, „Safe In New York City“ und „Satellite Blues“ ‒ zu finden sind. Auch die Japaner hielten sich in Sachen „Special Tour Editions“ nicht zurück: In Nippon erschien als Appetithäppchen für die drei Auftritte in Yokohama (19 /20. Februar) und Osaka (22. Februar) allerdings nur eine Fünf-Track-Mini-CD, die neben „Stiff Upper Lip“ und „Cyberspace“ nur drei weitere Aufnahmen aus Madrid enthält.
Und während Angus & Co. ihren Auftritt am 23. Januar in Adelaide wegen einer Niereninfektion von Rudd um 24 Stunden verschieben mussten, überraschte das Management die Fans in den USA zwei Tage später mit der Ankündigung des zweiten Teils der Stiff Upper Up-Tour: Vom 18. März bis zum 5. Mai tingelte das Quintett erneut durch Nordamerika, unmittelbar anschließend ein zweites Mal durch Europa. Als gäbe es geheime Absprachen, präsentierte die RIAA (Recording Industry Association of America), der Dachverband der US-Musikbranche-Organisationen, just zur gleichen Zeit eine aktualisierte und vor allem werbewirksame Verkaufsbilanz. Demnach hat allein Back In Black inzwischen über 19 Millionen Käufer gefunden. Generell stehen AC/DC mit insgesamt 63 Millionen verkauften Einheiten nach den Beatles, Led Zeppelin, Pink Floyd und den Eagles unter den kommerziell erfolgreichsten Acts in den USA an fünfter Stelle.
Und dass der Siegeszug um die Welt noch eine Weile an hält, liegt auf der Hand: Die in Deutschland für Juni 2001 gebuchten fünf Festivals, durchweg in großen Stadien angesetzt, waren binnen einer Woche restlos ausverkauft. Einen ähnlich massiven Ansturm verzeichneten alle anderen europäischen Länder, in denen die Riff-Rocker zwischen 8. Juni und 8. Juli wieder zum Stelldichein luden.
Angesichts dieser grandiosen Bilanz blickte Angus noch einmal auf seine Karriere zurück und gestand ‒ offensichtlich von dem Erreichten selbst fasziniert – in einem Interview gegenüber Hard Rock & Metal Hammer-Redakteur Henning Richter: „Am Anfang wollten wir eine gute Rock’n’Roll-Kapelle sein. Inzwischen haben wir ein paar Songs geschrieben, die die Leute kennen. John Lennon sagte einmal: ,Die Beatles waren eine große Band, aber ,Great Balls Of Fire« haben sie dennoch nie geschrieben.‘ Mein Ziel ist es immer noch, Songs zu kreieren, die so gut sind wie dieser Hit von Jerry Lee Lewis.“ Demnach hat er also sein persönliches „Great Balls Of Fire“ immer noch nicht geschrieben? „Nein, aber das wird noch kommen. Langsam, aber sicher werden wir besser.“
Welch ein Understatement.