2

Mindgame

Ich liebe das Theater. Ich erinnere mich an so viele schöne Abende in meinem Leben, an denen ich vollkommen glücklich war, weil das Zusammenspiel von Sprache und Handlung, Musik, Regie und Kostümen bei einer Inszenierung vollkommen war. Die Inszenierung von Guys and Dolls am National Theatre im Jahre 1982 gehört dazu. Nicholas Nickleby von der Royal Shakespeare Company. Michael Frayns Noises Off!, diese wunderbare Komödie. John Bartons Richard II, bei dem Ian Richardson und Richard Pasco jeden Abend die Rollen tauschten. Damals war ich gerade achtzehn, und ich sehe noch immer, wie sie die »hohle Krone« anstarrten, die zum Spiegel geworden war. Das Theater ist eine Kerze, die nie erlischt, und viele Inszenierungen brennen heute noch in meiner Erinnerung. 

Mit Anfang zwanzig war ich eine Zeitlang Platzanweiser im National und sah Dutzende Male Harold Pinters Betrayal, Peter Shaffers Amadeus, Arthur Millers Death of a Salesman und Alan Ayckbourns Bedroom Farce, ohne mich auch nur eine Minute zu langweilen. Am Nachmittag, vor den Aufführungen, hielt ich mich in der Kantine hinter der Bühne auf. Ich trug mein graues Nylonhemd und die etwas schräge lila Krawatte, aber ich war ganz in der Nähe von Leuten wie John Gielgud oder Ralph Richardson, die sogar in Jogginghosen und Laufschuhen königlich aussahen. Ich habe sie natürlich nie angesprochen. Sie waren Götter für mich. Donald Sutherland hat mir mal zwanzig Pence Trinkgeld gegeben, als ich an der Garderobe gearbeitet habe. Die habe ich immer noch irgendwo.

Ehe ich anfing, Romane zu schreiben, wollte ich unbedingt zum Theater. Das fing beim Laienspiel in der Schule an. An der Uni führte ich manchmal sogar Regie. Ich ging drei-, viermal die Woche ins Theater, mehr als die Stehplätze hinter der letzten Reihe konnte ich mir allerdings nicht leisten. Die kosteten nur zwei Pfund. Ich wollte unbedingt auf die Schauspielschule und bewarb mich auch als Regieassistent, aber nichts davon klappte. Allmählich begriff ich, dass irgendetwas an mir nicht zu meinem Traumberuf passte. Irgendwie gehörte ich nicht zu dieser Welt, an der ich unbedingt teilhaben wollte. »Ehrgeiz ist der Großen Wahnsinn«, heißt es in der Duchess of Malfi, die ich 1971 bei der Royal Shakespeare Company gesehen habe, mit Judi Dench in der Titelrolle. Aber was einen tatsächlich verrückt macht, ist die Erkenntnis, dass man seinen Ehrgeiz niemals befriedigen wird.

Vielleicht war das einer der Gründe, warum ich Mindgame geschrieben hatte: Ich wollte das Feuer am Leben erhalten.

Angeregt hatte mich ein anderes Stück, das ich als Teenager gesehen und das mich seitdem fasziniert hatte. Sleuth von Anthony Shaffer war eine Parodie auf Agatha Christie, aber zugleich ein sehr originelles Kriminalstück. Es gab nur drei Personen: einen wohlhabenden Schriftsteller, den Liebhaber seiner Frau und einen tieftraurigen Detektiv namens Inspektor Doppler – aber in den zwei Akten brachte Shaffer etliche verblüffende Überraschungen unter. Es war ein Riesenerfolg. Dem Publikum stockte der Atem. Allein in London gab es mehr als zweitausend Vorstellungen. Das Stück erhielt mehrere Preise und wurde gleich zweimal verfilmt. Es gilt bis heute als bahnbrechend.

Natürlich gab es Versuche, einen ähnlichen Erfolg zu erzielen, aber außer Deathtrap von Ira Levin kam kein anderes Stück auch nur in die Nähe. Wenn man genauer darüber nachdenkt, kann man ja auf der Bühne auch nicht allzu viel machen. Ein paar Tricks und Illusionen sind Teil des Zaubers, aber das Wichtigste sind doch die Worte. Es geht um Menschen, die sich im Raum hin und her bewegen und dabei reden. Shaffer brach die physikalischen Gesetze: Wenn der Strom ausfällt, geht das Licht an. Aber einen solchen Regie-Einfall kann man nur einmal haben. Jeder, der ihn nachzuahmen versucht, langweilt die Leute bloß.

Trotzdem war ich besessen davon, mich daran zu versuchen. Ich wollte unbedingt ein Stück mit wenigen Personen und zahlreichen überraschenden Wendungen schreiben, und die Bühne dabei auf eine sensationelle neue Weise nutzen. Jedes Mal, wenn ich gerade kein Fernsehdrehbuch und keinen Roman schrieb, notierte ich mir tolle Ideen und hatte schon drei Stücke fertig, als mir der Plot für Mindgame einfiel. Meine Erfolge als Dramatiker waren bis dahin sehr überschaubar gewesen. A Handbag, einer meiner drei Einakter, war bei einem lokalen Theaterfestival aufgeführt worden, die beiden anderen hatten es nicht auf die Bühne geschafft.

Auch Mindgame wäre nie aufgeführt worden, wenn meine Schwester Caroline damals nicht eine kleine, aber sehr erfolgreiche Schauspiel-Agentur geführt hätte. Sie hatte Mindgame gelesen und, ohne es mir zu sagen, an einen Produzenten namens Ahmet Yurdakul weitergegeben. Ein paar Tage später rief er mich an und lud mich zu einem Gespräch ein.

Ich werde diese Begegnung niemals vergessen. Ahmet hatte ein Büro in der Nähe der Euston Station. Es lag so nahe an den Gleisen, dass der Boden zitterte und die Kekse auf dem Teller tanzten, wenn draußen die Züge vorbeifuhren. Es erinnerte mich an einen alten Schwarzweißfilm. Ahmet war ein adretter, zierlicher Mann mit pechschwarzem Haar und bot mir eine Tasse Tee an, die nach Maschinenöl schmeckte. Er redete sehr schnell und kaute dabei auf seinen Fingernägeln herum. An seiner Anzugjacke fehlte ein Knopf, und während er sprach, konnte ich meine Augen nicht von der Stelle abwenden, wo er hätte sein sollen und wo stattdessen drei schwarze Fäden heraushingen. Seine Assistentin, Maureen Bates, war im selben Alter wie er – ungefähr fünfzig. Sie hatte silbergraues Haar und trug eine Strickjacke mit Zopfmuster. Ihre Brille hing an einer dünnen Kette. Sie schien äußerst skeptisch und misstrauisch, und die Art und Weise, wie sie ihren Chef betüttelte, erinnerte an eine ältere Tante oder eine Art Leibwächterin. Sie sagte kaum ein Wort, machte sich aber fleißig Notizen in einer winzigen Handschrift.

Sehr vertrauenswürdig wirkte das Büro nicht. Es lag im Untergeschoss eines dreistöckigen Hauses, und das Fenster war so staubig, dass kaum Licht hereindrang. Die Möbel passten nicht zusammen und waren auffallend hässlich. Ich ließ die Augen über die Plakate gleiten, die an den Wänden hingen, und fragte mich, ob ich für mein Meisterstück die richtige Heimat gefunden hatte. Run for Your Wife, eine Farce von Ray Cooney war in Norwich uraufgeführt worden. It Ain’t Half Hot Mum, nach der erfolgreichen Sitcom der BBC, war im Gaiety Theatre auf der Insel Man aufgeführt worden. Rolf Harris hatte im Epsom Playhouse den Robin Hood gespielt, und auf einer Freiluftbühne im Middleham Castle war mit sechs Personen eine gekürzte Fassung von Shakespeares Macbeth inszeniert worden.

Zu seiner Ehre muss man sagen, dass Ahmet mein Stück wirklich liebte. Als ich sein Büro betrat, stand er auf und umarmte mich in einer Wolke von Aftershave und Tabakdunst. Als wir uns setzten, sah ich amerikanische Zigaretten und ein schweres Onyx-Feuerzeug auf seinem Schreibtisch.

»Das ist ein großartiges Stück! Ein sehr großartiges Stück!« Das waren fast seine ersten Worte. Das Typoskript lag vor ihm auf dem Tisch, und er unterstrich sein Lob, indem er mehrfach mit dem Handrücken darauf schlug. Er trug einen schweren Siegelring, der eine Delle auf dem obersten Blatt hinterließ. »Finden Sie nicht auch, Maureen?«

Maureen sagte nichts.

»Kümmern Sie sich nicht um sie! Sie liest nie etwas. Sie hat keine Ahnung. Wir gehen mit dem Stück auf Tour. Und am Ende kommt die Premiere in London! Ich liebe Ihre Schwester, weil sie mir das geschickt hat. Ich weine vor Glück, dass Sie heute bei mir sind.«

Ahmet war Türke. Ich glaube, er mochte seine Rolle und benutzte ganz bewusst eine blumige Sprache, um seine Andersartigkeit zu betonen. Als ich ihn ein bisschen besser kennenlernte, merkte ich, dass er keinerlei Problem mit der englischen Sprache hatte. Seine Eltern stammten aus Zypern und waren Anfang der Siebzigerjahre nach England gekommen, als es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen auf der Mittelmeerinsel kam. Sie fanden eine kleine Wohnung in Enfield, im Norden von London. Während seine Eltern ein Kleidergeschäft aufbauten, fuhr der damals zehnjährige Ahmet jeden Tag mit dem Bus zur Schule. Er erwähnte mal, dass er an der Roehampton University Computerwissenschaften studiert hatte und noch jahrelang bei seinen Eltern gelebt und am Aufbau des EDV-Systems der sozialen Dienste in Enfield mitgearbeitet hatte. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, erzählte er mir etwas mehr von sich selbst. Offenbar hoffte er, dass ich ein Buch über ihn schreiben würde – genau wie Hawthorne. Ich hörte ihm höflich zu, aber ich gebe zu, dass ich mich mehr dafür interessierte, was er für mein Stück tun wollte und ob eine Aussicht bestand, dass er seine Absichten auch verwirklichen konnte.

Maureen hatte bereits einen Tournee-Plan entworfen und legte ihn mir jetzt hin: Bath, Southampton, Colchester, York … Das waren alles Städte mit guten Theatern, und wie sich bald zeigen sollte, war Ahmet durchaus in der Lage, seine Versprechungen in die Tat umzusetzen. Er holte Ewan Lloyd an Bord, einen namhaften Regisseur, und in den folgenden Wochen erhielt ich regelmäßige Updates. Das Budget war gesichert. Jordan Williams interessierte sich für die Rolle des Dr. Farquhar. Die Theater hatten unterschrieben. An der Gestaltung wurde gearbeitet. Jordan Williams hatte die Rolle des Dr. Farquhar übernommen. Ein Probenraum war gebucht worden. Ich fasse die Ereignisse mehrerer Monate hier in wenigen Zeilen zusammen, weil ich zu dem kommen will, was schließlich bei der Premiere in London geschah. Aber ich kann gar nicht genug betonen, wie aufregend und spannend das alles für mich gewesen ist. Es war der Traum meiner Jugend, der sich da verwirklichte, ein Ehrgeiz, der mich nie verlassen hatte.

Die Handlung von Mindgame ist folgende: Der Journalist und Krimischreiber Mark Styler besucht eine Irrenanstalt namens Fairfields in der Hoffnung, dort ein Interview mit dem berüchtigten Serienmörder Easterman machen zu können. Aber dazu muss er erst einmal an Dr. Farquhar vorbeikommen, dem skeptischen Leiter der Anstalt, der ihm den Zugang zu seinem Patienten verweigert. Schnell bemerkt der Journalist, dass in Fairfields nicht alles mit rechten Dingen zugeht. So fragt er sich, warum in Dr. Farquhars Büro ein Skelett an der Garderobe hängt, und er hat das Gefühl, dass die Assistentin des Direktors ihn vor etwas warnen will, aber erst als offene Gewalt ausbricht, wird ihm klar, dass in dieser Anstalt die Irren die Macht übernommen haben. Der echte Dr. Farquhar ist tot, und Styler sitzt in der Falle.

Die zentrale Idee bestand darin, dass nicht nur die Figuren, sondern auch das Publikum jederzeit spüren sollten, dass in dieser Welt nichts so war, wie es schien. Deshalb spielte ihnen auch das Bühnenbild ein paar Streiche. Eine Schranktür führt in einen Korridor und später plötzlich ins Badezimmer. Die Aussicht aus dem Fenster wird von einer Ziegelmauer versperrt, die in wenigen Minuten emporwächst. Die Bilder an der Wand zeigen unversehens andere Gegenstände. Die Vorhänge verändern die Farbe, und die Möbel werden ausgetauscht, ohne dass es die Zuschauer mitkriegen. Ursprünglich sollte das Stück Metanoia heißen, aber das hatte Maureen rasch verhindert. Metanoia ist ein psychologischer Fachbegriff für einen transformativen Sinneswandel, aber Maureen hatte darüber den Kopf geschüttelt. »Warum soll ich gutes Geld bezahlen, um mir etwas anzusehen, wovon ich gar nicht weiß, was es bedeutet?«, fragte sie.

Die Welturaufführung von Mindgame fand in Colchester statt und war erstaunlich erfolgreich. Es gab gute Besprechungen in der Lokalpresse, und das Publikum war begeistert. Ich kann das insofern bestätigen, als ich bei einigen Vorstellungen persönlich dabei war. In der Pause habe ich mich dann in die Bar geschlichen und zugehört, was die Leute gesagt haben. Der erste Akt endet dramatisch: Der Serienmörder Easterman ist ausgebrochen und hat die Rolle von Dr. Farquhar übernommen. Er hat dessen Assistentin ermordet und geht mit einem Skalpell auf Mark Styler los, der hilflos in einer Zwangsjacke steckt. Es scheint keine Rettung zu geben, und in diesem Augenblick fällt der Vorhang. Es klappte hervorragend. Die Leute gingen richtig mit. Ich hörte, wie sie sich fragten, was wohl als Nächstes passieren würde. Niemand machte sich in der Pause davon.

In den folgenden Monaten hatte ich andere Dinge zu tun, aber das Stück blieb weiterhin auf Erfolgskurs. Oft dachte ich wochenlang nicht daran, aber immer wieder rief Ahmet mich an und erzählte von besonders guten Besprechungen oder kleinen Problemen. Die wirklich große Nachricht kam dann Ende Februar. Nachdem er die bisherigen Einnahmen mit seinem Buchhalter geprüft hatte, beschloss Ahmet den Sprung ins Londoner West End zu wagen. Er investierte eine Menge Geld und buchte für zwölf Wochen das Vaudeville, ein hübsches altes Theater am Strand, ganz in der Nähe vom Trafalgar Square. Für Proben waren nur drei Wochen Zeit. Einer der Schauspieler war ausgeschieden. Aber der Regisseur, Ewan Lloyd, war geblieben. Die Premiere sollte in der zweiten Aprilwoche sein.

Ehe ich wusste, wie mir geschah, begannen in einer ehemaligen Lagerhalle in Dalston die Proben, und ich durfte dabei sein. Der Probenraum war genauso, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: ein großer, leerer Saal. Die Decke war dreimal so hoch wie üblich, und von den Wänden blätterte die Farbe ab. Im Küchenbereich gab es eine bunte Sammlung von Tassen, zwei Wasserkocher, Teebeutel und Keksdosen. Ein paar Plastikstühle für den Regisseur und die Schauspieler standen im Kreis wie bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Der Grundriss der Bühne war mit Kreide auf die Dielenbretter gemalt, und die Stellen, wo die Türen und Fenster sein würden, waren mit Absperrkegeln markiert. Die Requisiten lagen auf Tapeziertischen, und Stylers Zwangsjacke und ein paar andere Sachen hingen an einer Kleiderstange. An der Wand standen weitere Plastikstühle für den Regieassistenten, die Kostümassistentin, den Beleuchter und anderes Bühnenpersonal. Die Atmosphäre war immer sehr angespannt … oder zumindest sehr konzentriert.

In diesen wenigen Tagen lernte ich Ewan Lloyd und die Schauspieler erst richtig kennen. Ich würde nicht behaupten, dass ich zu einem Teil der Truppe wurde, aber ich gehörte immerhin zum äußeren Kreis. Gelegentlich tranken wir nach Feierabend noch etwas zusammen, und es entstand so etwas wie Kameradschaft.

Als ich Ewan kennenlernte, nahm ich an, dass er schwul sei. Er gab sich sehr manieriert, trug einen langen Schal und einen Hut wie Oscar Wilde, und ich stellte mir vor, dass er eine Zigarettenspitze aus Elfenbein hatte. Ich war sehr überrascht, als mir Ahmet erzählte, dass Ewan zwar jetzt geschieden sei, zuvor aber lange mit einer Schauspielerin zusammengelebt hatte. Aus dieser Ehe seien nicht weniger als vier Kinder hervorgegangen.

Ewan war Ende vierzig und hatte sich den Schädel komplett kahlrasiert. Er war sehr genau, ja fast schon pingelig, was seine Arbeit anging, und sein leichtes Stottern machte die Sache nicht besser. Er trug eine Brille mit einem dünnen Rahmen und benutzte sie wie ein Dirigent seinen Taktstock. Mal tippte er damit auf das Textbuch, mal stach er sie mir fast ins Gesicht, um seine Erläuterungen zu unterstreichen. Maureen hatte mir seinen Lebenslauf gezeigt: Er hatte in vielen guten Theatern gearbeitet, allerdings war nicht zu übersehen, dass die Inszenierungen in den letzten Jahren seltener geworden waren. Er hatte ein paar Stücke in Antwerpen auf die Bühne gebracht, war dann aber nach England zurückgekehrt, um Macbeth in Middleham Castle für Ahmet zu inszenieren.

An einem Abend waren wir zusammen essen gegangen. Nur wir beide, beim Chinesen. Er erzählte mir von seinen Inszenierungen und den Auszeichnungen, die er erhalten hatte, und brach dann plötzlich in eine lange Beschimpfung des ganzen Betriebs aus. Vielleicht war der Wein daran schuld. Auf der ganzen Welt werde er anerkannt, sagte er. In Belgien sei er eine Berühmtheit. Aber hier in England, wo er zu Hause war, hätte man ihn nie so richtig zu schätzen gewusst. Er wäre gern mal künstlerischer Leiter einer guten Bühne in der englischen Provinz geworden, aber er wüsste schon, dass es dazu nie kommen würde, weil sich alle gegen ihn verschworen hatten.

Wir waren mittlerweile bei der zweiten Flasche. Ich fühlte mich sehr unbehaglich und sagte kein Wort, als er mir sein Leid klagte.

»Das ist alles nur wegen diesem verdammten Chichester«, sagte er. »Dieses elende Nest! Theaterleute sind wirklich ein mieses Pack. So viel Boshaftigkeit! Ständig gehen sie sich an die Gurgel. Sie lauern nur darauf, dass sie dir einen reinwürgen können, und sobald sich die Gelegenheit ergibt, schlagen sie zu.«

Nach dem, was er sagte, hatten all seine Probleme beim Chichester Festival angefangen. Genau vor acht Jahren. Er hatte Die heilige Johanna von George Bernard Shaw inszeniert, mit Sonja Childs in der Titelrolle. Die eigentliche Verbrennung sieht man ja meistens nicht. Die findet immer hinter der Bühne statt. Aber Ewan hatte beschlossen, mit einem Knalleffekt anzufangen: mit einem prasselnden Scheiterhaufen und dichten Rauchwolken; man sollte den halbnackten Henker sehen und die johlende Menge. Das sollte ein Vorspiel sein, das auf das Ende hindeutete. Es sollte das Schicksal der Heldin beleuchten.

Aber bei der Premiere war alles schiefgegangen.

»Es war nicht meine Schuld«, sagte er. »Ich hatte alles nach Vorschrift gemacht. Die Haftungsfragen waren geklärt, die Bühnenaufsicht und das Management waren vorbereitet, es gab einen genauen Notfallplan. Wir hatten mit der Polizei, der Feuerwehr, den örtlichen Behörden geredet … mehr hätte ich wirklich nicht tun können. Danach fand eine genaue Untersuchung statt. Ich wurde stundenlang befragt, und anschließend waren sich alle einig, dass ich keine Schuld hatte. Natürlich wurde das Stück sofort vom Spielplan abgesetzt. Aber das war ohnehin schon egal. Für das, was mit Sonja geschah, werde ich mir ohnehin nie vergeben. Es war alles so schrecklich.«

»Ist sie gestorben?«, fragte ich.

»Nein.« Ewan warf mir über sein Glas hinweg einen traurigen Blick zu. »Aber ihre Verbrennungen waren so schwer, dass ihre Karriere beendet war. Allerdings meine auch. Danach wollte niemand mehr etwas von mir wissen. Zwei Regieaufträge wurden mir einfach weggenommen, obwohl die Verträge längst unterschrieben waren. Als ob ich das verdammte Streichholz angesteckt hätte! Sehen Sie, was aus mir geworden ist! Ich meine … Ahmet ist ein feiner Kerl, aber er ist nicht gerade Cameron Mackintosh, oder?«

Die Schauspieler blieben mehr auf Distanz. Jordan Williams habe ich ja schon erwähnt. Er hatte sich bereit erklärt, Dr. Farquhar zu spielen, und war ohne Zweifel der Star der Show. Er stammte von den amerikanischen Ureinwohnern ab – der erste Lakota, den ich je kennenlernte. Ich hatte mich bei Wikipedia über ihn informiert und herausgefunden, dass er in der Rosebud Reservation in South Dakota das Licht der Welt erblickt hatte. Er hatte zehn Jahre in Hollywood gearbeitet und war für seine Rolle als psychopathischer Mörder in der American Horror Story mit einer Emmy-Nominierung belohnt worden. Er hatte seine Visagistin geheiratet, und weil sie Engländerin war, lebte er jetzt im Vereinigten Königreich. Als er ankam, hatten die Zeitungen darüber spekuliert, ob er vielleicht die Rolle von Peter Capaldi übernehmen und der erste ethnisch diverse Doctor Who werden würde, aber das erwies sich als falsch. Stattdessen hatte er eine ganze Reihe verschiedener Rollen im Fernsehen, Film und Theater übernommen und sich damit einen Namen gemacht. Wirklich berühmt war er nicht, aber man schätzte und respektierte ihn.

Der Umgang mit Schauspielern fällt mir nicht leicht, und auf ihn traf das ganz besonders zu. Er war ein breitschultriger Mann mit durchdringenden Augen. Jedes Mal, wenn wir uns unterhielten, schien mich sein Blick zu durchbohren. Seine Züge waren von mathematischer Präzision, seine Nase war eine vollkommene Gerade und sein Kinn war quadratisch. Sein ergrauendes Haar war nicht lang genug für einen Pferdeschwanz, aber wenn er nicht auf der Bühne stand, hatte er es am Hinterkopf mit einem farbigen Bändchen zu einem Knoten geschlungen. Er war mit Abstand das älteste Mitglied der Truppe, aber sein Alter stand ihm nicht schlecht. Er wirkte sehr lässig, wenn er vornübergebeugt in den Probenraum schlurfte, die Hände tief in den Taschen der Jeans oder Jogginghose vergraben und sehr weit weg mit seinen Gedanken. Wenn er redete, wählte er seine Worte sorgfältig, ohne den geringsten amerikanischen Akzent. Man hatte jeden Augenblick das Gefühl, dass er eine Rolle spielte … das war das Typische an ihm. Man wusste nie, wo der Schauspieler aufhörte – und das führte manchmal zu Missverständnissen.

Am Ende der ersten Probenwoche in Dalston kam es zu einem hässlichen Zwischenfall. Wir probten die Szene, in der Dr. Farquhar sich auf Nurse Plimpton stürzt, die von Sky Palmer gespielt wurde. Ich sah, wie die beiden in der Mitte der Spielfläche standen, umringt von den anderen. Jordan hatte Sky Palmer an beiden Armen gepackt und brüllte sie an. Sein Gesicht war ihrem ganz nahe. Sie mussten die Szene mittlerweile schon hundertmal geprobt und gespielt haben, aber plötzlich fing Sky an zu schreien. Erst dachte ich, sie improvisiert und probiert etwas Neues aus. Dann sah ich das erschrockene Gesicht des Regisseurs und begriff, dass Sky tatsächlich Schmerzen litt. Jordan hatte sich so in seine Rolle hineingesteigert, dass er die Frau erst losließ, als Ewan ihn anbrüllte und die anderen eingriffen. Sky fiel zu Boden, und ich sah die roten Striemen auf ihren Armen. Sie hatte große Angst gehabt und Quetschungen an den Armen erlitten. An diesem Tag gab es keine weiteren Proben.

Als wir den Probenraum verließen, erzählte mir Ewan, dass sich Jordan nicht zum ersten Mal so benommen hatte. Offenbar war sein Verhalten berüchtigt. Er war ein Method Actor, der sein Rollenstudium außerordentlich ernst nahm. Als er den Wegelagerer Dick Turpin für die BBC spielte, hatte er nicht nur Reiten gelernt, sondern auch darauf bestanden, den berühmten Zweihundert-Meilen-Ritt von London nach Yorkshire persönlich nachzuspielen, und war beim Überqueren der M 1 fast zu Tode gekommen. Als er King Lear spielte, hatte er während der Proben gelegentlich draußen auf Hampstead Heath übernachtet.

Fairerweise muss man erwähnen, dass er auch sehr großzügig sein konnte. Es war ihm entsetzlich peinlich, was er getan hatte, und als wir die Proben am Montag fortsetzten, brachte er Sky einen riesigen Blumenstrauß mit.

Sky Palmer selbst war ein ziemliches Rätsel. Ich hatte sie oft auf der Bühne gesehen, aber ich hätte nicht sagen können, dass ich sie gut kannte. Was insofern auch nicht erstaunlich war, als sie erst Mitte zwanzig war, also dreißig Jahre jünger als ich. Außer dem Stück hatten wir gar nichts gemeinsam. Als ich sie kennengelernt hatte, war ich von ihren dunklen Augen, ihrer Selbstsicherheit und ihren leuchtenden rosa Haaren beeindruckt gewesen, aber die Farbe hatte sie ausspülen müssen, als sie die Rolle der Assistentin in Mindgame übernahm. Auch die bunten Fingernägel und den Nasenring trug sie jetzt nicht mehr. Richtige Zigaretten rauchte sie nicht, sondern dampfte bloß E-Zigaretten, die einen leichten Mentholgeruch hinterließen. Ich hatte gefürchtet, dass die Rolle der Nurse Plimpton schwer zu besetzen sein würde, denn ich hatte sie ganz in der Tradition der Horrorfilme der Fünfziger- und Sechzigerjahre ziemlich sexistisch beschrieben. Sky schien das gar nichts auszumachen. Sie stellte mir nie eine Frage und machte alles so, wie Ewan es wollte. Ob es ihr Spaß machte, wusste man nicht so recht.

Das lag unter anderem daran, dass sie sofort ihre Kopfhörer aufsetzte und nur noch mit ihrem iPhone kommunizierte, wenn sie ihren Auftritt hinter sich hatte. Es war das allerneueste Modell, in Goldrosa mit einer glitzernden Schutzhülle. Sie spielte vor allem Minecraft und Monument Valley und scrollte ihren Twitter-Account rauf und runter. Ich habe nie gehört, dass sie sich mal mit jemandem unterhalten hätte, aber sie war ständig am Texten, was darauf hindeutete, dass sie eine Beziehung hatte. Oft hörte man mitten in einer Szene das laute Ping ihres Handys, was Ewan Lloyd zur Verzweiflung trieb. Sie entschuldigte sich jedes Mal höflich und tippte gleichzeitig ihre Antwort. Ich habe noch nie jemand mit so schnellen Daumen gesehen.

Nichts bei ihr passte zusammen. Die Sweatshirts und Leggings, in denen sie herumlief, kamen von Sports Locker, aber sie hatte auch eine Uhr von Cartier und Schuhe von Jimmy Choo. Bei den Besprechungen erwähnte sie Star Wars und The Hunger Games, aber ich sah sie auch Kafka lesen. Die Playlist auf ihrem iPhone war gespickt voll mit Björk und Madonna, aber als sie das Klavier im Probenraum einmal offen fand, setzte sie sich und spielte ein paar Takte des Präludiums von Bach. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie uns etwas verheimlichte.

Damit blieb noch Tirian Kirke, der den Journalisten Mark Styler spielte. Er war erst später dazugekommen, als der Schauspieler, der die Rolle zuvor gehabt hatte, nach fünf Monaten auf Tournee nicht mehr länger herumziehen wollte. Tirian war der Einzige im Team, den ich nicht leiden konnte – aber das lag daran, dass ich früher mal Ärger mit ihm gehabt hatte.

Tirian war etwas älter als Sky und hatte schon verschiedene Fernsehauftritte hinter sich, unter anderem als Polizeibeamter in Spooks und Line of Duty und Bediensteter in Downton Abbey. Er war noch nicht allzu bekannt, aber durchaus auf dem Weg, sich einen Namen zu machen. Ich hatte mich daher sehr gefreut, als er vor einigen Jahren die Rolle eines jungen Strafgefangenen in einem Fünfteiler übernahm, zu dem ich das Drehbuch geschrieben hatte. Er hatte eine Menge starker Szenen, die mit einem sehr eindrucksvollen Selbstmord endeten. Beim Vorsprechen hatte er alle beeindruckt, und man hatte ihm sofort einen Vertrag angeboten. Aber kurz vor der Unterschrift zickte er plötzlich rum. Seine Agentin erklärte, das Drehbuch gefiele ihm nicht, was mich nicht wirklich freute. Die Rolle übernahm dann Joe Cole, der sie fabelhaft spielte und bald ein richtiger Star wurde. Bei den Dreharbeiten von Unrecht! hatte ich dann übrigens Hawthorne kennengelernt. Aber das änderte nichts daran, dass ich von Tirian sehr enttäuscht war. Er hatte Zeit und Geld verschwendet und uns im Stich gelassen.

Ich war daher etwas beunruhigt, als ich hörte, dass er die Rolle des Mark Styler übernehmen sollte. Einerseits fürchtete ich, er könnte uns wieder hängenlassen, andererseits fand ich aber, dass Tirian zu eitel war, um die Rolle des Journalisten zu spielen. Seine schicke Frisur, seine Designerklamotten und die Ducati, mit der er bei den Proben vorfuhr, schienen mir etwas zu selbstgefällig. Andererseits durfte ich nicht vergessen, dass all diese Dinge daher gekommen waren, dass er ein sehr erfolgreicher Schauspieler war, und wir froh sein konnten, dass wir ihn hatten. Außerdem sah er genauso aus, wie ich mir Mark Styler vorgestellt hatte: schlank und knochig, mit einem kantigen Gesicht und dunklen Augen. Seine Nase war etwas schräg, und sein freches Lächeln kam immer erst mit Verzögerung. Er wirkte ganz anders als die meisten gutaussehenden jungen Schauspieler in England mit ihren oft viel zu glatten Gesichtern. Er war einer dieser Typen, die man sich merkte. Und genau das war auch geschehen. Er war dem Hollywoodregisseur Christopher Nolan aufgefallen, der ihn für eine sehr aufwändige Produktion engagiert hatte, die später im Jahr gedreht werden sollte.

Tenet würde Tirian berühmt machen, was durchaus nützlich für unsere Londoner Premiere sein konnte. Nur leider wusste er, dass er berühmt werden würde. Das führte dazu, dass er ziemlich unbeliebt war. Jordan Williams, der mit seinem Vorgänger sehr gut ausgekommen war, mochte ihn überhaupt nicht. Er beschwerte sich, dass Tirian seinen Text nicht beherrschte, ihm die Schau zu stehlen versuchte und nicht auf Augenhöhe mit ihm sprach. Tirian wiederum fauchte zurück. Jordan betreibe Effekthascherei, schwadroniere und spiele sich fürchterlich auf. Sky wiederum hielt sich da raus.

Das also war die Truppe, die in der ersten Aprilwoche ins Vaudeville Theatre einzog. Bei den technischen und den Kostümproben war ich nicht dabei. Für mich gab es nichts mehr zu tun, aber das steigerte nur meine Nervosität. Es war sehr eigenartig. Das Theater war doch meine Leidenschaft und mein Ehrgeiz. Das war, was ich immer gewollt hatte. Als ich mit meiner Frau, meiner Schwester und meinen zwei Söhnen zur Premiere ins Theater ging, hätte ich viel aufgeregter und begeisterter sein müssen. Da oben strahlte mein Name in Leuchtbuchstaben! (Naja, nicht ganz vollständig: Das ›t‹ von Anthony war durchgebrannt.) Aber ich war kein bisschen begeistert. Mir war einfach schlecht.

Es wird schon alles gutgehen, sagte ich mir. Das Publikum in York und Southampton hat das Stück geliebt. Warum sollte es hier anders sein?

»Ist alles in Ordnung?«, fragte meine Frau.

»Ja«, sagte ich. Aber das war eine Lüge.

Dann betraten wir das Theater.