16

Frost & Longhurst

Am nächsten Morgen traf ich Hawthorne an einer belebten Kreuzung in der Nähe des U-Bahnhofs Holborn. Er saß vor einem Coffee Shop und steckte sich gerade eine Zigarette an, die bestimmt nicht die erste an diesem Tag war. Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass er rauchte. Ich glaube, er war nicht nur nikotinsüchtig, sondern auch das Rauchen selbst war für ihn unverzichtbar. Es gehörte zu seiner Persönlichkeit, und die Tatsache, dass es ungesund und asozial war, trug nur dazu bei, dass er umso entschlossener daran festhielt. Trotz all seiner unbezweifelbaren Brillanz war Hawthorne ein sehr einsamer Mann. Er lebte allein, von seiner Frau und seinem halbwüchsigen Sohn getrennt. Freunde von ihm hatte ich bisher noch nicht kennengelernt. Abgesehen von Kevin, der ein Stockwerk unter ihm wohnte, und seinem ziemlich exzentrischen Lesekreis hatte er auch nie welche erwähnt. Er hatte wohl erkannt, wie wenige Freuden es in seinem Leben gab. Vielleicht klammerte er sich deshalb so entschlossen an die wenigen, die ihm verblieben waren: Zigaretten und Mord. Das war so ungefähr die Summe seiner Existenz.

Ich ließ mir eine heiße Schokolade bringen und setzte mich zu ihm. Wir saßen an einer Straßenecke, an der hunderte Pendler aus der U-Bahn heraufkamen und der Berufsverkehr aus vier verschiedenen Richtungen an uns vorbeikroch. Es war nicht gerade ein Luftkurort, aber zumindest war die Sonne herausgekommen. Ich zögerte nicht lange, sondern erzählte ihm als Erstes von meiner nächtlichen Begegnung mit Jordan Williams. Ich hatte kaum schlafen können, sondern stundenlang darüber nachgedacht, was er mir gesagt hatte. Ich hatte Tirian von Anfang an misstraut. Jetzt hatte mir Jordan endlich ein klares Motiv für den Mord an Harriet Throsby genannt.

Ärgerlicherweise stimmte mir Hawthorne nicht zu.

»Tut mir leid, Sportsfreund«, sagte er und zog an seiner Zigarette. »Ich weiß, dass Sie sauer auf Tirian sind, weil er damals seinen Vertrag nicht unterschrieben hat. Aber das passt nicht zusammen.«

»Wieso nicht?«

»Zunächst einmal wissen wir gar nicht, ob Mrs Throsby wirklich gehört hat, was Tirian auf dieser Party gesagt hat. Er konnte das auch nicht wissen. Es waren eine Menge Leute in dem Lokal, und es war sicher recht laut. Türkische Musik, andere Leute und so weiter.«

»Er musste sich gar nicht sicher sein. Er hat es geglaubt, und dann ist er hingegangen und hat sie zur Rede gestellt.«

Hawthorne nickte. »Das wäre möglich. Aber so war es nicht. Überlegen Sie mal, wo der Mord stattfand.«

»In Palgrove Gardens.«

»Ich meine, in welchem Teil des Gebäudes.« Hawthorne sah mich ein bisschen traurig an. »Sie wurde im Flur getötet, praktisch noch an der Haustür.«

»Na und?«

»Nun ja, Tirian hat befürchtet, dass sie gehört hat, was er über den Regisseur und den Film gesagt hat. Aber selbst wenn sie es gehört hatte, hat sie es ja nicht unbedingt ernst genommen. Es war ja bloß eine Party. Die Leute haben getrunken. Üblicherweise berichten Journalisten auch nicht, was in privaten Gesprächen gesagt wird.«

»Diese Art Journalistin war Harriet Throsby nicht.«

»Das mag sein. Aber hätte er sie wirklich ermordet, wenn er sich nicht ganz sicher war, was sie gehört hatte und was sie daraus machen würde? Hätte er nicht wenigstens erst einmal herauszufinden versucht, was sie dachte, und sie vielleicht umzustimmen versucht? In der Besprechung hat sie ihn sehr wohlwollend behandelt. Das Messer hätte er ja immer noch einsetzen können, wenn sie ihm gezeigt hätte, dass sie ihn vernichten wollte.«

Hawthorne warf mir einen Blick zu. »Der entscheidende Punkt ist, ob sie ein solches Gespräch an der Haustür geführt hätten. Das glaube ich nicht, Tony. Sie standen ja direkt neben ihrem Arbeitszimmer. Hätte sie ihn nicht hereingebeten, um ihre Macht zu genießen? Hätte er nicht die Einladung angenommen, um seinen Charme spielen zu lassen und zu sehen, was sich noch machen ließ? Guten Morgen, Mrs Throsby, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich den Unsinn, den ich gestern Abend über Christopher Nolan gesagt habe, nicht so gemeint habe … ich war betrunken. So etwas in der Art. Aber das alles hat nicht stattgefunden. Die Person, die an diesem Vormittag an ihrer Tür klingelte, hatte nur ein einziges Ziel: diese Frau zu ermorden. Keine Unterhaltung. Keine Entschuldigungen. Mrs Throsby öffnete die Tür, und das war das Letzte, was sie in ihrem Leben getan hat.«

»Und diese Person war nicht Tirian?«

»Er hätte es sein können. Ich habe Kevin gebeten, ihn zu überprüfen. Die Geschichten, die er uns erzählt hat – dass er in Wales aufgewachsen ist, dass seine Eltern bei einem Autounfall gestorben sind, dass er nach Harrogate kam und beim National Trust gearbeitet hat …«

»Und?«

»Es ist alles plausibel. Die Episode von Heartbeat hieß ›Another Little Piece of My Heart‹. Im Abspann wurde er allerdings nicht genannt.«

»Er war ja schließlich nur Statist.«

»Ich glaube, die heißen jetzt Hintergrundschauspieler.«

Meine Hoffnungen schwanden. »Haben Sie etwas Neues von Cara Grunshaw gehört?«

»Die wird mich bestimmt nicht anrufen!«

»Und was ist mit dem Labor in Lambeth?«

»Die haben ihre technischen Probleme offenbar immer noch nicht gelöst.« Er gestattete sich ein ironisches Lächeln. »Ich dachte, Sie missbilligen die Tätigkeit meines Freundes Kevin.«

»In diesem Fall mache ich mal eine Ausnahme.«

Hawthorne drückte seine Zigarette aus und stand auf. Meine nicht mehr ganz heiße Schokolade ließ ich gern stehen. Sie schmeckte nach Auspuffgasen. »Martin Longhurst wartet auf uns«, sagte Hawthorne.

Ahmets Buchhalter war auf der Premierenfeier gewesen, ich hatte gesehen, wie er mit Harriet Throsby sprach. Aus irgendeinem Grund war er nervös gewesen. Und heute um vier Uhr morgens, als ich schlaflos im Bett lag, war mir noch eingefallen, dass er im Theater in der Reihe hinter mir gesessen hatte. Trotzdem hatte ich keine Ahnung, warum sich Hawthorne für ihn interessierte. Wir wussten ja schon, dass Ahmet finanzielle Schwierigkeiten hatte. Was konnte er dem noch hinzufügen?

Im Gegensatz zu ihrem glücklosen Klienten ging es Frost & Longhurst offensichtlich sehr gut. Sie residierten in einer stillen Seitenstraße in einem auf vier Stockwerke verteilten Büro. Ihr Name war der einzige an der Eingangstür, und als wir den Empfangsbereich mit dem dicken Teppich und den Ölgemälden (Pferde und Landhäuser) betraten, musste ich unwillkürlich an Ahmets Souterrain in der Euston Road denken. Wieso hatten diese feinen Herren ihn überhaupt als Klienten genommen? Ihre Firma war doch eher etwas für Spitzenanwälte, erfolgreiche Geschäftsleute und Hedgefondsmanager.

Martin Longhurst erschien fast sofort und führte uns tiefer in das Gebäude hinein. Bei der Premierenfeier war er mir ungelenk erschienen. In Ahmets Büro hatte ich gedacht, er sei krank, aber das lag wahrscheinlich nur daran, dass er gerade die Vorverkaufszahlen von Mindgame gesehen hatte. Hier in seinem Büro war er gänzlich verwandelt. Er trug einen maßgefertigten Anzug aus der Savile Row, und aus seinen Jackenärmeln blitzten goldene Manschettenknöpfe. Sein schwarzes Haar war glatt zurückgekämmt, und er war total entspannt. Während wir sein heimisches Revier durchquerten, blieb er ein paarmal stehen, um uns auf die Gemälde hinzuweisen: Das ist ein Edward Walter Webb. Das Pferd hat 1840 das Grand Liverpool Hindernisrennen gewonnen … Er führte uns in ein Konferenzzimmer mit einem von zwölf Stühlen umstandenen Eichentisch, dessen Platte wie ein polierter Spiegel glänzte. Auf dem Buffet an der Seite warteten Kaffee und Tee. Wir setzten uns. Er schenkte mir Tee und Hawthorne Kaffee ein und plauderte dabei ununterbrochen.

»Ihr Stück hat mir sehr gut gefallen, Anthony. Ich fand es sehr unterhaltsam. Und meine Tochter ist schon lange ein Fan Ihres Werks. Für Alex Rider ist sie noch zu jung, aber – wenn es Ihnen nichts ausmacht – sie würde sich schrecklich freuen, wenn Sie ihr ein anderes Buch signieren könnten.« Ich hatte schon bemerkt, dass mitten auf dem Tisch ein oft gelesenes Exemplar von Granny mit vielen Eselsohren lag. Wenn sich in einem Raum ein Buch von mir befindet, ist es immer das Erste, was ich bemerke.

Dann nahm auch Longhurst Platz. Er bewegte sich sehr vorsichtig, wahrscheinlich, weil er so groß war, und hielt sich sehr gerade. Mit eleganten Fingern griff er nach einem Glas teurem Sprudelwasser. Er war Mitte dreißig und zeigte jenes lässige Selbstvertrauen, das entweder von ererbtem Reichtum oder frühem Erfolg erzeugt wird. Er schien ein völlig anderer Mensch als der Buchhalter, den ich in Euston bei Ahmet getroffen hatte. Konnte er seine Persönlichkeit nach Belieben verändern? Je nachdem, mit wem er es gerade zu tun hatte? Passte er sich seiner Klientel an? Je bekannter und reicher sie waren, desto weltmännischer und selbstbewusster wurde sein Auftreten?

»Nun, meine Herren? Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.

Ich wusste es nicht. Es war mir peinlich, dass ich keine Ahnung hatte, warum wir bei ihm waren.

»Nun«, sagte Hawthorne. »Natürlich wollen wir über Harriet Throsby mit Ihnen reden.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen dazu etwas sagen kann.« Longhurst wählte seine Worte behutsam. »Mit Sicherheit nichts über ihre Ermordung. Mein Klient Mr Yurdakul erzählte mir gestern davon, und Sie können sich meine Reaktion vorstellen.«

»Seit wann ist Mr Yurdakal denn schon Ihr Klient?«

»Ich habe ihn vor etwa acht Jahren kennengelernt, als er eine Software für unsere Firma entwickelt hat. Er hat das sehr gut gemacht. Als er sich dann als Theaterproduzent selbständig machte, fragte er, ob wir vielleicht seine Buchhaltung übernehmen könnten, und obwohl er nicht so richtig zum Profil unserer Firma passte, haben wir uns einverstanden erklärt. Es tut mir sehr leid, dass sein Unternehmen noch nicht so erfolgreich ist, wie er das gehofft hat, aber ich bin sicher, das wird noch kommen. Er ist ein sehr talentierter Mann.«

»Wussten Sie, dass Harriet Throsby bei der Premiere sein würde?«

»Ich hielt es für denkbar, dass sie dort sein würde. Ich weiß allerdings nicht, warum Sie mir diese Frage stellen, Mr Hawthorne. Glauben Sie, ich hätte in irgendeiner Weise etwas mit ihrem Tod zu tun?«

»Nun ja, Sie waren einer der Letzten, die mit ihr gesprochen haben.« Noch ehe Longhurst das abstreiten konnte, ergänzte Hawthorne: »Nach meiner Kenntnis hatten Sie ein Gespräch mit ihr im Topkapi, dem türkischen Restaurant, wo die Party stattfand.«

Longhurst zögerte. »Ich habe ein paar Worte mit ihr gewechselt. Es herrschte ein ziemlicher Lärm«, gab er zu. »Wir haben nichts von Interesse gesagt.«

»Heißt das, Sie haben sie vorher gar nicht gekannt?«

Ich sah eine leichte Verärgerung in den Augen des Mannes, als er merkte, dass er die Wahrheit nicht würde leugnen können. »Nein«, sagte er, »das habe ich nicht gesagt. De facto hatten sich unsere Wege schon einmal gekreuzt. Aber das ist sehr lange her. Zwanzig Jahre. Ich möchte das hier nicht erörtern.«

»Das glaube ich gern, Mr Longhurst. Aber wenn jemand ermordet wird, und auf so besonders brutale Weise, dann müssen Fragen beantwortet werden.«

»Ich habe sie nicht umgebracht.«

»Sie hatten einen guten Grund.«

»Hatte ich?«

»Sie hat ein Buch geschrieben über Sie.«

Das war’s! Hawthorne hatte noch nicht ausgesprochen, da wurde mir klar, was ich übersehen hatte. Auf dem Tisch in Harriet Throsbys Arbeitszimmer in Little Venice hatten drei Bücher gelegen, die sie geschrieben hatte. Eins davon hieß Bad Boys: Life and Death in an English Village. Arthur Throsby hatte uns erzählt, worum es darin ging: Es ging um Trevor und Annabel Longhurst. Sie erinnern sich vielleicht? Ihr Sohn war in den Tod eines Grundschullehrers in ihrer Gemeinde verwickelt. Longhurst ist kein besonders häufiger Name, und Hawthorne hatte den Zusammenhang offenbar sofort erkannt. 

»Trevor und Annabel Longhurst sind Ihre Eltern«, sagte er zu unserem Gastgeber.

Eine halbe Sekunde lang überlegte Longhurst, ob er es leugnen sollte, aber das wäre zwecklos gewesen. »Ja«, sagte er.

»Ihr Bruder hieß Stephen.«

»Das stimmt.« Er umklammerte immer noch die Mineralwasserflasche. Als er sie aufschraubte, geschah dies mit einem harten Ruck.

Jetzt zeigte sich Hawthorne verständnisvoll. »Es tut mir leid, dass ich das zur Sprache bringen muss, Mr Longhurst. Ich vermute, das ist alles sehr schmerzlich für Sie.«

»Sie haben keine Ahnung, was das für Gefühle auslöst, Mr Hawthorne. Ich war gerade achtzehn, als mein Bruder plötzlich im Mittelpunkt dieses Skandals stand. Stephen war acht Jahre jünger als ich. Bis dahin war mein Leben normal, ja sogar glücklich gewesen. Und dann wurde es plötzlich in Fetzen gerissen.«

»Ihr Bruder war verantwortlich für den Tod eines Lehrers an seiner Grundschule.«

»Nein. Ich habe es Ihnen doch gerade gesagt: Er war gerade mal zehn Jahre alt! Egal, was unsere Gesetze besagen: Er war offensichtlich nicht strafmündig. Er wusste nicht, was er tat. Er gehört zu denen, die in aller Unschuld durchs Leben gehen. Er geriet unter den Einfluss eines älteren Jungen, und damit fingen die Probleme an. Mit der Person, die Mrs Throsby in ihrem Buch beschrieben hat, hatte er nichts zu tun. Das Geschreibsel dieser Dame bestand ohnehin nur aus halbverdauten Verleumdungen und Gerüchten, die sie zu einem üblen Cocktail zusammengemixt hatte, um schnelles Geld damit zu verdienen.«

»Sie hatten also keine besonders günstige Meinung von ihr.«

»Sie können mich provozieren, soviel Sie wollen. Ich gebe zu, dass ich meine fatale ›Beziehung‹ zu dieser Frau hätte aufdecken sollen, sobald Sie hier ins Büro kamen. Denn auch nach all den Jahren sind die Wunden nicht verheilt, die sie mit ihrem Machwerk geschlagen hat.«

»Dann muss es ein ziemlicher Schock gewesen sein, sie bei dieser Party zu treffen?«

»Erwartet hatte ich es jedenfalls nicht. Das habe ich schon erwähnt. Ich dachte, dass sie im Theater sein würde. Aber Ahmet wollte unbedingt, dass ich zur Premiere komme, schließlich hing davon ja seine finanzielle Zukunft ab, und ich hatte das Gefühl, dass ich ihn nicht enttäuschen dürfte. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass ich in einem Saal mit sechs- oder siebenhundert anderen Zuschauern auf jemanden stoßen würde, den ich nicht treffen wollte. Als ich sie dann gesehen habe, bin ich ihr aus dem Wege gegangen.« 

»Bis Sie in das Topkapi kamen …«

»Nun ja. Das war eine Überraschung. Ich hatte keine Ahnung, dass sie bei der Premierenfeier auftauchen würde. Im Gegenteil, ich war der Ansicht, dass es sich für Kritiker nicht gehört, sich in dieser Art aufzudrängen.«

»Und was haben Sie dann zueinander gesagt?«

»Sie hat mich entdeckt, bevor ich sie bemerkte«, erklärte Longhurst. »Sonst hätte ich mich sofort entschuldigt und wäre gegangen. Ich bin immer noch überrascht, dass sie mich nach all den Jahren erkannt hat. Aber sie zögerte keinen Augenblick. Sie kam direkt auf mich zu, stellte sich vor und erinnerte mich daran, dass sie dieses Buch verfasst hatte, so als müsste ich mich freuen, sie an diesem Abend zu sehen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Mir wurde regelrecht schlecht, als ich sie vor mir sah. Sie erkundigte sich nach meinen Eltern. Damit eröffnete sie sogar das Gespräch. Ich war völlig perplex. Am liebsten hätte ich sofort den Raum verlassen. Aber ich sagte nur: Danke, es geht ihnen gut

»Und dann?«

»Sie fragte, ob mir das Stück gefallen hätte. Das fand ich sehr eigenartig. Sie war ja schließlich die Kritikerin.«

»Was haben Sie denn gesagt?«

»Ich habe die Frage zurückgegeben: Und Ihnen? Es war mir natürlich völlig egal. Ich wollte bloß, dass diese Unterhaltung vorbei wäre. Außerdem war es ziemlich schwer, sie zu verstehen, die Kapelle war direkt neben uns und spielte recht laut. Aber sie hat mich sowieso bloß schräg angelächelt. Das ist mein kleines Geheimnis! hat sie gesagt. Sie wollte wohl nichts verraten, ehe sie die Besprechung fertig hatte.«

Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug aus. Ich sah zu, wie sein Adamsapfel dabei auf und nieder hüpfte.

»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Das war alles, Mr Hawthorne, das komplette Gespräch mit Mrs Throsby. Ich habe keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgegangen ist und warum sie dachte, ich würde mich freuen, sie wiederzusehen. Ich entschuldigte mich und habe sie stehenlassen. Kurz darauf habe ich die Feier verlassen.«

»Hat sie vielleicht bewusst versucht, Sie zu kränken?«

»Ich glaube, das kann man nicht ausschließen.«

»Was stand eigentlich in diesem Buch? Was genau hat Sie so geärgert?« Auf seine Art war Hawthorne jetzt richtig gemütlich. »Die gebundene Ausgabe ist übrigens vergriffen, aber die Kindle-Ausgabe hab ich umsonst gekriegt. Ich hab’s noch nicht geschafft, sie ganz zu lesen, aber nachdem was ich bisher gesehen habe, werde ich sie meinem Lesekreis nicht empfehlen.«

»Müssen wir darüber jetzt reden?«

»Wir haben nicht viel Zeit, um herauszufinden, wer diese Harriet Throsby ermordet hat.«

Diese Erinnerung hätte ich nicht gebraucht. Die DNA, die Fingerabdrücke, die japanischen Kirschblütenblätter, die Zeugenaussagen. Cara Grunshaw konnte jeden Augenblick vor meiner Tür stehen.

Hawthorne war es offenbar gelungen, eine Art Vertrauensbeziehung zu diesem Edel-Buchhalter aufzubauen. Longhurst nickte langsam und stellte das Wasserglas zurück auf den Tisch. »Na, gut.«

Wir warteten.

»Ich kann Ihnen nicht alles über den Sommer 1998 erzählen, was Sie vielleicht wissen wollen«, sagte Longhurst. »Sie dürfen nicht vergessen, dass ich diese Dinge als junger Mensch von achtzehn Jahren erlebt habe, und die meiste Zeit war ich nicht mal in Moxham. Meine Eltern hatten mich nach Marlborough ins Internat geschickt, und als diese Geschichte mit Stephen passierte, war ich in meinem Gap Year zwischen Schule und Universität. Ich war in Namibia, als Fußballtrainer für Kinder und Jugendliche. Meine Eltern haben mir geschrieben, ich sollte ja nicht nach Hause kommen, als das mit Stephen passierte, obwohl ich das natürlich gleich wollte. Sie wollten mich schützen und verhindern, dass ich auch noch in die Sache hineingezogen wurde. Das ist ihnen auch im Großen und Ganzen gelungen … jedenfalls bis dieses Buch erschien.

Wie Sie wahrscheinlich längst wissen, waren meine Eltern damals ziemlich bekannt. Das heißt, ihre Namen tauchten häufig in den Medien auf. Sie hatten eine Firma gegründet, die Kinderkleidung verkaufte, sich aber bald auch auf Spielsachen, Bücher und Möbel ausdehnte. Vielleicht erinnern Sie sich an den Namen: Red Button. Es gab Red Button-Läden, Red Button-Restaurants und sogar Red Button-Abenteuerferien und -Urlaubsdörfer. Meine Eltern waren reich geworden und hatten enge Beziehungen zu den Mitte-Links-Politikern von New Labour. Es war das Jahr, in dem Peter Mandelson im Namen des Premierministers die berühmte Bemerkung machte, er hätte kein Problem damit, dass Leute stinkreich werden. Es hätten mein Vater und meine Mutter sein können, über die er das sagte.

Sie hatten New Labour erhebliche Summen gespendet. Sie unterstützten Tony Blair, als er 1994 für den Parteivorsitz kandidierte, und sie feierten mit ihm in der Downing Street, als er drei Jahre später die Wahlen gewonnen hatte. Mein Vater hat an den ersten Gesprächen über den Millennium Dome teilgenommen und wäre vielleicht auch ins Oberhaus gekommen, wenn … wenn sich die Dinge nicht so entwickelt hätten, wie es der Fall war.

Meine Eltern waren Anfang der Neunzigerjahre nach Moxham Heath gezogen. Das Leben in einem Dorf mitten in Wiltshire kann ich Ihnen leider nicht wirklich beschreiben, denn ich bin nicht oft dort gewesen. Wenn ich nicht im Internat war, war ich meistens in London. Meine Eltern hatten das Haus am Sloane Square behalten. Warum meine Eltern aufs Land gezogen sind, weiß ich bis heute nicht. Im Nachhinein kann man sagen, dass es die schlechteste Entscheidung war, die sie jemals getroffen haben. Es ging von Anfang an alles schief. Moxham Hall war ein völlig unnötig großes Herrenhaus, zu dem auch noch hundert Morgen Land gehörten. Und dass meine Eltern in einem von meinem Vater persönlich gesteuerten Hubschrauber eintrafen, war auch nicht ideal.

Sofort waren alle gegen sie – auch wenn die Front nicht in den klassischen Bahnen verlief. Die Tories verloren damals die Macht, und wahrscheinlich genügte das schon, um in diesem konservativen Wahlkreis starke Ressentiments gegen meine Eltern zu wecken. Ich weiß es nicht. Meine Eltern waren ja nicht nur reich, sondern sie waren reiche Sozialdemokraten. Reiche Leute gab es viele in Moxham, aber meine Eltern unterstützten die Labour Partei. Sie waren gegen die Fuchsjagd. Sie wollten ein Windrad aufstellen. Ich denke, Sie können sich vorstellen, dass die Leute sich darüber aufregten. Die Landschaft verschandeln und Vögel zu Tode bringen, ehe die Ureinwohner sie schießen konnten! Mein Vater hatte sich an der Kampagne zur Reinhaltung der Luft und gegen verbleites Benzin beteiligt, dass er mit einem privaten Hubschrauber rumflog, zeigte nur, was für ein verlogener Heuchler er war. Ich hab mich aus alledem rausgehalten, aber ich erinnere mich, dass es einen Streit nach dem anderen gab. Der Swimming Pool. Der Wanderweg, den sie zehn Meter verschieben wollten. Der Fonds zur Restaurierung des Gemeindesaals. Das alljährliche Dorffest. Sie waren einfach neureiche Eindringlinge und verlogene Besserwisser in einer traditionellen kleinen Gemeinde in England … so wurden sie wahrgenommen. Sie konnten es den Leuten einfach nicht recht machen.

Vielleicht war das der Grund, weshalb sie beschlossen, meinen kleinen Bruder in die Dorfschule gehen zu lassen – Moxham Heath Primary. Das hat Throsby in ihrem Buch jedenfalls angedeutet. Sie haben ihn benutzt, um sich bei den Dorfbewohnern anzubiedern und zu beweisen, dass sie ›dazugehörten‹. Das war natürlich völliger Unsinn. Aber sie hat es trotzdem geschrieben.

Vielleicht sollte ich Stephen ein bisschen genauer beschreiben. Bis zu seinem neunten Lebensjahr, als er aus London wegmusste, war er ein sehr stilles Kind. Er hat viel gelesen. Er hatte gute Noten und viele Freunde. Throsby hat ihn als ›verzogen‹ bezeichnet. So hätte ich das nicht genannt, aber man kann sagen, dass man ihn respektierte und ihm seine Wünsche erfüllte. Das lag daran, dass er praktisch ein Einzelkind war. Er war ein Nachkömmling, aber sie haben ihn sehr geliebt.

Das änderte sich in Moxham fast vom ersten Tag an. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie schwierig es dort für ihn war. Wie ich schon sagte, war ich nicht dabei. Aber er hatte all seine Londoner Freunde verloren und es gelang ihm nicht, neue zu finden. Meine Eltern wollten damals Red Button in den Vereinigten Staaten etablieren und waren ständig unterwegs. Stephen hatte ein sehr nettes Kindermädchen, eine junge Australierin, die mit der Familie nach Wiltshire gezogen war und ihr Bestes gab. Aber im Nachhinein muss man sagen, dass er vernachlässigt wurde.

Und dann geschah alles sehr schnell. Niemand merkte etwas, bis es zu spät war. Moxham Heath Primary School hatte den Ehrgeiz, Jungen und Mädchen aus einem möglichst großen Einzugsbereich aufzunehmen. Sie wollten nicht bloß die Sprösslinge der reichen Leute und der örtlichen Oberschicht, was sicher sehr löblich war. Einer der Schüler allerdings hatte einen sehr schlechten Einfluss auf Stephen. Sein Name war Wayne Howard. Er wohnte in einer Siedlung am Rande von Chippenham, etwa acht Meilen entfernt. Das dörfliche Leben passte überhaupt nicht zu ihm, und er wäre in einer Großstadt wahrscheinlich glücklicher gewesen. Aber er wurde jeden Tag mit dem Bus abgeholt, und Stephen und er wurden Freunde.«

Longhurst schüttelte traurig den Kopf. »Man kann sich kaum vorstellen, dass sie erst neun und zehn Jahre alt waren, als sie sich kennenlernten. Sie waren Kinder! Aber sie gründeten eine Art Bande, wenn auch nur mit zwei Mitgliedern. Wayne war der Anführer, und bald gerieten sie ziemlich außer Kontrolle. Ständig hatten sie Krach mit den Lehrern, den Nachbarn und sogar mit der Polizei. Einmal wurden sie wegen Diebstahls angezeigt, weil sie im Dorfladen etwas geklaut hatten. Danach wurden meine Eltern in der Schule vorstellig und verlangten, dass die beiden Jungen getrennt werden müssten. Aber das war leichter gesagt als getan in dieser kleinen Gemeinde. Im Grunde hätten sie damals schon die Schrift an der Wand sehen und Stephen zurück nach London gehen lassen müssen. Aber wie ich schon sagte, waren sie sehr beschäftigt und hielten das alles für Dumme-Jungen-Streiche. Sie waren sogar froh, dass Stephen jetzt einen Freund hatte, und hofften, es würde sich alles von selbst regeln.

Die Situation führte schließlich, geradezu unvermeidlich, zum Tod dieses Lehrers. Major Philip Alden stammte aus Moxham Heath. Er hatte auf den Falkland-Inseln gekämpft, nach seiner ehrenhaften Entlassung aus der Armee hatte er sich zum Lehrer ausbilden lassen und ein paar Jahre in Trowbridge gearbeitet, ehe er sich auf die Stelle an der Grundschule in Moxham Heath bewarb. Er war der stellvertretende Schulleiter, er hatte es zu etwas gebracht, er war Anfang sechzig, ein bisschen verschroben und genau der Typ, den man in einem kleinen Dorf in Wiltshire erwarten konnte. Ein begeisterter Cricket-Fan. Vorsitzender des Schach-Clubs. In seinem Arbeitszimmer stand eine Büste von Cicero. Eine sehr solide Arbeit aus Marmor, ich glaube, er hatte sie von seinem Vater geerbt.

Philip Alden war ein echter Vertreter der alten Schule. Er glaubte – was angesichts seiner militärischen Vergangenheit nicht weiter erstaunlich war – an Disziplin und bestrafte Kinder, die nicht ordentlich arbeiteten oder den Unterricht störten, mit aller Härte. Es dauerte nicht lange, bis er Stephen und Wayne ins Visier nahm. Im Frühjahr spitzten die Dinge sich zu. Stephen und Wayne wurden beschuldigt, ein paar Bücher in der Bibliothek beschädigt – Seiten herausgerissen und Obszönitäten hineingekritzelt – zu haben. Sie bestritten, die Untat begangen zu haben, aber er bestrafte sie, indem er sie von einem Ausflug nach Bath ausschloss. Ich weiß, das klingt alles schrecklich trivial, wenn ich Ihnen das so beschreibe, aber am Ende war es durchaus nicht so.

Wayne und Stephen beschlossen, sich mit einem der ältesten Schülerstreiche zu rächen, die man so kennt. Natürlich kam die Idee von Wayne. Sie schlichen sich ins Arbeitszimmer des Lehrers und stellten die Cicero-Büste auf die angelehnte Tür. Wie sie das Ding da raufgekriegt haben, weiß nur der Himmel, denn es wog einen halben Zentner. Aber wegen der hohen Bücherregale hatte der Lehrer eine Trittleiter in seinem Arbeitszimmer und man kann davon ausgehen, dass sie die benutzt haben. Später haben sie gesagt, es sei nur ein Spaß gewesen, und sie hätten gar nicht die Absicht gehabt, jemandem wehzutun, aber im Endeffekt war es so, dass Major Alden den Raum betrat und die Marmorbüste ihm auf den Kopf fiel. Er erlitt einen Schädelbasisbruch und ist am nächsten Tag gestorben.

Die beiden Jungen kamen vors Jugendgericht und wurden wegen Totschlags verurteilt. Nach englischem Recht waren sie strafmündig, sie hatten einen Kriegshelden umgebracht und deshalb war es keine Überraschung, dass sie schuldig gesprochen und zu fünf und zehn Jahren Gefängnis in verschiedenen Strafanstalten verurteilt wurden. Stephens Rechtsanwälten gelang der Nachweis, dass er von dem Älteren beeinflusst worden war, deshalb fiel seine Strafe geringer aus. Was meine Familie anging, machte das aber keinen Unterschied. Die Namen der beiden Jungen wurden veröffentlicht, sobald der Prozess zu Ende war, und die Presse fiel über uns her.

Für meine Eltern war das eine Katastrophe. Amerika konnten sie jetzt vergessen. Red Button ging innerhalb von Tagen bankrott. Man kann keine Kindersachen verkaufen, wenn das eigene Kind im Gefängnis sitzt. Ihre politischen Freunde wollten natürlich nichts mehr von ihnen wissen, sondern machten sich aus dem Staub. Der Druck war riesig, und ein Jahr später haben sie sich getrennt. Mein Vater lebt jetzt auf den Jungfern-Inseln. Meine Mutter ging zurück nach Vancouver. Sie war ja Kanadierin. Stephen war vier Jahre in einer Jugendstrafanstalt in Suffolk, und als er entlassen wurde, erhielt er die Erlaubnis, zu ihr nach Kanada zu ziehen. Sie leben jetzt beide in Vancouver.«

Es folgte ein langes Schweigen. Hawthorne wirkte ziemlich bedrückt. Er schien verlegener, als ich ihn je gesehen hatte. Aber er hatte ja selbst einen dreizehnjährigen Sohn, und die Geschichte hatte ihn sicher getroffen. »Haben Sie Stephen seither gesehen?«, fragte er.

Longhurst schüttelte den Kopf. »Nicht so oft, wie ich gern möchte. Vor ein paar Jahren bin ich mit meiner Familie zu Weihnachten dort gewesen, aber es war nicht einfach, meinen Töchtern zu erklären, dass ihr Onkel mal jemanden umgebracht hat. Meine Mutter hat sich eine neue Existenz aufgebaut und beschlossen, dass sie ohne meinen Vater und mich leben muss. Ich finde das traurig, aber ich verstehe es auch, irgendwie.«

»Wissen Sie, wie Harriet Throsby auf die Idee kam, das Buch über Ihre Familie zu schreiben?«

»Ja, das weiß ich tatsächlich. Sie war damals Gerichtsreporterin für eine Zeitung in Bristol. Aber sie kannte jemanden, der in Moxham Heath wohnte.«

»War das Frank Heywood?«

»Ja, das ist richtig. Er war der Theaterkritiker der Zeitung in Bristol. Sie übernahm seinen Job, als er ein paar Jahre später starb. Er hat ihr eine Menge über Moxham erzählt, er kannte ja die Leute persönlich. Sein Verhalten werde ich ihm nie verzeihen. Bad Boys ist eine totale Verzerrung der Wahrheit. Meine Eltern wurden verleumdet und als die eigentlichen Schurken in der Angelegenheit dargestellt. Dabei hat das Gericht keinen Zweifel daran gelassen, dass mein Bruder völlig von diesem Wayne Howard beherrscht wurde. Das zeigt ja auch das unterschiedliche Strafmaß. Aber Throsby hat die Dinge so auf den Kopf gestellt, dass meine Eltern als die Schuldigen am Tod dieses Lehrers dastanden. Sie seien nur an ihrem luxuriösen Lebensstil interessiert gewesen, ließ sie durchblicken. Stephen sei ebenso vernachlässigt wie verwöhnt gewesen. Meine Eltern hätten ihn nicht gewollt und sein kriminelles Verhalten deshalb ignoriert.

Und das war noch nicht alles. Kapitel für Kapitel setzte sie ihre böswilligen Andeutungen fort. Meine Eltern hätten die Dorfbewohner verärgert. Sie seien arrogant und egoistisch gewesen. Sie hätten keinen Respekt vor ihren Nachbarn gehabt. Der Wanderweg, das Dorffest … sie betete all diese Trivialitäten herunter, als ob sie etwas bedeutet hätten. Der Tod von Major Alden erschien quasi wie die logische Schlussfolgerung. Es war eine zynische Hinrichtung. Natürlich war diese Frau schlau genug, alles nur anzudeuten und so zu formulieren, dass sie keine Verleumdungsklage befürchten musste. Meine Eltern waren noch zusammen, als das Buch erschien, und es bestand eine Chance, dass sie die Krise überstehen würden. Diese Chance hat Harriet Throsby zerstört. Ich bin fest überzeugt, dass sie zumindest teilweise schuld war am Zusammenbruch meiner Familie. Man kann sagen, dass ich ihretwegen meine Mutter und meinen Bruder verloren habe.«

Er hob die Hände mit gespreizten Fingern, um zu zeigen, dass er nichts mehr zu sagen hätte. »Ich habe diese Frau gehasst. Das will ich nicht leugnen. Hass gehört normalerweise nicht zu den Emotionen, die ich unterstütze, aber ich glaube, dass Harriet Throsby es genossen hat, andere zu kränken. Sie hat einen tragischen Unfall, einen missglückten kindischen Streich zu einem Verbrechen aufgebläht, um Geld damit zu verdienen. Sie hat die Wahrheit verzerrt, um Bücher damit zu verkaufen. Ich weiß nicht, wie sie damit leben konnte, und ich würde fast sagen, dass derjenige, der sie getötet hat, der Welt damit einen Gefallen getan hat.«

Zum ersten Mal lächelte er. Aber es lag keine Wärme in diesem Lächeln. »Ich weiß, dass ich mich in Ihren Augen damit äußerst verdächtig gemacht habe«, sagte er. »Wollen Sie jetzt wissen, wo ich zum Zeitpunkt ihres Todes gewesen bin? Ich glaube, die Polizei geht davon aus, dass es am Mittwochmorgen um zehn war.«

»Es wäre sicher nützlich, wenn Sie uns das sagen könnten«, bestätigte Hawthorne.

»Ich bin um halb zehn im Vaudeville gewesen. Ich musste ein paar Unterlagen prüfen, die Ahmet dort hinterlegt hatte. Er hatte sich in einer der Garderoben ein provisorisches Büro eingerichtet. Kurz vor halb elf war ich dann hier.«

»Dann waren Sie ja ziemlich lange im Theater.«

»Eigentlich nicht. Nur etwa vierzig Minuten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Portier mich gesehen hat, als ich das Gebäude verlassen habe.«

»Haben Sie sich im Besucherverzeichnis eingetragen?«

Longhurst versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube nicht. Der Kugelschreiber war leer. Aber Sie können sich ja erkundigen. Ich habe keinen Versuch gemacht, meine Anwesenheit zu verheimlichen.«

»Vielen Dank, Mr Longhurst. Sie waren sehr offen bei unserem Gespräch. Es tut mir leid, dass wir das alles noch einmal mit Ihnen durchgehen mussten.«

Es war sehr selten, dass sich Hawthorne für irgendetwas entschuldigte, und sobald wir wieder auf der Straße standen, fragte ich: »Haben Sie ihm geglaubt?«

Wir gingen am Queen Square entlang, der einen privaten Garten umschließt. Die Sonne schien immer noch und die Bäume blühten, aber das half mir auch nicht weiter. Hawthorne war tief in Gedanken versunken. »Was meinen Sie? Was genau soll ich ihm geglaubt haben?«

Warum war er bloß wieder so sperrig? »Bisher«, sagte ich, »haben wir angenommen, dass der Dolch während oder nach der Party, in der Nacht aus dem Green Room entwendet wurde. Aber jetzt hat sich gezeigt, dass Longhurst ihn sich auch am nächsten Morgen geschnappt haben könnte.«

»Ich habe überhaupt nichts angenommen«, behauptete Hawthorne.

Was ich ignorierte. »Anderthalb Stunden hätten völlig ausgereicht, um nach Little Venice zu fahren, Harriet Throsby abzustechen und dann ins Büro zu fahren.«

»Blutbesudelt von oben bis unten?«

»Er hätte einen Mantel angehabt haben können.«

»Aber warum hätte er Sie belasten sollen?«

»Um den Verdacht von sich abzulenken? Außerdem geht einer seiner Kunden bankrott. Vielleicht glaubt er, dass mein Stück daran schuld ist?«

Hawthorne blieb stehen. »Es ist zwar möglich, dass Longhurst den Dolch aus dem Theater mitgenommen hat«, sagte er. »Aber dann gibt es drei Fragen, die man beantworten muss. Woher wusste er, dass er da ist? Und wenn er ihn gefunden hat, woher wusste er, dass Ihre Fingerabdrücke darauf sind?«

»Und die dritte Frage?«

»Woher hatte er das Haar von Ihnen, das an der Leiche gefunden wurde?«

Das stimmte. »Longhurst ist nie auch nur in meiner Nähe gewesen«, gab ich zu. »Er hatte keine Chance, eins meiner Haare irgendwo aufzusammeln, falls er mir nicht zum Friseur gefolgt ist. Und ich war seit Wochen nicht mehr beim Friseur.«

Hawthorne überlegte. Vor uns waren jetzt die Hauptstraße und der U-Bahnhof Holborn zu sehen. »Unterstellen wir mal für einen Augenblick, dass die beiden Dinge – der Mord und Ihre Verwicklung in diese Angelegenheit – nichts miteinander zu tun haben«, sagte er. »Nehmen wir an, dass Sie vollkommen irrelevant sind.« 

»Vielen Dank!«

»Dann stehen wir vor folgenden Tatsachen: In Moxham Heath ist ein alter Mann gestorben. Zwei Kinder haben ihn umgebracht. Und Harriet Throsby hat daraus ein Buch gemacht.«

»Sie meinen, es hat jemandem nicht gefallen, was sie geschrieben hat?«

»Was sie geschrieben hat, hat nie jemandem gefallen. Das lag auch in ihrer Absicht. Aber wenn jemand stirbt, kochen die Gefühle schnell über. Man muss sich doch fragen, warum dieses Buch auf ihrem Schreibtisch lag.«

»Bad Boys …«

»Vielleicht wollte sie uns etwas sagen.«

»Wir fahren doch nicht etwa nach Moxham Heath, oder?«

»Tony, alter Sportsfreund! Cara Grunshaw ist uns dicht auf den Fersen. Am Abend des heutigen Tages hat sie bestimmt alles, was sie braucht, um Sie ans Kreuz zu schlagen.«

Eine Stunde später saßen wir im Zug nach Chippenham.