1.Wie ich „auf die Gans“ kam – und was Graugänse so besonders macht

Das Almtal lag an diesem Novembertag 2018 im Nebel. Langsam fuhr ich eine Schotterstraße entlang, überquerte eine kleine Brücke und kam schließlich vor dem alten weißen Haus an, an dessen Mauern sich die knorrigen Zweige einer Kletterrose an einem Spalier emporrankten: der Auingerhof in Grünau, im oberösterreichischen Almtal, erbaut 1779. Konrad Lorenz, Nobelpreisträger und einer der Gründerväter der Verhaltensforschung, hatte sich hier niedergelassen und in den Siebzigerjahren seine berühmten Studien rund um die Graugans (Anser anser) durchgeführt.

Und obwohl Lorenz schon lange verstorben ist, verbringen die Graugänse von Grünau ihre Tage immer noch auf der Wiese vor dem Auingerhof. An besagtem Tag 2018 – meinem ersten als Leiterin der Konrad Lorenz Forschungsstelle – waren sie in kleinen Gruppen verstreut, einige lagen näher beieinander, andere weiter voneinander entfernt, und ruhten sich aus. Als ich mich näherte, schauten sie zu mir auf. Die meisten machten ein paar Schritte rückwärts und entfernten sich. Sie rannten nicht weg, aber sie machten sich davon.

Während der ersten Jahre in Grünau stand mein Schreibtisch neben einem der kleinen Fenster des Auingerhofs, durch das ich einen herrlichen Blick auf das Tote Gebirge in der Ferne und die Gänse vor der Tür hatte, die zu Wasser ankamen und abflogen. Ich konnte die Tiere den ganzen Tag über rufen hören, immer wieder brachten mich Ausbrüche von Streitereien und Verfolgungsjagden dazu, vom Bildschirm auf- und aus dem Fenster zu schauen.

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Der Almsee, in Nebel gehüllt, mit Blick auf das Tote Gebirge.

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Rili, ein fünfjähriges Graugans-Männchen, fliegt an der historischen Konrad Lorenz Forschungsstelle am Auingerhof vorbei.

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Sonia Kleindorfer hinter dem Fenster ihres Arbeitszimmers, darunter jene Bank, auf der Konrad Lorenz täglich Platz nahm, um seine Graugänse zu beobachten.

Im Frühling nach meiner Ankunft, nachdem der Schnee geschmolzen war, der blaugrüne Almfluss über seine kiesigen Ufer trat und die Gänsefamilien ankamen, um ihren Nachwuchs aufzuziehen, geschah etwas Bemerkenswertes: An den exakten Tag kann ich mich nicht mehr erinnern, aber das Gefühl werde ich nie vergessen. Wenn ich nun an den Gänsen vorbeiging, wurde ich immer wieder einmal mit Kontaktrufen begrüßt und keines der Tiere bewegte sich mehr weg. Plötzlich näherte sich mir eine Gans, Tumnus, mit ausgestrecktem Hals – dem typischen Gänsegruß –, bevor sie zu ihrem Partner zurückkehrte, um zu fressen. Ich hatte zwar schon eine Saison in Grünau hinter mir, aber so richtig angekommen fühlte ich mich erst jetzt.

Von den alten Ägyptern wurden Gänse – als Begleiter des Gottes Geb – verehrt, sie standen für die Verbundenheit mit der Erde. Vielleicht rührt diese Symbolik von ihrer bemerkenswerten Fähigkeit, weit zu sehen, ihr Gebiet zu verteidigen und die einzelnen Artgenossen in ihrer Umgebung zu erkennen. Und nicht nur das: Wie wir dank unseren Forschungen mittlerweile wissen, können Graugänse auch einzelne Menschen voneinander unterscheiden.

Die Gänse wissen also, wer zur Schar gehört und wer nicht. Aber woher – und warum?

Das ist eine der vielen Fragen, die wir durch unsere Forschungsarbeit an der Konrad Lorenz Forschungsstelle beantworten wollen. Graugänse haben auf den ersten Blick recht widersprüchliche Eigenschaften. Besonders ausgeprägt ist zum Beispiel ihr Charakter – und zwar hat jede Gans ihren ganz eigenen. Diesen ausgeprägten Individualismus kombinieren sie dennoch mit ihrem starken Bewusstsein für die Gemeinschaft. Gänse leben in Scharen, die aus hundert oder mehreren Tausend Individuen bestehen können, und bewegen sich äußerst behände in ihren sozialen Netzwerken. Dazu kommt ihr ausgezeichneter Sehsinn, auf kurze wie auf lange Distanz: Sie erkennen etwa den Unterschied zwischen einem See- und einem Steinadler, die viele Hundert Meter entfernt am Himmel kreisen. Genauso können sie aber auch ihre nächsten Nachbarn voneinander unterscheiden und wissen, in welchem Verhältnis sie zu diesen stehen. Die Gans gilt im Volksmund ja häufig als „dumm“, dabei sind ihre Intelligenz und Lernfähigkeit mittlerweile erwiesen.

Ich werde Ihnen in diesem Buch die Geschichte der sozialen Gans erzählen, die uns in Bezug auf die Bewahrung der Artenvielfalt ein Vorbild sein könnte. Die Tiere sind auf frisches Wasser angewiesen und sorgen durch ihr Knabbern am Gras und die häufige Kotabgabe für ein befestigtes und gesundes Flussufer. Gänse werden von Greifvögeln, Füchsen und Eulen erbeutet und sind somit Bestandteil eines vielfältigen Ökosystems. Vorausgesetzt, wir Menschen jagen und töten nicht all ihre Fressfeinde.

Wir beginnen diese Geschichte der sozialen Gans aber mit einer kleinen Zeitreise. Bis ich nämlich 2018 in Grünau die Bekanntschaft der Graugänse machte, führte mich mein Lebensweg rund um den Globus: von meiner Heimatstadt Philadelphia aus über Tansania, Österreich, Ecuadors Amazonas, die Galapagos-Inseln und Australien schließlich ins oberösterreichische Almtal. Und von hier aus springen wir nun rund dreißig Jahre zurück, an einen gar nicht so weit entfernten Ort.

Die Faszination des Eies, am Neusiedler See wie in Australien

Winden am Neusiedlersee im Burgenland, 1991. Eine junge US-amerikanische Dissertantin düst auf ihrem Moped frühmorgens zum Schilf, um Vögel zu beobachten. Das bin ich, in meiner Wathose, einem für Ornitholog*innen unverzichtbaren Kleidungsstück, welches das lange Stehen im Wasser ermöglicht, ohne nass zu werden. Fünf Jahre lang fahre ich von März bis Juli jeden Tag zu den Brutplätzen des Mariskensängers (Acrocephalus melanopogon), eines recht scheuen Vogels, der im dichten Schilf über flachem Wasser brütet. Ich paddle im Kanu durch den seichten See und suche Nester, baue mir ein Versteck auf, wehre Blutegel und Insekten ab. Die ganze Zeit verhalte ich mich sehr still, mitten im Schilf. Wenn ich daran denke, habe ich immer noch den herrlichen Schlammgeruch von damals in der Nase. Ich stehe stundenlang tief im Wasser, beobachte die Vögel, erst die Eltern beim Brüten, dann die Küken. Beobachte, mache meine Aufzeichnungen und – warte. Manchmal habe ich beim Warten das Gefühl, dass die Zeit gleichzeitig unglaublich langsam und schnell vergeht. Kleines wirkt plötzlich ganz groß, das Surren der Mückenflügel hört sich an wie ein Motor, aber vor mir bewegt sich nichts, außer einer Raupe, die langsam das Schilf anfrisst.

Andere würden vor Langeweile sterben bei so einer Tätigkeit. Ich – zwar studierte Biologin, aber damals nach dem Ausprobieren eines Bürojobs – konnte dagegen mein Glück nicht fassen: Endlich war ich bei der Arbeit wieder im Freien, in der Natur, und dachte mir: That’s exactly what I want to do! Das ist genau das, was ich machen will. Ich hatte es wirklich probiert mit der „Wirtschaftswelt“, in meinem Fall mit ökologischer Wirtschaftsforschung, aber das sollte es einfach nicht sein für mich. Hier, im Schilf, saß ich in meinem Versteck, näherte mich manchmal vorsichtig dem Nest, vermaß Küken und Eier für meine Doktorarbeit – und war glücklich.

Meine Faszination für Eier begann während meiner Beobachtungen und Forschungen für diese Dissertation. Sie spielt im weiteren Verlauf meiner Forschungslaufbahn auch bei den Gänsen eine wichtige Rolle. Vielleicht ist das ein weiblicher Fokus – bekanntlich legen ja Weibchen diese Eier –, aber mir fiel schon damals in den Neunzigerjahren auf, dass Eier bislang in der Verhaltensbiologie völlig außer Acht gelassen worden waren! Zum Beispiel war wenig über die Inkubationstemperatur bekannt, das ist jene Temperatur, die nötig ist, damit sich im Ei etwas entwickelt. Wie halten Männchen und Weibchen – ob beim Mariskensänger oder bei den Graugänsen – diese konstante Temperatur aufrecht? Wir wissen schließlich: Eier, die es wärmer haben, entwickeln sich schneller und die Küken schlüpfen früher. Damit geraten die Eier weniger in Gefahr, von einem Feind gefressen zu werden.

Aus Respekt vor dem Ei habe ich in meiner Forschungslaufbahn jedenfalls nur einige wenige davon geopfert. Es hat Wochen gedauert, bis ich mich bei den Mariskensängern dazu durchgerungen hatte. Natürlich weiß ich als Biologin, dass durchschnittlich 80 Prozent aller Gelege ausgeraubt werden, weil die Eier ökologisch gesehen eine Nahrungsquelle für viele andere Tiere sind. Wenn ich allerdings nur ein Ei aus einem Nest nehme, das ich dann auch für Tests in weiteren Nestern verwenden kann, ist das ein minimaler Eingriff. Und ich erforsche dadurch die betreffende Vogelart und finde etwas in ihrem Interesse heraus, wodurch sich womöglich auch ihr Schutz besser argumentieren lässt. Genau diesen Nachdenkprozess, dieses Abwägen halte ich für unheimlich wichtig als Forscherin, denn man muss sich bewusst sein: Man ist in jedem Fall ein Stör- oder jedenfalls ein Einflussfaktor.

Das ist bis zu einem gewissen Grad auch in Grünau der Fall. Unsere Graugänse hier leben zwar außerhalb von Gehegen, werden aber von uns zusätzlich gefüttert, seit Konrad Lorenz 1973 die Tiere hier angesiedelt hatte. Manche von ihnen brüten in von uns bereitgestellten Bruthütten, andere bauen sich ihr Nest selbst. Zu den so „gansaufgezogenen“ Jungtieren kommen immer wieder auch Handaufzuchten: Verlassene oder teilweise unerwünschte Gelege aus anderen Regionen Europas werden im Inkubator ausgebrütet und dann von „Gänsemüttern“ oder „Gänsevätern“, meistens Biologiestudierenden oder Freiwilligen aus aller Welt, aufgezogen. Für uns heute ist das wichtig, um mittels Vergleichsstudien mehr über die Lernfähigkeit der kleinen Gänse herauszufinden.

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Sonia Kleindorfer als Doktoratsstudentin mit einem Teichrohrsänger im Jahr 1993 am Neusiedler See.

1991, im Schilf am Neusiedler See, hatte ich den Vögeln schweren Herzens ein Ei abgenommen. Ich blies es aus wie ein Osterei und füllte es mit Wachs, um dann später im Nest Temperaturmessungen damit anstellen zu können. Bei den Mariskensängern markierte ich anschließend Männchen und Weibchen und verglich jeweils ihre Bruttemperatur. Waren die Männchen am Brüten, erhöhte sich die Temperatur zwar nicht, blieb aber immerhin stabil. Damit war klar: Die Männchen fungieren gewissermaßen als Teewärmer! Sie können verhindern, dass die Temperatur rasant sinkt, wenn das Weibchen auf Futtersuche geht. Weibliche Singvögel haben im Unterschied zu ihren männlichen Artgenossen einen Brutfleck, der sehr stark durchblutet ist, geradezu pulsiert und dem Weibchen sehr viel Energie abverlangt. Die evolutionären „Kosten“ der Inkubation, des Ausbrütens, tragen damit eindeutig die Weibchen. Mit Fokus auf meine heutige Beschäftigung in Grünau stellen sich folgende Fragen: Wie ist das bei den Gänsen? Hier brüten nur die Weibchen, was machen die Männchen mit all der freien Zeit? Bleiben sie der Partnerin – dem Klischee der monogamen Gans entsprechend – „treu“?

Damals machte ich noch eine andere Beobachtung: Wenn ich dem Nest nahe kam, um die Küken abzumessen oder zu markieren, stießen die Eltern Alarmrufe aus. So weit, so klar. Doch die Jungtiere reagierten darauf immer wieder anders – sie verhielten sich „adaptiv“, wie es in der Verhaltensbiologie heißt. Ich stellte meine „Kükenreaktion-Hypothese“ (Chick Reaction Hypothesis) auf, mit der ich testen wollte, ob die Eltern tatsächlich schon zielgerichtet mit ihren Küken kommunizieren.

Dafür positionierte ich Attrappen verschiedener Fressfeinde in der Nähe des Nestes und versteckte mich. Bei der Schlangenattrappe sprangen die Küken nach der Warnung der Eltern aus dem Nest; bei einem ausgestopften Greifvogel duckten sie sich dagegen im Nest. Damit hatte ich für meine Dissertation einen bis dahin nicht studierten Effekt gegenüber Risiko erkannt und konnte ein adaptives Verhalten nicht nur der Eltern, sondern eben auch der Jungvögel nachweisen. Mein Interesse an diesem ganz speziellen Aspekt der Vogelkommunikation war geweckt.

Nach beruflichen Stationen in den USA, der Slowakei, Ecuador und Galapagos nahm ich diese „Chick Reaction Hypothesis“ erst einige Jahre später wieder auf: in Australien. Hierher hatte es mich 2002 mit meinem Mann Norbert, einem gebürtigen Österreicher, und unseren zwei – damals kleinen – Kindern verschlagen. An der Flinders University in Adelaide trat ich mit sechsunddreißig eine Stelle als Dozentin an. Norbert beschloss, in Australien Gesang zu studieren, und sollte sich in den Jahren darauf als Opernsänger etablieren, ich forschte zum Vogelgesang. Als wir uns 1992 im Wiener Jeunesse-Chor kennengelernt hatten, hatten wir noch nicht geahnt, dass uns dieses gemeinsame Interesse für akustischen Ausdruck nicht nur zusammenführen, sondern auch weiter begleiten würde.

Weibchen „sprechen“ zu den Eiern

Zwar ist Australien das Ursprungsland aller Singvögel, doch eine lange Tradition der Verhaltensbiologie gab es in Südaustralien nicht. Ich gründete in dieser arbeitsreichen Zeit an der Flinders University in Adelaide ein Bachelor-of-Science-Programm für Verhaltensbiologie und später das „Bird Lab“, in dessen Rahmen erstmals in Südaustralien Vogelnester beobachtet wurden. Zum Beispiel jene des Prachtstaffelschwanzes (Malurus cyaneus), eines kleinen, geselligen Vogels, der vor Ort recht häufig vorkommt. Wie damals beim Mariskensänger wollte ich an seinem Beispiel herausfinden: Wie kommunizieren die Elternvögel miteinander und später mit dem Nachwuchs in Risikosituationen?

Wir installierten also dreißig Zentimeter unterhalb der Nester Kameras, die Ton und Bild aufnahmen. Das war recht aufwendig, denn dafür wurden alle in unserem Testgelände entdeckten Nester verkabelt und ein Stromgenerator eingegraben. Und dann hieß es wieder: warten.

Erneut wurde das Warten mit einer Zufallsentdeckung belohnt: Wir sahen in den Aufnahmen, dass die weiblichen Vögel bereits während des Brütens, also noch vor dem Schlüpfen der Jungen, immer wieder lange Rufe ausstießen; Männchen war dagegen weit und breit keines zu sehen. Diese Lautäußerung war einigermaßen unlogisch, denn die einhellige Meinung war damals: Die Weibchen sollten möglichst unauffällig sein, weil sie sonst Nestfeinde auf ihr Gelege aufmerksam machen könnten. Eigenartig, denn wenn ich sie nun in unserem Experiment rufen hören konnte, dann konnten das auch die Fressfeinde wie Currawong und Rabe bzw. Brutparasiten wie Kuckucke. Warum also riefen die Weibchen?

Die erstaunliche Erklärung war: Sie sprechen zu den Eiern! Dieses Verhalten kannten wir in der Verhaltensbiologie ansonsten nur – und hier schließt sich für mich ein Kreis – von den Anatiden, den Entenvögeln, zu denen auch die Graugänse gehören. Von ihnen wissen wir, dass die Embryonen wenige Tage vor dem Schlüpfen auf die Ansprache ihrer Mütter von draußen sogar antworten, und zwar mit einem zarten „Vivi“-Ruf.

Auch ich selbst wartete nach sechzehn Jahren in Australien auf eine „Ansprache von draußen“ – als Verhaltensbiologin war ich in dieser Weltregion beinahe eine Einzelkämpferin. In Adelaide befand ich mich ganz an der Peripherie: Das Nächste, was Sie von der Küste dort sehen können, ist die Antarktis! Es ist großartig, eine Vorreiterin zu sein – die schließlich dankbar ein erfolgreiches und wachsendes Department für Verhaltensbiologie zurücklassen durfte. Aber es war auch anstrengend. Ich sehnte mich deshalb sehr nach professionellem Austausch, nach Gesprächspartner*innen, dürstete förmlich danach, wieder Teil eines Diskurses zu sein, für den sich viele interessieren. In der weltweiten Verhaltensforschung ist Österreich – auch dank Konrad Lorenz – ein Epizentrum. Kurt Kotrschal, langjähriger Leiter der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau, war zu dieser Zeit auf seinem Sprung in die Pension. Welch glückliche Fügung, dass wir familiäre Beziehungen nach Österreich haben und ich die Sprache spreche.

Angekommen im Almtal

Der Almsee liegt ganz im hintersten Winkel des Almtals, vor der spektakulären Kulisse des Toten Gebirges, das Oberösterreich von der Steiermark trennt. Der See und sein Ufer befinden sich in Privatbesitz, er ist ringsum völlig unverbaut, nur zwei Gasthöfe stehen dort. Nachdem ich im Jänner 2018 ein mehrstufiges Auswahlverfahren für die neue Leitung der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Wien absolviert hatte, lud mich Kurt nach Grünau ein, um die Forschungsstelle zu besuchen. Ein Teil der Besichtigung bestand aus einem Spaziergang am Ufer des Almsees.

Der Schnee knirschte unter unseren Füßen und ich musste beim Gehen sehr vorsichtig sein – nach sechzehn Jahren in Australien hatte ich glatt verlernt, im Schnee zu gehen! Während ich also versuchte, nicht wie eine komplette Närrin zu wirken und auf dem Weg auszurutschen, erzählte Kurt mir eine bemerkenswerte Geschichte aus der Lorenz-Zeit: Eines Abends, bei einer Veranstaltung zu Ehren des Nobelpreisträgers, hatten ein paar seiner Studierenden ein Plakat mit dreißig Gänsegesichtern gestaltet. Bei Wein und guter Laune versuchte Lorenz, alle dreißig Gänse auf den Fotos richtig zu identifizieren. Das Ergebnis: Er machte einen Fehler und verwechselte zwei Gänse – es handelte sich um Schwestern.

Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Gedanken auf: Meine Güte, Gänse haben individuell unterschiedliche Gesichter! Ein paar Tage später war ich wieder in Australien an meinem gewohnten Studienort im Wildpark bei den Prachtstaffelvögeln. Plötzlich geriet eine wunderschöne – und übrigens völlig unerforschte – „Cape Barren“-Gans in mein Blickfeld! Ich fing sofort an, Fotos zu machen und kontaktierte später einen Software-Ingenieur, mit dem ich Jahre zuvor zusammengearbeitet hatte. Damals hatte ich ihn gebeten, eine Software zur Messung der Schnabellänge von Darwinfinken zu entwickeln. Diesmal erklärte er sich bereit, eine Gesichtserkennungssoftware für Gänse zu entwickeln, wenn das denn machbar wäre.

Bald nachdem ich mit der Leitung der Forschungsstelle in Grünau beauftragt worden war, schickte ich Gänsefotos nach Adelaide. Damit machten wir einerseits wenig später ein bahnbrechendes Experiment: Ein Masterstudent stellte die Fotos als lebensgroße Ausdrucke am Gelände auf und konfrontierte die Gänse damit. Tatsächlich begegneten die jeweiligen Partnergänse ihren abgebildeten Artgenossen mit Kontaktrufen – sie erkannten sie also anhand ihrer Fotos. Andererseits entwickelten wir mithilfe dieses Fotosatzes auch eine Gesichtserkennungssoftware für Gänse – die uns auch beim Artenschutz nützlich sein wird.

Die Graugans ist ein berühmtes Wesen in der Verhaltensbiologie. Sie ist gut erforscht, aber sie gibt uns auch immer wieder neue Rätsel auf. Ein solches sind die schon erwähnten „Vivi“-Rufe aus dem Ei, um die es ausführlicher in Kapitel 4 gehen wird. Obwohl es eindeutige Belege für die Existenz der „Vivi“-Rufe aus dem Ei gibt, deuten aktuelle Forschungen darauf hin, dass sich die charakteristische Stimme jeder Graugans, die mit dem „Vivi“-Ruf beginnt, erst im Laufe ihres Lebens entwickelt. Wie, wissen wir nicht, aber: Im ersten Jahr wandelt sich das „Vivi“ als Kontaktruf bei allen Graugänsen langsam zu einem „Gang-gang“, das dann ganz individuell gefärbt ist. Diese vokale Komplexität interessiert mich besonders, sie will ich besser verstehen.

Wie schon eingangs erwähnt, haben Gänse mehrere Dinge mit uns Menschen gemein: Wenn Gänse mit ihrer Umgebung vertraut sind, können sie speziesübergreifend feststellen, wer zur Schar gehört und wer nicht. In der Antike waren Gänse daher auch als Wachtiere im Einsatz, verlässlich wie Hunde. Eine der bekanntesten Geschichten ist in diesem Zusammenhang jene um den Heiligen Martin: Er wollte sich dem für ihn vorgesehenen Bischofsamt entziehen und versteckte sich im Gänsestall. Die Tiere aber verrieten ihn durch ihr lautes Geschrei.

Sowohl ihre unverwechselbaren Gesichter wie auch ihre einzigartigen Stimmen deuten darauf hin, dass Gänse ein großes soziales Bewusstsein haben und eine sehr feinsinnige Wahrnehmung von individuellen Unterschieden. Aber warum? Welchen evolutionären Sinn mag das Herausbilden von Unterscheidbarkeiten ergeben, wie sie sich zum Beispiel in Gesichtern – bei Gänsen wie bei Menschen – zeigt?

Dieser Fokus auf die Individualität der Tiere verbindet mich mit Konrad Lorenz, der das Individuum geradezu feierte. Er gab seinen Tieren Namen, er „kannte“ sie – im doppelten Sinn: Er erkannte sie anhand ihres Aussehens, kannte aber auch ihre Biografien und Eigenschaften wie die von Freunden. Für uns ist die Individualität der Tiere heute einer unserer Forschungsschwerpunkte. Eine Population ist die Summe ihrer Individuen, jedes von ihnen hat seine Geschichte – so wie ich meine ganz individuelle, verschlungene Lebensgeschichte habe, so haben sie auch die Gänse. Mich haben einerseits meine Charaktereigenschaften, mein breites Interesse, meine Neugier geprägt, aber andererseits auch äußere Einflüsse, die erste Feldforschung in Afrika, unser langer Aufenthalt in Australien – aber bestimmt auch meine Biologielehrerin an der Highschool, die überhaupt erst mein Studieninteresse für die Biologie entfachte. Was, wenn es sie nicht gegeben hätte? Wäre ich dieselbe oder wäre ich heute eine ganz andere Person?