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Die gestrichelte Linie

Danach habe ich Hawthorne eine ganze Weile nicht gesehen. Nach allem, was passiert war, brauchte ich eine Pause. Außerdem schuldete ich Jill eine Entschuldigung für die Aufregung. Wir quartierten uns in einem Hotel an der Côte d’Azur ein, in einer kleinen Stadt namens Saint-Paul-de-Vence. Wir verbrachten zehn Tage im Sonnenschein, gingen wandern und schwimmen, besuchten Museen und tranken Rosé an einem staubigen Platz, wo die Bewohner Boule spielten.

Tirian war verhaftet worden, was dazu führte, dass Mindgame sofort abgesetzt werden musste. Aber ich wollte das alles sowieso hinter mir lassen. Ich war zutiefst traurig. Das Scheitern meines Stücks war ein Grund dafür, aber der Gedanke an Tirian war noch schlimmer. Normalerweise habe ich wenig Mitleid mit Mördern, aber er hatte wirklich nie eine Chance gehabt. Die Rechtsanwälte der Familie Longhurst hatten ihn fertiggemacht und in ein System getrieben, das nicht darauf angelegt war, ihm zu helfen. Ich habe viele Jugendstrafanstalten besucht und meine Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, junge Leute ins Gefängnis zu stecken, sind dabei nur gewachsen. Die Kosten sind enorm und die Rückfallquoten hoch. Es versteht sich von selbst, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die sowohl für die Öffentlichkeit als auch für sich selbst eine Gefahr darstellen. Ich habe etliche davon kennengelernt. Sie waren ein Grund dafür, warum ich A Handbag geschrieben habe. Aber die Mehrheit von ihnen ist seelisch gestört und nicht unbedingt kriminell, sie brauchen eher Hilfe als Strafe. Egal, was in den Zeitungen steht oder im Titel von Harriets Buch: Alle jugendlichen Straftäter, die ich kennengelernt habe, waren eher traurig als böse. Es erscheint mir verrückt, dass sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr gefördert und dann dem Erwachsenen-Strafsystem zugeführt werden, das alle Erziehung wieder zerstört. Am Ende sind sie auf das normale Leben nicht vorbereitet – so wie Tirian.

Ich fragte mich, wie Wayne Howard mit seiner neuen Karriere hatte zurechtkommen sollen. Alles an Tirian Kirke – der Akzent, das Motorrad, die Privatschulpolitur – war bloß eine Rolle für ihn. Sein neues Leben war ein Gefängnis für ihn gewesen, aus dem er sich nicht befreien konnte, der Mord an Harriet Throsby war das Ergebnis.

Ich kehrte nach London zurück, erholt und entspannt, und mein Leben fühlte sich wieder normal an. Bloß am Vaudeville, das derzeit ohne Programm war, mochte ich nicht vorbeigehen. Ich kämpfte mit meinem neuen Roman Der Tote in Zimmer 12 und verwechselte ständig Fiktion und Realität. Die fiktive Welt von Tawleigh-on-the Water vermischte sich mit den Problemen, die ich gerade durchlebt hatte. Es gelang mir nicht, einfach in die Fiktion abzutauchen.

In solche Kämpfe verstrickt, saß ich am Schreibtisch, als sich mein Handy mit einer SMS von Hilda Starke meldete. Sie bat mich, noch am selben Nachmittag zu ihr ins Büro zu kommen. Das kam sehr überraschend. Ich traf mich eher selten mit meiner Agentin, und soviel ich wusste, gab es nichts, was wir nicht am Telefon hätten klären können. Aber ihr Büro war in der Nähe der Charing Cross Road, und ich dachte, dass es vielleicht ganz nett sein könnte, in den zwei, drei Antiquariaten herumzustöbern, die es dort immer noch gibt. In der Hoffnung, dass die frische Luft mir beim Nachdenken helfen würde, ging ich zu Fuß.

Hildas Büro war in der Greek Street, über einem italienischen Café, das dort schon immer gewesen war. Ich ging durch den Seiteneingang und eine schmale Treppe hinauf, die auch zu einem Spukhaus gepasst hätte. Die Agentur war sehr erfolgreich und betreute etliche Autoren mit großen Namen, trotzdem wirkte sie altmodisch und sehr beengt. Ein junger Mann saß hinter dem antiken Empfangstisch und begrüßte mich mit einem Lächeln.

»Ich bin mit Hilda Starke verabredet«, sagte ich.

»Wie ist bitte Ihr Name?«

Sie war erst seit vier Jahren meine Agentin. Ich sagte ihm, wer ich war, und er rief bei ihr an. »Ja«, sagte er. »Sie erwartet Sie. Sie wissen, wo ihr Büro ist?«

»Ja, ich finde den Weg.«

Als ich in den hinteren Teil des Gebäudes kam, erklang ein Geräusch, das ich bis dahin noch nie gehört hatte: Hilda Starke lachte. Ich glaube, ich habe sie gelegentlich lächeln sehen, wenn sie die Bestsellerlisten studierte, aber meist konzentrierte sie sich auf die Geschäfte. Ich klopfte, dann trat ich ein.

Hilda war nicht allein. Hawthorne saß mit übereinandergeschlagenen Beinen und einer Tasse Kaffee in einem Lehnsessel. Beide trugen dunkle Anzüge, und ich kam mir mit meinem T-Shirt, Jeans und Turnschuhen etwas verlottert vor. Ich brauchte einen Moment, bis mir wieder einfiel, dass Hawthorne jetzt auch von Hilda vertreten wurde. Aber was hatten sie so Dringendes zu besprechen? Und warum brauchten sie mich dabei?

»Gut sehen Sie aus«, sagte Hilda, die selbst eine strahlende Sonnenbräune von ihrem Urlaub in Barbados zur Schau stellte. »Haben Sie Ihr Buch über Alderney schon angefangen?«

»Ich arbeite an Der Tote aus Zimmer 12. Das wissen Sie doch.« Ich setzte mich auf einen freien Stuhl. »Haben Sie sich mein Stück angesehen?«

»Wir hatten Karten für Samstagnachmittag. Ich habe das ganze Büro mitgenommen, aber als wir zum Theater kamen, haben sie gesagt, das Stück sei gerade abgesetzt worden.« Sie schnüffelte indigniert. »Wenigstens unser Geld haben wir wiedergekriegt.«

»Worum geht es denn heute?«, fragte ich etwas gereizt.

Hawthorne warf mir einen prüfenden Blick zu. »Wie läuft’s denn so, Sportsfreund?« Er war auffällig munter. »Ich habe Hilda gerade von dem Mord an Harriet Throsby erzählt.«

»Ja. Wissen Sie eigentlich, dass ich diesmal den Mörder richtig erraten habe?« Ich hatte eigentlich nicht so damit herausplatzen wollen, aber es stimmte. Als wir Tirians Garderobe verließen, hatte ich gesagt: Der hat Harriet Throsby ermordet.

»Na ja«, sagte Hawthorne. »Das haben Sie nur gedacht, weil er sich geweigert hatte, diese Rolle in Ihrem Fernsehspiel zu übernehmen.«

»Ich habe ihm nicht getraut. Und damit hatte ich recht.« Während meines Urlaubs in Frankreich hatte ich über alles noch einmal nachgedacht. »Warum hatten sich eigentlich alle so gegen mich verschworen?«, fragte ich Hawthorne jetzt. »Jordan hat behauptet, ich hätte ihm zugestimmt, als er seine Drohungen gegen Harriet ausstieß. Ewan hat das bestätigt. Olivia hat erklärt, ich hätte ihre Mutter bedroht, und Sky Palmer hat behauptet, ich hätte Harriets Adresse aus einer Zeitschrift gekannt. Dabei war nichts davon wahr!« 

»Das ist doch einfachste Psychologie, Sportsfreund. Alle vier standen irgendwie unter Druck. Olivia hat sich wahrscheinlich Vorwürfe gemacht, weil sie die Besprechung, die ihre Mutter noch gar nicht veröffentlich hatte, gestohlen und an ihre Freundin geschickt hat. Sky hat sich schuldig gefühlt, weil sie den anderen die Rezension gezeigt hat. Ewan hat Jordan verteidigt, und Jordan … nun ja, der hat mit den Drohungen angefangen. Es war bei allen dasselbe: Sie wollten von eigenen Verfehlungen ablenken. Sie haben Sie beschuldigt, damit ich aufhöre, sie zu beschuldigen.«

»Da ist noch etwas«, sagte ich. »Bei der Premiere saß Martin Longhurst direkt hinter mir. Und irgendwann im Lauf des Abends habe ich so einen Stich im Nacken gespürt. Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass er derjenige gewesen sein könnte, der mir dieses Haar ausgerissen hat.«

»Warum haben Sie das nie erwähnt?«

»Ich weiß nicht. Ich war mir nicht sicher …«

»Nun ja, Longhurst hatte nichts mit der Sache zu tun. Vielleicht hatten Sie einfach Lampenfieber.«

»Oder Läuse?«, schlug Hilda vor.

»Nein, ich habe keine Läuse«, erklärte ich wütend.

Hawthorne lächelte. »Auf jeden Fall ist die Sache vorbei, Tony. Aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie heute ohne meine Hilfe wohl nicht hier sitzen würden.«

»Das ist wahr. Sie haben herausgefunden, was wirklich passiert ist. Sie haben mir beigestanden. Ich schulde Ihnen großen Dank«, sagte ich.

Er hüstelte leise. »Genaugenommen schulden Sie mir wohl einiges mehr.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun ja, Sie haben mich mit den Ermittlungen beauftragt. Diesmal habe ich nicht der Polizei geholfen. Sie waren der Kunde. Vier volle Tage habe ich investiert, und Kevin hat auch mitgeholfen.« Er hielt eine Hand hoch, ehe ich protestieren konnte. »Keine Sorge, ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis: Sie kriegen zehn Prozent Rabatt.«

»Hawthorne! Ich kann gar nicht glauben, dass Sie so etwas sagen! Unfassbar!«

»Ich wüsste nicht, warum. Ohne meine Hilfe wären Sie erledigt. Ich habe gerade mit Hilda darüber geredet.«

»Ich glaube, ein Gefängnisaufenthalt, weil Sie eine Kritikerin ermordet haben, hätte Ihrer literarischen Karriere geschadet«, bestätigte Hilda.

Sprachlos starrte ich Hawthorne an. »So steht es also zwischen uns?«, sagte ich. »Sie betrachten mich bloß noch als Ihren Kunden.« 

»Sie waren derjenige, der gesagt hat, er wolle keine Bücher mehr über mich schreiben.«

Plötzlich wusste ich, worauf das alles hinauslaufen sollte.

»Ich habe mit dem Verlag gesprochen«, sagte Hilda. »Über Ihre Entscheidung war man dort recht betrübt, Anthony. Ein perfider Plan hat sich viel besser verkauft als Ihre anderen Bücher, und Sie wissen ja, dass der Verlag am liebsten Serien macht. Hawthorne hat mich gebeten, noch einmal mit dem Verlag zu reden, und ich muss sagen, sie haben ein sehr großzügiges Angebot gemacht.«

»Ein Angebot?«

»Vier weitere Bücher, wenn Sie fertig sind mit dem Alderney-Buch.« Sie zog eine Schublade auf und legte einen Vertragsentwurf auf den Tisch. »Es ist natürlich Ihre Entscheidung, Tony. Ich würde nicht wollen, dass Sie etwas unterschreiben, womit Sie nicht glücklich sind.«

Sie reichte mir den Vertrag, und ich las:

Memorandum of Agreement zwischen Anthony Horowitz und der Verlagsgruppe Penguin Random House über 4 (vier) Romane von jeweils 90000 Wörtern:

HAWTHORNE ERMITTELT (Band 4)

HAWTHORNE (Band 5)

HAWTHORNE (Band 6)

HAWTHORNE (Band 7)

Weiter kam ich nicht. Es folgten noch sechs Seiten kleingedrucktes juristisches Kauderwelsch. Ich weiß nicht, ob es überhaupt Autoren gibt, die diese Verträge verstehen. Aber darum ging es gar nicht. Ich hatte genug gelesen.

»Ich werde nie ein Buch mit dem Titel Hawthorne ermittelt veröffentlichen!«, erklärte ich.

»Das ist ja nur ein Vorschlag.« Hawthorne zuckte die Schultern. »Es ist doch nicht schwer zu schreiben: Die Zahl der Verdächtigen ist nicht groß. Jeder mag das Theater. Was glauben Sie, warum ich am Schluss noch einmal alle auf der Bühne versammelt habe? Das habe ich doch für Sie getan, Sportsfreund. Das war doch ein toller Schluss, genau wie bei Agatha Christie!«

»Das haben Sie für das Buch gemacht?«

»Man tut, was man kann.«

Ich starrte auf den Vertrag. »Wollen Sie mir ernsthaft sagen, dass Sie Hunderte von Pfund für Ihre Ermittlungen von mir verlangen werden, wenn ich diesen Vertrag jetzt nicht unterschreibe?«

»So etwas würde ich niemals tun!« Hawthorne legte die Hand aufs Herz. »Dafür respektiere ich Sie viel zu sehr, Tony. Außerdem sind es nicht Hunderte, sondern Tausende.«

Ich wandte mich an Hilda. »Ich dachte, Sie wären auf meiner Seite.«

»Ich handle in Ihrem besten Interesse«, sagte meine Agentin.

»Sie waren doch dagegen, dass ich diese Serie überhaupt anfange!«

»Aber nein. Ich war nur überrascht, dass Sie mir zuvor nichts gesagt haben. Aber ich kann jetzt schon sehen, dass diese Serie ein Game Changer für Sie werden kann. Dass Sie selbst in den Büchern auftauchen, ist wirklich ungewöhnlich. Die Reaktionen auf Ein perfider Plan waren sehr positiv. Viereinhalb Sterne bei Goodreads und eine tolle Besprechung in der Mail on Sunday.«

»Man muss dem Himmel danken für Kritiker«, sagte Hawthorne.

»Wenn Sie eine Bedenkzeit brauchen, ist das okay. Aber das ist ein fantastisches Angebot – selbst wenn die Honorare sechzig zu vierzig geteilt werden.«

»Fifty-fifty«, sagte ich automatisch.

»Darüber kann man ja reden.«

Ich warf einen Blick auf die Unterlagen in meinem Schoß. Ich wusste, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Aber ein Teil von mir war gar nicht so unglücklich über das Angebot. Es stimmte ja, dass mich Hawthorne gerettet hatte. Und mit jedem Fall kam ich ihm näher, fand immer mehr heraus über seine Geheimnisse. Ich wusste jetzt mehr über Reeth, ich wusste von einer schattenhaften Organisation, von einem Mann namens Morton, von Adoptiveltern, von Roland Hawthorne. Mein ganzes Leben war der Suche nach Geschichten gewidmet. Sollte ich auf diese verzichten?

Ich seufzte und zog meinen Kugelschreiber heraus.

»Na schön«, sagte ich. »Wo muss ich unterschreiben?«