Als Erstes zerdeppere ich ein rohes Ei auf dem Frühstückstisch. Dann werfe ich das Milchkännchen runter. Kein Wunder: Ich habe unter meiner Decke gelegen wie ein Stein unter zwei Metern Erde. Falls tatsächlich Gespenster aus dem Schrank gekommen sind, haben sie mich nicht geweckt. Oder es nicht geschafft. Egal: Dafür bin ich tot. Immer noch. Auch deshalb versuche ich heute Morgen, bewusst alles etwas langsamer zu machen als sonst. Schließlich wird es allmählich Zeit, dass ich etwas ruhiger werde: Das ist eine Pilgerreise, da wird man zu einem weiseren Menschen, oder? Und die hetzen nun mal nicht! Auf dem Plan stehen heute Hagen-Haaspe – neun Kilometer, Schwierigkeitsgrad laut Pilgerführer »mittel« – und Gevelsberg, zehn Kilometer in der Kategorie »mittel bis schwer«. Werd’ die Etappen trotzdem zusammenfassen. Neun Kilometer gehen ja gar nicht!
Der Rucksack ist schnell gepackt, aber wieder habe ich das Gefühl, dass irgendwas fehlt. Kulturbeutel? Als ich ihn aus dem Bad hole, fällt mein Blick auf die Sachen, die ich dort gestern zum Trocknen aufgehängt habe. Ohne durchschlagenden Erfolg, wie sich jetzt zeigt – vielleicht hätte ich die Heizung doch anmachen sollen. Egal: Ins Haus gegenüber gehe ich wie auf Glas. Mit dem Schlüssel in der Hand will meine Gastgeberin, sie heißt Ines Berger, wie ich Zeitungsausschnitten im Hotel inzwischen entnehmen durfte, noch wissen, ob ich was im Gästebuch hinterlassen habe – mit einem Glänzen in den Augen wie bei einem
jungen Mädchen, das sich auf ein Weihnachtsgeschenk freut. Ein Foto darf ich leider nicht von ihr machen. Dass ich nicht darauf bestanden habe, ist eines der wenigen Dinge auf dieser Reise, die ich später wirklich bereue.
Neun Uhr! Die Luft riecht frisch, als würde ich in Island auf einem Gletscher stehen; nachts muss es geregnet haben, aber jetzt leuchtet der Himmel wie eine Flasche Wodka Wick Blau. Auch mein Weg zeigt sich zunächst großzügig: Es geht zurück zur Ruhr; am anderen Ufer dann ein Stück nach Westen und zack – bin ich wieder im Grünen. Auf den Bordstein des Wegs hat jemand mit blauer Farbe »UMARME MICH« geschrieben, ein paar Meter weiter folgt das dazugehörige »BITTE«. Alles in Großbuchstaben, aber trotzdem ganz leise. Wer mag das dahin gemalt haben? Hoffentlich nicht der Typ, der sich die heutige Wegführung ausgedacht hat – über den darf ich mich nämlich wundern: Es geht den Kaisberg rauf und danach gleich wieder runter. Das hätte man vielleicht auch einfacher haben können! Immerhin: Auch Karl der Große soll hier oben vorbeigeschaut haben, bevor er sich die Sigiburg genommen hat. Da will ich natürlich nicht zurückstehen. Und langsam gewinnt der Weg wieder an Kraft: Nach etwa drei Kilometern fällt mir auf, wie leicht mir heute Morgen das Aufbrechen gefallen ist. Nach vieren mache ich mir Gedanken über die Hotelbesitzerin. Mir wird klar, dass sie für vieles steht, was mit Christentum eigentlich gemeint ist. Und frage mich, ob das Bild, das ich von Christen habe, vielleicht doch ein wenig zu sehr von den Medien geprägt ist: Da sieht man in erster Linie evangelikale Spinner, Eiferer und durchgeknallte Fanatiker jeder Kajüte, die ihren Kindern alles verbieten, was die Natur ihnen mit einem fröhlichen Augenzwinkern ins Körbchen gelegt hat; das alles garniert mit bigotten Kirchenfunktionären, denen heiliger Anschein und Karriere wichtiger sind als die Menschen. Aber vielleicht müssen die ja auch heiliger sein als heilig: Wer scharfe Schatten werfen will, braucht nun mal Kanten, denke ich. Vielleicht lassen all diese Überheiligen ja nach Feierabend die Sau raus. Ich will’s jedenfalls hoffen. Zum Glück scheint Berger nicht die einzige richtige Christin hier zu sein: In der Nähe des Friedhofs Vorhalle reißt sich eine Frau ein Bein aus, um mir den Weg zu erklären. Ich habe mich zwar gar nicht verlaufen, höre aber trotzdem geduldig zu und bedanke mich.
Schon fast zehn Kilometer auf dem Tacho. Es ist angenehm kühl, der Himmel immer noch blau wie die Augen von Terence Hill: Was will der Pilger mehr? Hinter Vorhalle wird der Weg schnell wieder schön. Wald! Laut Reiseführer sind die Pfade in diesem Gebiet älter als 150 Jahre. Komisch, wie wenig mir Füße und Rücken heute wehtun. 4,4 km/h – nicht übel! O. K. – ich hatte mir gute zehn Prozent mehr vorgenommen … Aber allmählich kehrt in meine Schritte
irgendwie so etwas wie Ruhe ein. Auch die Gedanken werden flacher und langsamer wie der Atem eines Zen-Meisters, auch sie schreiten mit kleineren Schritten voran. Tatsächlich erinnert mich Gehen plötzlich ein wenig an Luft holen. Ab und zu sprudeln noch ein paar Bilder von meiner Arbeit und dem ganzen Stress zu Hause in mir hoch, aber im Großen und Ganzen nimmt mich allmählich doch eine Art loungige Gelassenheit an die Hand. Ich wundere mich über das, was ich gestern noch für innere Ruhe gehalten habe und bin gespannt auf das, was da noch kommt!
Irgendwann sind allerdings die Muschel-Hinweise, die bisher in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen an den Bäumen geprangt haben, verschwunden. Nicht so schlimm, ich habe ja meinen GPS-Empfänger und eine gute Karte dabei, ich kann mich also gar nicht verlaufen, selbst wenn ich’s versuchen würde. Allerdings scheint nicht alles in mir dieser Ansicht zu sein: Kaum habe ich gemerkt, dass es ein Problem gibt, stellt sich dieser Druck im Kopf wieder ein, mit dem mein Körper in den letzten Monaten auf Stress reagiert hat. Plötzlich wird mir bewusst, dass diese Kopfschmerzen die letzten zwei Tage verschwunden waren. Aha, das war also der Normalzustand? So fühlt sich das an, wenn nichts ist? Nach ein paar Metern fallen mir ein paar hohe, schlanke Bäume auf, deren Kronen sich im Wind hin und her wiegen, als hätten sie sich etwas Wichtiges zu erzählen. In der Nähe entdecke ich eine Bank und beschließe spontan, Mittagspause zu machen. Setze mich, lehne mich zurück und vergesse den Weg. Strecke die Beine aus. Irgendwie könnte ich diesen Bäumen stundenlang zuschauen. Wow.
Was für ein Schock! Eben lenkte ich meine Schritte noch über verwunschene Pfaden entlang von Feldern, Wiesen und Weidezäunen, wie man sie eher im alpinen
Hochgebirge erwarten würde, dann schlägt der Weg einen Haken – und plötzlich befinde ich mich auf einer grauen Straße ohne jegliche Spur einer Bepflanzung. Hagen-Haspe! Mein Gott – ich laufe auf einen ehemaligen Bunker zu. Um den – sagen wir mal: urbanen – Eindruck dieses städtebaulichen Kleinods nicht zu zerstören, haben die Bewohner des Örtchens das Ding bemalt. Aber nicht mit Grünzeug, wie man es anderswo vielleicht machen würde, sondern mit einem Haus, einem Förderturm und irgendwelchen Industrieanlagen. Davor immerhin zwei (echte) Bäume, die sich in dem Gesamtensemble allerdings ausnehmen, als hätte jemand ihre Samen vor Jahren versehentlich da fallen lassen. O. K.: In Haspe lag mal einer der Hagener Richtplätze. Hier warteten Rad und Galgen auf Verurteilte: Solche Orte waren bei den Leuten ja nie sehr beliebt … Kann sich der Charakter eines solchen Platzes bis heute halten? Warum leben Menschen in so einem Ort, wo es doch ganz in der Nähe Kleinode wie Herdecke gibt? Ein paar Meter vor dem Industrie-Bunker finde ich immerhin ein Café, das den schönen Namen »Himmlisch« trägt. Ich werfe meinen Rucksack an die Wand und mich in einen Sessel, der mindestens so bequem ist wie meine Lieblingsjeans, lehne meinen Pilgerstab vorsichtig an den Tisch und bestelle Waffeln mit Sahne und einen Cappuccino. Was für eine Lust, darauf zu warten! Mit stiller Freude lese ich zudem in meinem Pilgerführer, dass der Weg von nun an weitgehend den Höhenlinien folgen soll! Hurra! Waffel essen, weiter! Vor dem Laden sonnt sich meine Kellnerin an einem kleinen Tischchen, auf den kaum ein Aschenbecher passt; sie blinzelt und lächelt mich an, als ich ihr das Geld hinlege.
Hinter Haspe deckt sich die aktuelle Trasse wieder ein kurzes Stück mit dem historischen Wegverlauf. Ich bin also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genau
auf dem Pfad, den Tausende von Pilgern vor mir unter ihren Wanderstab genommen haben. Der Aufstieg dahin ist allerdings ganz schön knackig; endlich hochgeschraubt, bin ich nass wie Froschlaich und leere eine Eineinhalb-Liter-Flasche Mineralwasser fast in einem Zug. Auch danach: von wegen »weitgehend entlang der Höhenlinien«! Hier geht es auf und ab! Mein Weg führt über eine Reihe von Bergen, die nebeneinander liegen wie schlafende Hunde und alle die Namen von Köpfen tragen: Bredder Kopf, Poeter Kopf, Brahms Kopf. Dazwischen geht es immer wieder runter ins Tal. Der »wahre« Jakobsweg läuft längst wieder ein kleines Stück weiter oben. O. K.: Auf diese Weise bleiben mir wenigstens ein paar Höhenmeter erspart; trotzdem möchte ich wissen, was die Leute früher dahin verschlagen hat! Spätestens am Hageböllinger Kopf bin ich schlapp wie ein schlecht gelagerter Fahrradreifen – dabei habe ich da noch den Mühler Kopf und zwei weitere Täler vor mir! Irgendwo finde ich vier Gartenstühle, die jemand über ein paar Bretter miteinander verschraubt hat. Wanderer nimm dir Zeit steht da drauf. Das mach’ ich natürlich gerne! Ein Mülleimer steht leider nicht in der Nähe. Das ist blöd, weil ich seit der letzten Pause die geleerte Wasserflasche mit mir herumschleppe. Na super: Andere Wanderer suchen verzweifelt nach Wasser, ich dagegen nach einem Papierkorb, um endlich dieses doofe Stück Polyethylenterephthalat loszuwerden. Ich bekomme eine düstere Ahnung von dem Bild, das sich dieser junge Engländer in Dortmund wahrscheinlich von mir machen würde …
He, allmählich wird’s jetzt aber wirklich hart. Das viele Auf und Ab zermürbt mich. Der Rucksack drückt, mein Rücken ist völlig vernagelt, ich kann den Kopf kaum noch drehen, irgendjemand hat mir Sand zwischen die Wirbel gestreut. Ich hake nur noch Kilometer
ab. Nur vorwärts, vorwärts, irgendwie. Dann, endlich: Häuser, eine Landstraße, Bürgersteige. Blöd nur: Gevelsberg ist lang wie eine tote Anaconda und offenbar überwiegend von finster dreinblickenden Gestalten bevölkert. Zwei dicke Kinder fragen mich, was ich da mache, aber ich habe keine Kraft zu antworten. Mit der Tanknadel im roten Bereich lasse ich mich auf eine Bank in der Nähe der Post fallen wie ein welkes Blatt. Im Adressteil des Pilgerführers finde ich tatsächlich eine Pilgerherberge – Hurra! Allerdings liegt die – am Hageböllinger Kopf! Raaaah! Ich hätte vor vier Kilometern einfach nur rechts statt geradeaus gehen müssen!
Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich im Himmelreich. Danke, Jakobsweg!
Und jetzt? Meine Füße brennen wie Schweröl. Meine Schultern sind schon längst nicht mehr aus Eiche, sondern aus Presspappe: Zeit für Plan B! Den Notfallplan. Ich werde mir die Stelle für die Fortsetzung der Reise morgen merken und mir ein Taxi zur Pilgerherberge nehmen! »Geh zum Bahnhof«, sage ich mir, da stehen garantiert welche. Schlechte Idee: Der Gevelsberger Hauptbahnhof ist etwa so groß wie eine S-Bahn-Haltestelle in Bottrop-Süd. O. K.: Es gibt einen Taxistand. Aber der ist so leer wie der Raum zwischen Erde und Mond. Ich werde hier sterben. Oder? Ich zücke meinen GPS-Empfänger. Das nächste Hotel liegt unendlich weite 500 Meter von hier. Ich beschließe, es zu nehmen, egal, was es kostet. Immerhin spare ich das Taxi.
Die Alte Redaktion wirkt von außen tatsächlich so unscheinbar wie eine Vorort-Druckerei. Aber wenn Betten drinstehen, könnte sie meinetwegen aussehen wie eine Karstadt-Filiale. »Sind Sie Pilger?« »Würde ich sagen.« Ich klopfe mit dem Wanderstab auf den Boden. Den Hut lasse ich auf, weil ich darunter garantiert aussehe wie ein eingeschäumter Teppich.
Die Frau an der Rezeption, eine junge, aufgeweckte Mittzwanzigerin mit Kurzhaarfrisur und Brille, blickt zwischen mir und einem Bildschirm hin und her. Ich halte mich an meinem Wanderstab fest, um nicht umzufallen. »Normalerweise ist telefonische Anmeldung ja besser, aber jetzt stehen Sie nun mal vor mir …« »Was kostet das denn?«, frage ich. Die Frau lächelt mir zu. Jetzt nehme ich meinen Hut doch ab und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich lächle einfach zurück.
Das Hotel ist so übersichtlich wie ein altes Bergwerk. Lange Flure, diverse Treppen. Meine – sagen wir: Kammer – ist winzig wie ein Baukran-Kommando-stand, aber sehr adrett. Ein Fenster gibt es nicht. Aber eine Heizung, auf der ich meine Sachen trocknen kann! Ich klettere auf die Matratze und versinke darin wie ein rohes Ei in einem schwarzen Tümpel. Gegen sieben Uhr abends weckt mich mein Magen. Ich raffe mich auf; irgendwo in dem Stollensystem finde ich einen Aushang mit dem Menü für heute Abend: Rotbarschfilet an Basmatireis und Blattspinat. Mist – warum habe ich mir im Wildgehege vorhin kein Reh mitgenommen! Ich will einen Grillteller! Blöderweise regnet es draußen inzwischen in Strömen. Ich gehe zur Rezeption, lasse mir dort etwas resigniert einen Hotelstempel in den Pilgerpass drücken, den Weg zum Rotbarschfilet beschreiben – und verlaufe mich. Irgendwann öffne ich eine schwere Tür, hinter der es verdächtig nach Essen riecht – und lande mitten in einem griechischen Grill. Wie in einem dieser Filme, wo man durch einen Kleiderschrank in ein anderes Leben geht … Es duftet nach Fritten und Gyros! An den Nachbartischen sitzen Leute an winzigen Tischen, die sich unter Fastfood und gut gefüllten Biergläsern biegen. Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich im Himmelreich. Danke, Jakobsweg!