»Mrs Alden kann Sie jetzt nicht empfangen!«
Die Frau, die uns die Tür aufmachte, war klein und energisch. Ihr Akzent klang osteuropäisch. Sie hatte einen dunklen Teint und streng zurückgebundene Haare. Sie trug eine Art Uniformbluse mit einer angesteckten Uhr auf der linken Seite, was sie aussehen ließ wie eine Krankenschwester. Dabei hatte sie schon zu erkennen gegeben, dass sie nur eine private Pflegekraft war. Hawthorne sagte ihr noch einmal, wer wir waren und was wir wollten, aber das interessierte sie gar nicht.
»Mrs Alden muss jetzt ihren Mittagsschlaf halten.«
»Wir werden sie nicht lange aufhalten. Es ist sehr wichtig. Es geht um ihren Ehemann, Major Alden.«
»Sie will nicht über ihn reden.«
Glebe Cottage war eins von drei ehemaligen Armenhäusern, die Wand an Wand an der Hauptstraße standen wie eine Theaterkulisse. Die Dächer waren bucklig, die Fenster schief und alles an ihnen schien nur von halber Größe. Wenn man sie noch etwas weiter geschrumpft hätte, hätte man sie im Andenkenladen verkaufen können als Idealbild des Wiltshire Cottage.
Die Pflegerin wollte uns die Tür vor der Nase zuschlagen, aber dann sah man hinter ihr eine Bewegung. Rosemary Alden hatte sich persönlich herbeigeschleppt. Sie stützte sich auf einen Krückstock. »Wer ist denn da?«, fragte sie.
»Sie wollen über Major Alden mit Ihnen reden«, sagte die Pflegerin.
»Was ist denn mit ihm?«
Hawthorne hätte das sicher gern selbst erklärt, aber die Pflegerin ließ das nicht zu. »Sie stellen Fragen.«
»Was denn für Fragen?«
»Ich habe ihnen gesagt, dass sie gehen sollen.«
»Nein, Tara. Lass sie hereinkommen.«
Die Pflegerin zögerte. Sie gehorchte nur ungern, aber in der Stimme der alten Dame hatte eine Festigkeit gelegen, die es ihr wohl geraten sein ließ, sich zu fügen. Auch ich hatte diese stählerne Härte gehört, die einigermaßen erstaunlich war, wenn man in Betracht zog, dass uns Mrs Alden ja gar nicht kannte. Trotzig trat Tara beiseite. Wir passierten einen Flur, der nicht viel größer war als der Fußabtreter mit dem Willkommensgruß, und gelangten bereits mit dem nächsten Schritt in ein fast allzu gemütliches kleines Wohnzimmer.
Rosemary Alden setzte sich in einen hohen Ohrensessel. Den Stock stellte sie vorsichtig an die Lehne. Ihre Person war von allzu viel Möbeln und Krimskrams umgeben, so als hätte man drei verschiedene Haushalte in dieses Häuschen gekippt. Überall standen Erinnerungsstücke und Nippes: auf dem Kaminsims, den Fensterbrettern und Ziertischchen, die offenbar keinen anderen Zweck hatten, als diese Dinge zu zeigen. Viele davon hatten mit der Jagd zu tun und erinnerten mich daran, was John Lamprey in Moxham Hall über den Major gesagt hatte: ein leidenschaftlicher Anhänger der Fuchsjagd. Nun, dafür gab es tatsächlich Beweise. Ein silberner Pokal mit einem Steigbügel auf dem Kaminsims. Ein Fuchs aus Porzellan in einem grellroten Reitdress, eine Reitgerte, Kissen mit gestickten Beagles. Zahlreiche Fotos von Philip Alden zu Pferde, umgeben von Gleichgesinnten.
Rosemarys eigenes Leben – oder was davon übrig war – schien weniger auffällig. Sie liebte Bücher, und zwar keine Taschenbücher, sondern kleine, ledergebundene Exemplare, die womöglich auch Erbstücke sein mochten. Sie sammelte silberne Kästchen, Kristallkrüge, Porzellantiere, Tänzerinnen aus Glas. Auf dem Tisch neben ihr stand eine Schale mit Hyazinthen. Das waren so ziemlich die schlimmsten Blumen für diesen engen Raum, denn von ihrem süßlichen Duft konnte einem fast schlecht werden.
Und was ließ sich von der Bewohnerin selbst sagen? Sie musste ungefähr siebzig sein, hätte aber auch zehn Jahre älter sein können. Das Alter hatte sie schrumpfen lassen, ihre Arme und Schultern zusammengezogen und am Hals die Sehnen hervortreten lassen. Es ging ihr nicht gut. Sie konnte kaum laufen, und der Schlaganfall hatte ihr halbes Gesicht gelähmt. Das Auge auf der betroffenen Seite stand heraus wie eine gläserne Kugel. Sie trug ein knöchellanges Kleid mit einem eleganten Blumenmuster, Ohrclips und ein Perlenhalsband. Ihr Haar war frisch gebürstet und ihr Make-up perfekt. All dies war vermutlich das Werk der Pflegerin, nahm ich an. Mrs Alden sah aus, als ob sie zu Freunden zum Tee oder Bridge gehen wollte, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie das jemals tat. Dieses Haus hier war ihre ganze Welt. Sie lebte die Illusion eines Lebens.
»Du kannst dich zurückziehen, Tara.«
»Sind Sie sicher, Mrs Alden?«
»Um Himmels willen, Mädchen, ich kann sehr gut auf mich selber aufpassen.«
»Ihr Abendessen steht schon im Ofen, Mrs Alden.«
»Ich weiß, ich weiß. Danke, Tara.« Es war kein wirklicher Dank, sondern eine Verabschiedung.
Tara war überhaupt nicht zufrieden, aber sie hütete sich, einen Streit anzufangen. Sie griff nach ihrer wattierten Jacke, die auf einem Stuhl lag, und ging. Niemand sagte etwas, bevor wir die Haustür ins Schloss fallen hörten. Mrs Alden musterte uns mit dem vorstehenden rechten Auge.
»Ich hätte gern einen Whisky«, erklärte sie. »Da drüben in der Ecke steht eine Flasche Dalwhinnie. Zwei Fingerbreit bitte und einen Spritzer Wasser, wenn’s recht ist.«
Tatsächlich stand in der Ecke ein Getränkewagen mit zahlreichen Flaschen. Ich fand den Whisky und goss etwas davon in ein schweres Kristallglas, dann fügte ich Wasser aus einer Karaffe hinzu und brachte ihn ihr.
»Tara mag es nicht, wenn ich trinke«, sagte die Hausherrin. »Der Doktor behauptet, es würde mich umbringen, aber der ist ein verdammter Idiot. Ich bin achtundsiebzig, und wie Sie sehen, sterbe ich Zentimeter für Zentimeter. Was macht da schon ein Glas Whisky?« Ihre Hand zitterte, als sie das Glas an die Lippen hob. Sie trank und schluckte mit einer gewissen Mühe. »Sie wollen mit mir über Philip reden?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Warum? Sie haben zu Tara gesagt, dass Sie ein Detektiv wären. Sie sehen gar nicht so aus. Sie sehen eher wie ein Bestatter aus. Ermitteln Sie gegen mich?«
Die Frage erschien etwas merkwürdig, aber Hawthorne ließ sich nicht irritieren. »Nein. Wir ermitteln im Fall eines Todes in London. Wir vermuten, dass es einen Zusammenhang mit den Ereignissen hier im Dorf gibt.«
»Um wessen Tod geht es denn?«
»Es geht um eine Frau namens Harriet Throsby.«
»Ich erinnere mich. Sie ist vor einiger Zeit hier gewesen. Sie wollte ein Buch über die Dinge schreiben, die in der Schule passiert sind. Ich habe es nie gelesen.«
»Es scheint, dass vieles von dem, was sie geschrieben hat, falsch ist.«
»Natürlich war alles falsch. Sie hatte keine Ahnung.« Mrs Alden lachte in sich hinein, aber es bewegte sich dabei nur die Hälfte des Mundes. »Ist das der Grund, weshalb Sie gekommen sind? Weil Sie die Wahrheit wissen wollen?«
»Die Wahrheit kenne ich schon, Mrs Alden, und Sie kennen sie auch. Ich wollte sie nur …« Seine Blicke streiften die Fotos von den vergangenen Fuchsjagden. »Ich wollte sie nur aus erster Hand hören.«
Sie starrte ihn irritiert an. Zumindest mit einem Auge. Das andere blickte irgendwo in die Ferne. »Das klingt ein bisschen unverschämt, Mr …« Ihre Stimme verlor sich. »Wie war doch gleich Ihr Name?«
»Hawthorne.«
»Hawthorne! Woher wollen Sie irgendwas über mich wissen? Sie sind doch gerade erst durch die Tür gekommen.«
Hawthorne antwortete darauf nicht.
Mrs Alden hielt ihr Glas schräg und trank es leer. Dann drückte sie es mir in die Hand. »Ich nehme noch einen«, sagte sie.
»Sind Sie sicher?« Ich sagte das nicht etwa laut, aber meine Haltung drückte wohl etwas Ähnliches aus, denn sie warf mir einen scharfen Blick zu.
»Denken Sie vielleicht, dass ich auf dem Tisch tanze?«, schnappte sie. »Sie können auch einen trinken. Vielleicht schauen Sie dann nicht mehr ganz so jämmerlich.«
Wenn ich sie so reden hörte, konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie sie früher auf den Korridoren der Moxham Heath Primary School als Ehefrau des Stellvertretenden Schulleiters auf Patrouille gegangen war. »Steck das Hemd in die Hose! Ein bisschen mehr Ruhe, bitte! Hier wird nicht herumgerannt!« In meiner Grundschule gab es auch so eine Hausmutter. Sie jagte uns höllische Angst ein.
Ich ging zu dem Servierwägelchen und schenkte ein zweites Glas ein, achtete aber darauf, dass nicht zu viel Whisky dabei war. Es würde Hawthorne bestimmt nicht gefallen, wenn die alte Frau schlappmachte, bevor sie seine Fragen beantwortet hatte. Ich gab ihr das Glas und sie nahm sofort einen herzhaften Schluck – es war eine beträchtliche Leistung angesichts der Tatsache, dass es gerade mal vier Uhr war. Aber ich vermutete, die Tageszeiten hatten keine Bedeutung mehr für Rosemary Alden. Uhren gab es im Wohnzimmer jedenfalls keine, und das war vielleicht Absicht.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen, Mr Hawthorne.« Sie lallte nicht etwa, aber der Alkohol hatte hörbaren Einfluss auf ihre Sprache. Er hatte Hemmungen abgebaut, und sie war kühner geworden. »Diese beiden Jungs hatten die Strafe verdient. Sie haben sich in Philips Arbeitszimmer geschlichen, diese Marmorbüste da oben hingestellt und dafür gesorgt, dass sie ihm auf den Kopf fiel, als er hineinwollte. Sie hat seine Schädeldecke zertrümmert, er fiel ins Koma, und am nächsten Tag ist er gestorben.« Danach brauchte sie einen Moment, um sich zu erholen. »Ich habe immer gesagt, er soll das blöde Ding wegschmeißen. Er interessierte sich überhaupt nicht für Cicero. Er dachte, es würde die Kinder beeindrucken.«
»Was war Ihr Mann für ein Mensch, Mrs Alden?«
»Er war nicht einfach.« Sie ließ den Whisky in ihrem Glas kreisen und überlegte, ob sie ihn austrinken sollte. »Er brauchte lange, um zu sich selbst zu finden, als er aus der Armee kam. Er vermisste die Kameradschaft. Er wollte nach Wiltshire zurück, weil er da geboren war. Er war in Corsham aufgewachsen. Seine Eltern hatten das Herrenhaus da, aber ihr Geld hatten sie längst verloren, als ich ihn kennenlernte. Wir waren beide so arm wie Kirchenmäuse. Er hatte seine Pension als Major, aber die reichte nicht weit. Wir hatten nicht mal ein eigenes Haus.«
»Aber jetzt haben Sie eins. Und Sie brauchen nicht einmal Miete zu zahlen.«
Sie zögerte. »Ja, die Schule war äußerst großzügig mir gegenüber.«
»Warum ist Ihr Mann Lehrer geworden?«
»Er brauchte einen Job, und wir brauchten eine Wohnung. Ich habe es vorgeschlagen. Wenn Philip einen Job in einem Internat gekriegt hätte, wäre die Dienstwohnung gleich inklusive gewesen, und er hat sich bei verschiedenen privaten Schulen hier in der Gegend beworben. Aber sie wollten ihn leider nicht. Also hat er eine Lehrerausbildung gemacht, und nach ein paar Jahren in Trowbridge – eine furchtbare Stadt – ist er schließlich in Moxham gelandet. Am Anfang haben wir eine Wohnung gemietet, aber als er dann Stellvertretender Schulleiter wurde, hat man uns Glebe Cottage gegeben. Und seitdem wohne ich hier.«
»War er glücklich in Moxham Heath?«
»Oh, ja. Er hat sich schnell eingelebt. Er wurde ein recht bekannter Mann hier im Dorf. Er hat gern geangelt.«
»Und gejagt.« So, wie Hawthorne das sagte, klang es wie eine Anklage.
»Nun ja, Sie sehen schon hier im Zimmer, dass er die Fuchsjagd geliebt hat. Allerdings konnte er sich den Aufwand kaum leisten. Man sagt ja immer, die Jagd sei nur was für reiche Leute. Philip ist bei der Avon Vale Hunt mitgeritten. Manchmal hat er ein Pferd gemietet, aber der Master of Hounds mochte ihn und hat ihm oft seinen eigenen Braunen geliehen. Philip hatte immer Leute, die sich um ihn kümmerten, und die Freunde von der Jagdgesellschaft waren besonders großzügig … das war fast so wie in der Armee.«
Sie zeigte auf ein Schwarzweißfoto in einem Silberrahmen, das einen Jungen mit einem Pferd zeigte. »Das ist Philip mit zwölf. Er ist damals schon mit seinem Vater zur Jagd geritten. In Corsham. Er hat ständig davon erzählt.« Sie seufzte. »Er war nie glücklicher, als wenn er an einem frostklaren Morgen mit seinen Freunden da draußen war, einen Feldweg hinunterritt und dann querfeldein jagte, über Hecken und Bäche setzte und seinen Hals riskierte. Da war er so richtig lebendig. Das war alles, worauf er sich freute.«
»Dann hat er Stephen Longhurst wahrscheinlich nicht besonders gemocht.«
Mrs Alden erstarrte. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Nun ja, seine Eltern standen der Labour-Regierung nahe. Sie wollten die Fuchsjagd verbieten.«
»Dafür konnte der Junge ja nichts.«
»Vielleicht hat Ihr Gatte das anders gesehen?«
»Philip mochte die Eltern nicht. Niemand hat sie gemocht!« Sie hatte die Worte, ohne nachzudenken, hervorgestoßen. Dann beruhigte sie sich wieder. »Es war alles sehr unangenehm. In den Zeitungen und im Fernsehen gab es alle möglichen Diskussionen. Wir hatten sogar Saboteure im Dorf, die auf ihren Motorrädern herumfuhren, um die Hunde von der Spur abzubringen. Es gab Vandalismus … Graffiti … ein Pferd ist verletzt worden. Und die lautesten Schreihälse waren natürlich unsere zwei Neubürger, Mr und Mrs Longhurst. Sie hatten sich hier eingekauft, aber sie hatten keinerlei Verständnis für unser Brauchtum. Sie hatten sich wie Schlangen hier eingenistet. Das hat Philip immer gesagt.«
»Dann ist es Ihnen sicher sehr unangenehm, hier zu wohnen«, sagte Hawthorne. »Sie sagen, dass die Schule sehr großzügig war, aber Sie wissen doch sicher, dass es Trevor und Annabel Longhurst waren, die das Arrangement finanziert haben.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie sind keine gute Lügnerin, Mrs Alden.«
»Wie können Sie es wagen …!«
»Warum sagen Sie nicht einfach die Wahrheit? Die Longhursts haben eine Stiftung geschaffen, damit Sie hier wohnen können. Natürlich haben Sie das gewusst.«
Sie trank ihr Glas aus. »Ich wusste nicht, wo ich hinsollte.«
Hawthorne wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Dann sagte er: »Wollen Sie es nicht endlich loswerden, Mrs Alden? Ist das nicht der Grund, warum Sie uns hereingelassen haben? Seit siebzehn Jahren denken Sie darüber nach. Aber so ist das mit den Sünden der Vergangenheit. Sie lassen einen nicht ruhen. Und jetzt sitzen Sie hier und reden davon, dass Sie sterben müssen, und machen sich Gedanken darüber, dass jemand gegen Sie ermitteln könnte.«
Sie streckte ihr Glas aus: »Noch einen!«
»Ich glaube, Sie haben genug«, sagte Hawthorne milde und nahm ihr das Glas aus der Hand. »Ich sag Ihnen jetzt mal, was ich denke. In erster Linie glaube ich, dass sich Major Alden geirrt hat. Diese Geschichte mit den Büchern in der Bibliothek … die herausgerissenen Seiten und all das. Stephen Longhurst hätte so etwas nie getan. Das ist eins der wenigen Dinge, die wir über ihn wissen: Er liebte Bücher. Wenn er und Wayne Ihrem Mann einen Streich spielen wollten, dann nicht wegen dieser Klassenfahrt nach Bath, sondern weil er sie wegen etwas beschuldigt hatte, was sie nicht getan hatten.«
»Das ist doch albern. Woher wollen Sie das wissen? Außerdem war das bloß ein kleiner Zwischenfall, der lange zurückliegt.«
»Ein Zwischenfall, der Ihren Mann das Leben gekostet hat. Das werden Sie wohl nicht bestreiten.«
»Ich werde mich dazu nicht äußern.«
»Dann sage ich Ihnen, dass es so war. Denn da ist noch etwas: Wayne war der ältere von den beiden Jungen. Er kam aus einem sozialen Brennpunkt, und jeder hat angenommen, dass er für die bösen Taten verantwortlich war. Er war der Anführer. Aber in Wirklichkeit war es genau andersrum. Wayne war naiv, und Stephen war derjenige, der bestimmt hat.«
»Warum erzählen Sie mir das? Was hat das noch für eine Bedeutung?«
»Weil Wayne zehn Jahre hinter Gitter musste und Stephen nur fünf.« Hawthorne fixierte sie mit seinem Blick und beugte sich etwas vor. »Haben Sie vor Gericht ausgesagt, Mrs Alden?«
Die alte Frau zuckte zusammen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, und das Make-up sah aus, als wäre es auf Pergament aufgetragen. Schließlich sagte sie. »Ja, ich habe eine Aussage gemacht. Ja.«
»Es war eine Falschaussage, nicht wahr? Weil die Rechtsanwälte der Familie Longhurst Sie bearbeitet hatten. Sie sollten aussagen, dass Wayne der Rädelsführer bei allem gewesen ist und Stephen ein Unschuldslamm. Sie haben deren Darstellung der Ereignisse unterstützt, und dieses Cottage war die Belohnung dafür. Ein Haus, in dem Sie leben konnten.«
»Nein!« Mrs Alden saß plötzlich senkrecht in ihrem Sessel, als wäre es der elektrische Stuhl und sie solle exekutiert werden. »Raus hier!«, wimmerte sie mit brechender Stimme. »Gehen Sie!«
»Ich werde Sie erst in Ruhe lassen, wenn Sie mir gesagt haben, was ich wissen muss.«
»Tara …!«
»Die haben Sie doch weggeschickt.«
Hawthorne war gnadenlos. Es störte ihn überhaupt nicht, dass die Frau, die er da verhörte, über siebzig und krank war. Ich hatte die größte Sorge, dass Rosemary Alden einen weiteren Schlaganfall erleiden und vor unseren Augen sterben würde. Für Cara Grunshaw wäre das ein gefundenes Fressen: eine weitere Tote, fünf Minuten nachdem ich das Zimmer betreten hatte.
»Wer hat die Bücher in der Bibliothek zerrissen?«, fragte Hawthorne.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber es waren nicht Wayne oder Stephen?«
»Ich weiß nicht, wer es war!« Sie rang um Luft. »Und Philip wusste es auch nicht …«
Und dann endlich kam das Geständnis: »Philip wusste, dass sie es nicht gewesen sind. Das hat er mir selbst gesagt. Er konnte die wahren Übeltäter nicht ausfindig machen. Er hat beschlossen, Stephen und Wayne zu Sündenböcken zu machen, weil …«
»Und diese andere Sache?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Die Rechtsanwälte.«
Sie nickte. Sie war bereit, alles zuzugeben, wenn Hawthorne nur endlich verschwand. »Einer der Rechtsanwälte hat mich besucht. Ein schmieriger junger Mann mit Pomade im Haar. Seinen Namen hat er mir nicht gesagt. Er hat gesagt, er vertritt die Familie und er könne mir vielleicht helfen, wenn ich ihm helfen würde. Ich habe ausgesagt, dass Stephen ein braver Junge war, der gar nicht wusste, was er da anrichtete, und dass der andere Junge ihn angestiftet hat. Ich habe nicht gelogen. Es war nicht meine Lüge. Ich brauchte bloß das zu unterstützen, was die Familie als Wahrheit verbreitete.«
»Um einen Meineid zu schwören.«
»Wenn Sie das so nennen wollen. Was sollte ich denn anderes tun? Ich war verzweifelt. Ich hätte ausziehen müssen. Ich hatte keinen Job und kein Einkommen und wusste nicht, wo ich hinsollte. Philip lag auf dem Friedhof, und niemand hat sich um mich gekümmert.«
Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem gesunden Auge.
Hawthorne stand auf. »Wir werden Sie jetzt verlassen, Mrs Alden. Es war richtig, dass Sie uns die Wahrheit gesagt haben.«
»Werde ich Glebe Cottage verlassen müssen?«
»Nein. Sie können hierbleiben. Deswegen waren wir nicht hier.«
Er war schon auf dem Weg zur Tür, aber sie stoppte ihn. »Darf ich Sie um etwas bitten, Mr Hawthorne? Wenn Sie je mit diesen beiden Jungen zusammentreffen, können Sie ihnen sagen, dass es mir leidtut? Ich weiß, dass es falsch war, was ich getan habe. Keiner von beiden hätte ins Gefängnis geschickt werden dürfen. Es war ein Streich. Können Sie ihnen sagen, wie leid es mir tut?«
Hawthorne blieb stehen. »Ich glaube, dafür ist es ein bisschen zu spät, Schätzchen.«
Er verließ das Haus. Ich warf ihr einen halb entschuldigenden Blick zu, zuckte die Schultern und folgte ihm.