12

Noch ein Messer

»Warum soll ich mit Ihnen reden? Ich habe doch schon mit der Polizei gesprochen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Sky Palmer saugte an ihrer E-Zigarette und für einen kurzen Augenblick leuchtete das Ende in einem zornigen Rot. Sie war übelster Laune, als ich sie mit Hawthorne bekannt machte, so als wäre eine Mordermittlung bloß eine weitere lästige Störung in ihrem geschäftigen Tagesprogramm. Sie warf die E-Zigarette beiseite und griff nach einer Bürste, mit der sie in ihren Haaren herumkratzte, die jetzt nicht mehr rosa, sondern hellblond waren, was wohl die natürliche Farbe war.

»Ich muss jeden Augenblick auf die Bühne«, erklärte sie, »und ich bin immer noch mit meinem Make-up beschäftigt. Außerdem rede ich nicht gern mit Leuten, ehe ich auftrete. Das bringt mich bloß durcheinander. Ich muss an meine Rolle denken.«

Ich hatte von Anfang an Schwierigkeiten gehabt, Sky und ihre Mischung aus Jugend und Selbstbewusstsein, Schüchternheit und Arroganz richtig einzuordnen. Jetzt, wo sie als Nurse Plimpton verkleidet in ihrer Garderobe saß, war das noch schwerer. Ihr Kostüm zielte bewusst darauf ab, sie in eine Karikatur zu verwandeln. Um die Hüften und Brüste war es sehr eng geschnitten, und in der schwarzen Strumpfhose war eine Laufmasche … einer der Kritiker hatte sie in seiner Besprechung erwähnt. Unter ihrer Bluse war ein Plastikbeutel mit Kunstblut versteckt, das heftig herausspritzen würde, wenn sie am Ende des ersten Akts mit einem Skalpell attackiert wurde. Sie sah aus wie jemand aus der Rocky Horror Picture Show, und auf der Bühne zog sie das erstklassig durch. Aber hier in der Garderobe wirkte es irritierend. Sie war zwischen zwei Persönlichkeiten gefangen, und ich wusste nicht genau, welche von den beiden sie selbst war.

Man darf nicht vergessen, dass sie noch sehr jung war, erst fünfundzwanzig. Wenn sie bei den Proben erschien mit ihren Leggings, der falschen Federboa und kniehohen Stiefeln, den Handschuhen mit abgeschnittenen Fingerspitzen und einem täglich wechselnden antiken Schmuckstück, das sie womöglich von einer reichen Tante geerbt hatte, dann erinnerte sie mich an Sally Bowles in Cabaret. Vielleicht hat sie sich selbst auch so gesehen: wie eine Eistänzerin, die auf der Oberfläche des Lebens dahinglitt und von allen bewundert wurde. Hawthorne musterte sie eher zweifelnd. Er war nicht besonders beeindruckt.

Ihr rosa-goldenes iPhone klingelte, und ohne uns auch nur einen Blick zuzuwerfen, nahm sie es vom Tisch und meldete sich.

»Ja … Ja … Nein, ich kann jetzt nicht mit dir reden. Ich muss gleich raus, und ich habe Besuch. Nein …«

Dann sagte sie nichts mehr, hörte dem Anrufer oder der Anruferin aber zu, während ihr kleiner Finger dabei in die Luft ragte.

Ich studierte die Ausstattung der Garderobe und überlegte dabei, was Hawthorne wohl darüber dachte. Es würde ihm wohl nicht schwerfallen, Rückschlüsse auf Sky Palmers Familie, ihren Hintergrund und alles, was sie in den letzten zehn Jahren getan hatte, daraus zu ziehen. Die Hinweise darauf waren zu zahlreich. Überall waren Luxusgegenstände verstreut. Die Blumen, die man ihr geschickt hatte, waren so zahlreich, dass sie ein Geschäft hätte aufmachen können, vielleicht auch ein Beerdigungsunternehmen. Besonders auffällig war ein riesiger Rosenstrauß, dessen Stängel in einer viel zu kleinen Vase ums Überleben kämpften. Die zahllosen Glückwunschkarten waren fast alle Designerstücke und stammten nicht aus dem Supermarkt. Der Gucci-Schirm und die Uhr von Cartier lagen in Sichtweite. Natürlich zeigten auch die meisten Flakons auf dem Schminktisch nur Luxusmarken, es gab Cremes in Porzellantiegeln, Kekse von Fortnum & Mason, losen Tee in geschmackvollen Blechbüchsen und mit edlen Schnäpsen gefüllte Pralinen, teure Seife und Behälter mit diesen eigenartigen Duftstäbchen, die meiner Wahrnehmung nach überhaupt keine Düfte verströmten. Drei Champagnerflaschen und eine Flasche Gin waren auf einem Regal aufgebaut, und daneben standen ein Dutzend Gläser, die offenbar nicht gespült waren.

Nichts davon passte zu dem, was ich von ihr wusste. Sie war drei Jahre lang als Barmädchen in EastEnders aufgetreten und bei den Proben hatte sie ein English gesprochen, das durchaus in Richtung Cockney tendierte, auch wenn sie uns gerade im Ton des Cheltenham Ladies’ College abzubürsten versucht hatte. Ich glaubte, die anderen Beteiligten alle verstehen zu können – Tirian, Jordan, Arthur und Olivia Throsby. Aber Sky war ein Rätsel.

»Aufruf für alle Mitglieder des Mindgame-Ensembles. In einer Viertelstunde geht der Vorhang hoch. Sie haben noch fünfzehn Minuten. Vielen Dank.«

Die geisterhafte Stimme gehörte Pranav, dem Inspizienten. Sie kam aus dem Lautsprecher, den ich erst jetzt weit oben in einer Ecke der Garderobe entdeckte. Sky reagierte sofort. »Tschüss! Ich muss aufhören«, sagte sie und legte das Handy weg. Dann wandte sie sich an uns. »Tut mir wirklich leid. Ich muss mich jetzt fertig machen!«

»Komm, Schätzchen! Ich habe das Stück gesehen. Auf den ersten fünfzehn Seiten kommen Sie gar nicht vor.« Wenn er wütend war, benutzte Hawthorne oft eine Ausdrucksweise, die ich eher vermieden hätte. Wahrscheinlich tat er das absichtlich, um zu zeigen, wie egal ihm der andere war. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen über Harriet Throsby stellen«, fügte er hinzu.

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Ich habe nichts zu erzählen. Ich habe sie kaum gekannt.«

»Wussten Sie, wo sie wohnt?«

»Warum fragen Sie mich das überhaupt? Haben Sie irgendwelche Beschuldigungen gegen mich vorzubringen? Ja, ich wusste, wo sie gewohnt hat. Wir haben das alle gewusst.« Sie warf mir einen direkten Blick zu. »Sie selbst haben mir doch diesen Artikel gezeigt, Mr Horowitz!«

»Was?«

Wieder hatte ich das Gefühl, dass sich ein Abgrund unter mir öffnete. Wie konnte man mir bloß immer wieder die Schuld an diesem Verbrechen zuschieben?

»House & Garden. Gleich in der ersten Probenwoche haben Sie mir diesen Artikel gezeigt. Da sah man ein Bild des Hauses. Und im Artikel stand, dass Harriet Throsby in der Nähe vom Regent’s Canal wohnt, in der Nähe eines Tunnels.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«, rief ich. »Diesen Artikel hab ich nie gesehen. Ich kannte ihre Adresse überhaupt nicht …«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich eine Lügnerin bin?«

Ich wandte mich hilfesuchend zu Hawthorne um. Er warf mir einen kurzen Blick zu und schüttelte traurig den Kopf – aber seine Aufmerksamkeit blieb völlig auf Sky gerichtet. »Niemand will irgendwas über Sie sagen«, erklärte er und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. »Erzählen Sie mir doch, was im Green Room passiert ist«, bat er. »Als Sie sich dort nach der Premiere alle getroffen haben.«

»Sie meinen die Party?«

»Ich meine vor allem den Teil mit der Kritik.«

Das schien sie zu treffen. »Ja«, sagte sie. »Jetzt ärgert es mich natürlich, dass ich das erwähnt habe. Aber Tirian hat mein Handy an sich gerissen, ehe ich es verhindern konnte, und dann haben es alle gelesen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so gemein war«, fügte sie abschließend trotzig hinzu.

»Sie hat den Abend wohl ganz schön verdorben«, bestätigte Hawthorne.

»Aber das hat nichts mit ihrem Tod zu tun!« Sky warf Hawthorne einen heftigen Blick zu. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sie umgebracht worden ist, weil ihr das Stück nicht gefallen hat, oder? Das wäre ja albern. Und ich bin schon gar nicht dafür verantwortlich. Wenn jemand verrückt genug war, sie wegen der Rezension umzubringen, dann hätte er doch gewartet, bis sie veröffentlicht wurde, am Wochenende. Vorher alle Leute auf diese Rezension hinzuweisen, wäre jedenfalls ziemlich dumm gewesen.«

Aber Hawthorne gab nicht so schnell auf. »Da können wir nicht so sicher sein, Sky. Es ist ein langer Tag gewesen. Es ist eine Menge getrunken worden. Es war Mitternacht. Vielleicht haben Sie irgendwas ausgelöst, wovon Sie nichts wussten. Was haben Sie denn beobachtet?«

Wieder gab ihr Telefon einen Klingelton von sich. Sie warf einen Blick auf das Display und ich sah, dass sie gern abgehoben und telefoniert hätte. Stattdessen legte sie das Handy mit dem Gesicht auf den Tisch.

»Meinen Sie das mit Jordan?«, fragte sie. »Vielleicht sollten Sie darüber lieber mit ihm reden und nicht mit mir. Er hat diese Wutanfälle. Der Streit mit Tirian. Die Art, wie er seine Frau am Telefon anschreit. Und was er bei den Proben mit mir gemacht hat! Haben Sie davon gehört? Sie hätten sehen sollen, was ich für blaue Flecken hatte!«

Sie rieb sich die Arme, und dann hatte sie offenbar das Gefühl, dass sie zu viel gesagt hätte. »Das mit dem Messer war aber bloß eine Blödheit«, sagte sie. »Er könnte nie jemand töten. Ich mag ihn eigentlich sehr. Wenn er nicht von seinem langweiligen Method Acting redet oder mit seinen Erfolgen angibt – American House of Horror und der ganze andere Kram –, kann er sehr nett sein. Er hat mir Blumen gekauft. Und er war auch nicht der Einzige, der sich über diese Kritik aufgeregt hat. Ewan Lloyd hat diese Frau genauso fertiggemacht, und er war bestimmt noch wütender als alle anderen.«

»Ich fand ihn gar nicht so aufgeregt«, sagte ich. Ich war immer noch stinksauer über diese Geschichte mit House & Garden. Wie konnte sie so etwas sagen? Ich versuchte, mich an die Proben in Dalston und hier im Vaudeville zu erinnern. Ich hatte ihr nie irgendetwas gegeben oder gezeigt. Geschweige denn diese Zeitschrift! »Ewan hat Witze darüber gemacht. Die Kritik schien ihn gar nicht zu kratzen.«

Hawthorne stoppte mich. »Wie gut kennen Sie Ewan Lloyd?«, fragte er Sky.

»Das ist jetzt das zweite Mal, dass ich mit ihm arbeite«, sagte sie. »Er ist in Ordnung. Ich habe Macbeth in Yorkshire mit ihm gemacht.«

»Wen haben Sie denn gespielt?«

»Das Ensemble bestand bloß aus sechs Leuten. Ich habe Lady Macbeth, Lady Macduff, Fleance, den Pförtner und alle drei Hexen gespielt.«

»Hat das Spaß gemacht?«

»Nicht wirklich. Es hat die ganze Zeit geregnet, und es ist keiner gekommen.«

»Das ist der Zehn-Minuten-Aufruf. In zehn Minuten geht der Vorhang hoch! Vielen Dank!«

»Eins verstehe ich nicht so richtig …«, sagte Hawthorne ohne besonderen Nachdruck, was immer ein gefährliches Zeichen war. »Wo genau haben Sie die Rezension denn gefunden?«

»Auf meinem Handy.«

»Das meine ich nicht«, sagte er traurig. »Ich habe das ganze Internet abgesucht, aber die Rezension nicht gefunden. Sie ist einfach nicht da. Wenn man darüber nachdenkt, ist das auch nicht weiter erstaunlich. Warum hätte Harriet Throsby ihre Rezension in den sozialen Medien verbreiten sollen, wo sie doch von der Sunday Times bezahlt wurde? Die haben doch eine Bezahlschranke, die wollen bestimmt nicht, dass Texte zu früh und umsonst herumgeschickt werden. Also müssen Sie Zugang zu Throsbys Computer gehabt oder jemand gekannt haben, der diesen Zugang gehabt hat.«

Er wartete auf eine Antwort, und zum ersten Mal sah Sky sehr verletzlich aus.

»Sie irren sich«, sagte sie. »Es gab eine Webseite …«

»Welche Webseite war das?«

»Ich hab nicht darauf geachtet.«

Wieder entstand eine Pause. Sky sagte nichts.

»Ich glaube, Sie sollten nicht vergessen, dass es sich hier um eine Mordermittlung handelt«, sagte Hawthorne. Wie immer betonte er das Wort »Mord«, als ob es ihm besonders am Herzen läge. »Sie können mir den Sachverhalt erklären – oder der Polizei. Das ist Ihre Sache.«

»Ich rede nicht mehr mit Ihnen.«

Hawthorne lächelte. »Gut, dann müssen wir das anders machen. Ich werde Detective Inspector Grunshaw bitten, Sie anzurufen. Das könnte ein bisschen schmerzhaft werden. Die Behinderung einer Mordermittlung ist keine Kleinigkeit. Ich hoffe, Sie haben ein Double, dass für Sie einspringen kann, falls Sie ins Gefängnis kommen.«

Er stand auf.

»Warten Sie!«, sagte Sky. Man sah förmlich, wie sie das Risiko abzuschätzen versuchte. Es dauerte nicht allzu lange, sie merkte rasch, dass sie gar keine Wahl hatte. »Olivia hat mir die Rezension geschickt.«

»Die Tochter?«, murmelte ich.

»Ja.«

Hawthorne setzte sich wieder. »Warum sollte sie das getan haben? Kennen Sie sich?«

Sky senkte den Kopf. »Wir haben uns ein paarmal getroffen.«

»Wo denn?«

»Das erste Mal im Barbican Theatre. Bei einer Inszenierung der Hexenjagd von Arthur Miller. Wie so oft machte ihre Mutter sich auf der Premierenfeier breit. Warum sie das bloß gemacht hat? Sie musste doch wissen, dass sie da nicht willkommen war. Und Olivia hat sie auch mitgeschleppt. Ich hab sofort gesehen, dass es ihr peinlich war. Wir haben ein bisschen geredet und uns gut verstanden. Wir haben eine Menge gemeinsam.«

»Was denn?«

»Zum Beispiel eine Mutter, die wir nicht ausstehen konnten. In meinem Fall eine Stiefmutter. Wenn man eine Freundin sucht, ist das eine gute Basis. Über Facebook sind wir in Kontakt geblieben. Ab und zu haben wir uns auch auf einen Drink getroffen. Es war keine große Sache. Ich hab sie nicht gebeten, mir diese Besprechung zu schicken. Sie hat wohl einfach gedacht, dass sie mich interessiert.«

»Dafür hat sie den Computer ihrer Mutter gehackt?« Hawthorne tat so, als ob er schockiert wäre. Dass er am Vormittag noch das Intranetz der Polizei geplündert und das Labor in Lambeth hatte außer Gefecht setzen lassen, schien er völlig vergessen zu haben.

»Ach was«, sagte Sky. »Sie brauchte gar nichts zu hacken. Sie kennt das Passwort. Sie wollte mich nur wissen lassen, dass ihre Mutter mich einigermaßen glimpflich behandelt hatte. Mein Fehler war, dass ich den anderen von der Besprechung erzählt habe. Das war sehr dumm von mir. Als die Polizei mir gesagt hat, was passiert ist, dass Harriet Throsby tot war, dass sie jemand ermordet hat, konnte ich es zuerst gar nicht glauben. Aber dass es jemand von uns gewesen sein könnte, wäre mir nie eingefallen, trotz allem, was Jordan gesagt hatte. Es erschien völlig unmöglich.«

Erneut gab ihr Telefon ein Geräusch von sich, aber wer immer Sky zu erreichen versuchte, blieb unseren Blicken verborgen.

»Ist die Polizei zu Ihnen nach Hause gekommen?«, fragte Hawthorne.

»Ja.«

»Und wo ist das?«

»Victoria Park.«

»Da sind Sie den ganzen Mittwochvormittag gewesen? Auch um zehn Uhr morgens?«

Sky senkte den Blick. »Da ist es passiert, oder?«, sagte sie leise. Als sie Hawthorne wieder ansah, lagen Trotz und Abwehr in ihrem Blick. »Ich war den ganzen Tag zu Hause. Allein. Warum überprüfen Sie nicht die Überwachungskameras? In meiner Straße und da am Kanal, wo Olivias Mutter gelebt hat, gibt’s die doch massenhaft. Ich bin den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen.«

»Wohnen Sie allein?«

»Ja.«

»Zur Miete?«

Sky zögerte. Es war ihr peinlich, aber es hatte keinen Sinn zu lügen. »Die Wohnung gehört mir.«

»Dann bringt Ihnen die Schauspielerei also was ein«, stellte Hawthorne fest.

»Mein Vater hat mir beim Kauf der Wohnung geholfen.«

»Und wer ist Ihr Vater?«

Sie hatte keine Lust, ihm das zu erzählen, aber sie hatte keine andere Wahl. Die Polizei wusste wahrscheinlich ohnehin schon alles über sie. Sie war schließlich eine Verdächtige in einem Mordfall gewesen, jedenfalls so lange, bis ich verhaftet worden war. Ich fragte mich, ob Hawthorne die Antwort auf seine Frage schon kannte, es hätte mich nicht gewundert.

Skys Vater war der Frontmann einer prominenten englischen Rockband. Sogar ich erkannte den Namen, als sie ihn schließlich preisgab. Und plötzlich passte alles an ihr zusammen: die vielen Luxusartikel, der Immobilienbesitz, ihre zwiespältige Einstellung zu Mindgame. Sie hatte es nicht nötig zu arbeiten. Mit der Schauspielerei hatte sie wahrscheinlich bloß wegen der vielfältigen Beziehungen ihres Vaters zum Showbusiness angefangen. Als Alternativen hatten vermutlich nur Public Relations oder eine schicke Kunstgalerie in Mayfair zur Verfügung gestanden. Ich erinnerte mich sogar an die Scheidung ihrer Eltern, die in der Presse ausführlich breitgetreten worden war. Er hatte seine Frau wegen eines Models verlassen, das kaum älter als seine Tochter war.

»Zur Premiere ist er nicht gekommen«, sagte Hawthorne. Er wusste es, weil der Wirbel ganz unübersehbar gewesen wäre. Keith hätte damit geprahlt, es wären Dutzende Paparazzi da gewesen und die Zeitungen wären voll gewesen.

»Er wusste nicht mal, dass es eine Premiere gab. Er ist auf Tournee.« Sie sah uns trotzig an, aber es standen Tränen in ihren Augen. In wenigen Worten hatte sie alles gesagt, was wir über ihr Verhältnis zu ihrem Vater wissen mussten.

»Das ist Ihr Fünf-Minuten-Aufruf, meine Damen und Herren. In fünf Minuten geht der Vorhang hoch.«

»Können Sie jetzt bitte gehen? Ich muss mich wirklich fertig machen.«

Es gab nichts mehr zu sagen, und so folgten wir ihrer Aufforderung. Sky tat mir ein bisschen leid. Ich kannte etliche junge Leute mit berühmten Eltern, und sehr häufig überwiegen die Probleme die Privilegien.

Wir verließen das Gebäude durch den Notausgang zum Lumley Court. Die Tür ließ sich ohne Weiteres durch eine Druckstange öffnen, und es ertönte auch kein Alarm. Wir hatten uns bei unserer Ankunft nicht in das Besucherbuch eingetragen, und deshalb brauchten wir auch nicht zum Bühneneingang zurück, wo die Portiersloge war. Sobald wir draußen waren, sagte ich zu Hawthorne: »Das mit der Zeitschrift muss ich Ihnen erklären –«

Hawthorne schüttelte den Kopf. »Das hätten Sie mir sagen sollen, Tony.«

»Ich hatte es total vergessen. Es muss bei den Proben in Dalston gewesen sein. Ich hatte alles Mögliche im Kopf. Vielleicht hat mir jemand die Zeitschrift in die Hand gedrückt und ich hab sie ihr weitergegeben. Aber ich hab nicht hineingeschaut. Nicht mal das Titelbild hab ich mir angesehen.« Mir war klar, dass ich hilflos daherredete. »Ich hatte keine Ahnung, wo diese Frau wohnte, bevor Detective Grunshaw es mir gesagt hat.« Meine Stimme war immer schwächer geworden.

»Ich glaube Ihnen, Sportsfreund.« Hawthorne überlegte einen Moment. »Das Gericht zu überzeugen, könnte schon etwas schwieriger sein, aber vielleicht haben die Geschworenen ja Mitleid mit Ihnen. Auf jeden Fall haben Sie sich wirklich große Mühe gegeben, Beweise gegen sich zu sammeln.«

Schweigend gingen wir zurück zum Strand. Die Eingangstüren des Theaters lagen jetzt verlassen da. Es war halb sieben, und der erste Akt war schon im Gange. Ich warf einen Blick ins Foyer und sah den Chef der Abendkasse hinter dem Schalter sitzen. Er sah nicht sehr glücklich aus.

»Hawthorne …« Ich hatte nachgedacht, während wir in Sky Palmers Garderobe saßen, und hatte das Bedürfnis meine Gedanken mit ihm zu teilen. »Sky Palmer hat doch in Macbeth mitgespielt.« 

»Ja, das hab ich gehört.«

»Dann muss Ihnen doch klar sein, was das bedeutet! Sie hat damals in Yorkshire schon einen der ersten Dolche erhalten. Ahmet hat ja einen ganzen Haufen davon machen lassen.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Der Regisseur in Yorkshire war ebenfalls Ewan Lloyd. Der muss also noch einen zweiten Dolch haben.«

»Darauf bin ich auch schon gekommen, Tony. Das hilft uns aber nicht weiter.«

»Warum nicht?«

»Ihr Produzent kann noch ein Dutzend Dolche bestellt haben. Für Freunde, Sponsoren, Kostümbildnerinnen, Vorderhauspersonal und so weiter. Aber derjenige, der seinen Dolch verloren hat, sind Sie. Und das Messer, mit dem Harriet Throsby umgebracht wurde, hatte Ihre Fingerabdrücke am Griff.«

Ich spürte, wie ich in mich zusammensank. »Das stimmt.«

Hawthorne warf einen Blick auf die Uhr. »Ahmet wartet in seinem Büro auf uns. Ich habe ihm gesagt, dass wir noch vorbeikommen.«

»Kann das nicht bis morgen warten?« Ich war so erschöpft. Ich hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. Ich hatte den halben Tag hinter Gittern verbracht und danach einen Verdächtigen nach dem anderen besucht. Allein in der letzten Stunde das gesamte Ensemble von Mindgame.

»Wie Sie wollen, Sportsfreund. Aber die Uhr tickt. Die DNA-Analyse kann jeden Augenblick bei Cara Grunshaw eintreffen. Wenn Sie zurück in die Tolpuddle Street wollen …«

Die Untersuchungshaft. Cara Grunshaw. Sofort war ich wieder hellwach. »Nein, nein! Gehen wir zu Ahmet.«

Wir gingen am Theater vorbei. Ich dachte an Tirian Kirke, der da drin auf der Bühne gerade Dr. Farquhars Büro beschrieb. Ob über die Zeile mit den Büchern wohl auch diesmal gelacht worden war? Mein Name stand immer noch über dem Eingang, aber ein weiterer von den Leuchtbuchstaben hatte den Geist aufgegeben. Ich war nur noch ANONY. Noch ein Kurzschluss, dann war ich nur noch ANON. Was ich – angesichts der Rezensionen – vielleicht auch verdient hatte.

Hawthorne winkte einem Taxi und wieder einmal waren wir auf dem Weg.