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Babaco, geschlüpft im Jahr 2015, im Schnee. Die Graugänse der Konrad Lorenz Forschungsstelle bleiben das ganze Jahr über im Almtal.

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Tumnus, die erste Graugans, die Sonia Kleindorfer bei ihrem Antritt als Leiterin in Grünau mit einem freundlichen Graugans-Hallo begrüßte.

Welche Erfahrungen im Leben einer Graugans prägen ihren individuellen Charakter? Von Anfang an haben die Persönlichkeit der Eltern und die Anzahl der Geschwister, mit denen sie aufgewachsen sind, den stärksten Einfluss darauf, wie ein Gänsejunges die Welt erlebt. Ein Gänseküken kann mit wachsamen und mutigen Eltern und vielen Geschwistern aufwachsen, die es verteidigen, oder es kann sich unsicher fühlen, vielleicht mit neophobischen Eltern und ohne Brüder oder Schwestern zur Unterstützung. Vielleicht kommt einer der Elternteile aus Kroatien oder Deutschland und der andere aus dem Almtal? Interkulturelle elterliche Einflüsse würden neue Familientraditionen mit sich bringen. Und wenn die Zieheltern des Gänsekükens Menschen waren, ist es natürlich wahrscheinlicher, dass es Menschen als Quelle des Wohlbefindens sieht.

In diesem Buch erforschen wir gemeinsam die bemerkenswerten Fähigkeiten der Graugänse. Wir werden die soziale Komplexität ihres Lebens ebenso kennenlernen wie ihre kognitiven Fähigkeiten, wie sie also die Welt um sich herum wahrnehmen. Gänse sind zum Beispiel die Rekordhalter aller bisher untersuchten Arten im „Blickfolgen“: Bereits im Alter von zehn Tagen folgen sie den Blicken ihrer Artgenossen und werden so frühzeitig auf günstige Gelegenheiten aufmerksam – aber auch auf Gefahren. Vor diesem Hintergrund der ständigen Bedrohung durch Beutegreifer spielt sich ihr Leben ab; sie stehen ständig unter Stress. Wie reduzieren sie diesen Stress auf ein Maß, das ihr Überleben und das ihres Nachwuchses ermöglicht?

So wie Konrad Lorenz in seiner Forschungsarbeit möchte ich Ihren Blick auf die Individualität der Tiere lenken: Wir werden Sinda, Timber und Murphy und Dorothea begegnen. Wir werden die weitgereiste Lavender, den ältesten Senior Joshua und das Einzelkind Diega kennenlernen. Diese äußerst wachsamen Pflanzenfresser sind höchst resilient. Sie stabilisieren Ökosysteme, sie schaffen es, sich mit dem Klimawandel zu arrangieren. Sie verärgern manche Menschen und erfreuen andere. Unter ihren Gänsegenossen können sie hartnäckige Rivalitäten und langfristige Allianzen eingehen. Was können wir von den Graugänsen lernen, für ihr, für unser Leben und Überleben in dieser Welt? Das werden wir im Laufe dieser anderen Art von Lesereise erkunden.

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Fünf Geschwister auf dem Weg zu ihrer Individualität. Sie werden einerseits zu ausgeprägten Charakteren heranwachsen und andererseits sehr soziale Mitglieder einer Schar bilden.