Im Almtal bin nicht nur ich selbst eine „Zug’raste“, eine Zugereiste, sondern auch Konrad Lorenz und die Graugänse waren das. Im Jahr 1973 – das Jahr, in dem er auch den Nobelpreis bekommen sollte – emeritierte Lorenz von seiner Stellung als Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie im bayerischen Seewiesen. Seine Langzeitstudie an den Graugänsen wollte er aber fortsetzen. Und nahm deshalb eine Abordnung der Kolonie vor Ort nach Österreich mit, insgesamt knapp 150 Tiere. Nicht ohne Eingewöhnungsschwierigkeiten, wie er in seinem Graugans-Porträt „Hier bin ich – wo bist du?“ schrieb:
„Die Gänse brauchten einige Zeit, um sich an die härteren Gräser und Kräuter des Gebirgstales zu gewöhnen. (…) Von Seewiesen waren die Gänse stehende, offene Wasserflächen und übersichtliches, leicht welliges Hügelland gewohnt. Im Tal der Alm, eines reißenden Gebirgsflusses mit teilweise steilen steinigen Ufern, bereitete ihnen das Gehen zunächst Schwierigkeiten; viele Gänse hatten große Blasen an den Fußsohlen. Die starke Strömung des Flusses meisterten sie jedoch von Anfang an recht gut.“
Schon in Seewiesen begann Lorenz mit der Handaufzucht der Gänse, weil die Tiere dann zahmer bleiben, sich leichter beobachten oder untersuchen lassen – für die geplante Langzeitstudie von großem Vorteil. Unter diesen handzahmen Gänsen befanden sich zwei, die später eines jener Paare wurden, die in der Fortpflanzung unter den erfolgreichsten waren: Sinda und Blasius, deren Beziehungsgeschichte Lorenz in „Hier bin ich – wo bist du?“ sieben Seiten widmet. Er erzählt detailreich davon, dass Blasius erst mit Sindas Schwester Jule verpaart war, wie Ganter Florian sich immer wieder für Sinda interessierte und „Ehestörungen“ unternahm oder wie Sinda ihrerseits ohne ersichtlichen Grund einen alten ranghohen Ganter verprügelte. Zum Ausdruck kommen schon hier gesellschaftliche Graugansregeln, die wir später noch näher beleuchten werden: sowohl die enge Bindung zwischen den weiblichen Gänsen, zwischen Schwestern, Müttern und Töchtern, als auch die beinahe sprichwörtliche Monogamie der Graugänse, die nur ein Mythos ist.
Ob mit solch eingehenden Beschreibungen einzelner benannter Tiere, ob mit der Handaufzucht oder auch generell mit dem Einquartieren der Graugänse im Almtal – Lorenz macht uns damit auch etwas bewusst, was auf den ersten Blick nicht sichtbar ist: Forschen ist ein Gestaltungsprozess, ein Geschichtenerzählen. Welches Erkenntnisinteresse uns Wissenschaftler*innen antreibt, wie wir argumentieren, welches Experiment wir durchführen oder warum wir, wie Lorenz, die Tiere lieber möglichst in ihrem Lebensraum beobachten, was davon wir im Kolleg*innenkreis oder an die Öffentlichkeit kommunizieren – all das sagt auch etwas darüber aus, welche Geschichten wir erzählen (wollen).
Mein Kollege Josef „Sepp“ Hemetsberger erlebte Konrad Lorenz, damals schon gebrechlich und mit schwerer Hörbeeinträchtigung, noch in Grünau mit. Er behielt ihn vor allem als einen lebendigen Geschichtenerzähler in Erinnerung. Auch der britische Schriftsteller Bruce Chatwin setzte sich in seinem berühmten Roman „Traumpfade“ mit Lorenz auseinander: Als er ihn – bereits nach der Zuerkennung des Nobelpreises – für ein Interview traf, stellte Lorenz für Chatwin zwei in einer Auseinandersetzung befindliche Stichlinge – das sind kleine, territoriale Fische – derart authentisch dar, dass sie dem Briten „unvergesslich“ blieben: „Während er die Geschichte erzählte, schlug Lorenz die Hände unter seinem Kinn zusammen und spreizte die Finger, um die Stacheln der Stichlinge anzudeuten. Er verfärbte sich rot an den Kiemen. Er erblaßte. Er schwoll an und er schwoll ab, er machte einen Satz nach vorn und floh.“
Neben den Aborigine-Ältesten in Australien sei Lorenz der einzige andere Mensch, den er je getroffen habe, der Geschichten aus der Welt der Tiere dermaßen überzeugend darstellen konnte, so Chatwin. Egal, ob der Verhaltensforscher von Fischen, Adlern, Schlangen oder Affen sprach – er schien sich in den lebendigen Körper und in den Geist des Tieres zu verwandeln.
Sepp lernte Lorenz im Sommer 1988 auf dem Auingerhof kennen. Es sollte Lorenz’ letzter Sommer sein, er verstarb im Februar darauf. Lorenz verbrachte die Sommermonate in einem Zimmer im Erdgeschoss des Auingerhofs in sehr bescheidenen Verhältnissen. In dem Raum mit Laminatboden befanden sich bloß ein Bett, ein Schreibtisch aus Holz mit Sessel und eine Lampe. Aber Lorenz war nur einen Schritt aus der Tür von seinen geliebten Gänsen entfernt.
Lorenz’ intensive Beschäftigung mit den Graugänsen und seine lebhaften Schilderungen der Tiere bauten in den vergangenen Jahrzehnten auf jeden Fall Barrieren ab, Barrieren, die zwischen den Menschen als Spezies und den anderen Tieren bis dahin praktisch unüberwindbar schienen. Wie ihm das gelang? Indem er den Graugänsen tatsächlich auf Augenhöhe begegnete und ihr Verhalten auch für die wissenschaftliche Untersuchung ernst nahm. Er tat das auf eine Art und Weise, die ich sonst nur bei Jane Goodall beobachtet habe – sie habe ich 1989 in Daressalam in Tansania kennengelernt, wenige Monate nach Lorenz’ Tod. Obwohl sie sich nur wenige Male im Leben begegneten, schätzten Konrad und Jane einander sehr und trafen sich als Freunde, wenn sie sich persönlich sahen. Jane erzählte mir, sie habe Lorenz Anfang des Jahres noch besucht. Beim Abschied hatten sie beide geweint, weil ihnen klar gewesen war, dass es ihr letztes Zusammentreffen sein würde..
Im Laufe seines Lebens wurde Lorenz zum großen Wissenschaftskommunikator, „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ – so der treffende Titel eines seiner Bücher –, erreichte Menschen, die sich sonst nicht für die Forschung interessierten, er wurde zum Naturschutzidol – das sich in jüngeren Jahren für den Nationalsozialismus begeisterte. Was haben wir ihm in fachlicher Hinsicht zu verdanken, was an seinen Ansichten müssen wir kritisch betrachten? Was können wir heute noch von ihm über die Graugänse lernen, was über das Beobachten und Forschen insgesamt? Und was hält uns hier an der Konrad Lorenz Forschungsstelle immer noch neugierig?
Konrad Zacharias Lorenz auf der Holzbank vor der alten Konrad Lorenz Forschungsstelle am Auingerhof im Jahr 1985.
Josef Hemetsberger und Sonia Kleindorfer auf der Konrad-Lorenz-Bank vor dem Auingerhof, 2022.
Konrad Lorenz mit drei seiner Graugänse, undatiertes Foto.
Jane Goodall in Grünau mit dem Waldrapp Rubio. Als er 2008 auf ihrer Schulter landete, sagte Jane Goodall: „Ich habe mich in Rubio verliebt.“
Am elterlichen Anwesen im niederösterreichischen Altenberg hielt und beobachtete der junge Konrad Lorenz Dutzende Vögel und zahlreiche andere Tiere. Wie zugewandt und respektvoll er seine Tiere behandelte und mit ihnen lebte, ist am besten anhand seiner eigenen Schilderungen zu begreifen, etwa die des Beginns seiner Graugans-Handaufzucht 1935 – darunter seine berühmt gewordene Gans Martina:
„Als das erste Gänsekind geschlüpft und trocken war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, das reizende Wesen unter der Amme [einer Hausgans, Anm.] hervorzuholen und näher zu betrachten. Währenddessen schaute es mich an und stieß nach einiger Zeit das laute einsilbige ‚Pfeifen des Verlassenseins‘ aus. (…) Daher antwortete ich mit einigen beruhigenden Tönen. Daraufhin wandte sich das Gänschen mir ganz zu, streckte den Hals vor und sagte ein mehrsilbiges ‚Wiwiwiwi‘. (…) Schließlich hatte ich genug vom Baby-sitting, steckte das Gänschen zurück unter den Flügel der brütenden Hausgans und wollte weggehen. Ich hätte es besser wissen müssen.“
Wir wissen mittlerweile, dass sich Gänse nach dem Schlüpfen dem ersten Objekt anschließen, das sie wahrnehmen – nicht umsonst wurde Lorenz auch als „Gänsevater“ berühmt, dem seine Gans Martina auf Schritt und Tritt folgte. Die „charakteristische Unwiderruflichkeit des Prägungsvorganges bei Gänsen“ sei ihm damals allerdings noch nicht bewusst gewesen, schreibt er. Er erzählte in frühen Filmen oder späteren Publikationen viele solcher sehr lebendiger und konvergenter Geschichten – und damit meine ich authentische Erzählungen tatsächlicher Begebenheiten, keine erfundenen –, die sich auch zu einer großen Erzählung verdichten lassen – einer, die sehr auf die Gans eingeht, ihr aber gleichzeitig auch einen sehr engen Kontakt mit uns Menschen abverlangt.
Dieser Kontakt wurde schon von Lorenz aktiv hergestellt – und wir machen das in Grünau bis heute. Zum Beispiel über das Einführen und Aufrechterhalten von „Traditionen“. Für die Graugänse im Almtal sind das etwa die immer wieder stattfindende Handaufzucht oder die täglichen Fütterungen an der Forschungsstation. Dabei werden auch „Anwesenheitslisten“ geführt: So erhalten wir laufend Daten über den Zustand unserer Schar und lernen außerdem, die Tiere voneinander zu unterscheiden. Andere Traditionen – etwa das regelmäßige Übernachten am Almsee – haben sich die Gänse selbst an- bzw. manchmal auch wieder abgewöhnt.
Ich habe da eine Gemeinsamkeit mit Konrad Lorenz: Auch ich bin getrieben davon, Geschichten zu erzählen – Geschichten, die die Schönheit und Faszination der Natur jenen vermitteln, die sie nicht so wie ich an vielen Orten der Welt wahrgenommen haben. Aufgewachsen bin ich allerdings in einer Großstadt in den USA. Meine Schule, ein Betonklotz, stand im Armenviertel von Westphiladelphia. Ich war ein sehr ruhiges Kind, das nicht viel sprach, aber viel beobachtete und Geschichten aufschrieb. Offenbar lag mir dieser Zugang über die Sprache, mit neun oder zehn Jahren schrieb ich meine ersten „Bücher“ – kurze, ausgedachte Erzählungen über die Entstehung des Menschen, über die Rolle von Kultur, Feuer und Sprache, gespeist aus allem, was ich darüber in der Schule gehört oder anderswo gelesen hatte.
Außerdem hatte mein Onkel eine kleine Farm in Penn State, und wir verbrachten die meisten Familienferien dort. Er beschäftigte sich mit Schmiedekunst und Philosophie, und diese lebhaften Zeiten hatten sicherlich einen großen Einfluss auf mein Leben. Solcherart inspiriert, griff ich in meinen Geschichten Naturthemen auf. Mit einer dieser ersten Erzählungen gewann ich sogar einen Schreibwettbewerb: Darin feierten Fische eine Unterwasser-Teeparty.
Ich bin mir auch zunehmend der Wichtigkeit bewusst, die Geschichten sowohl für unsere Wahrnehmung der Welt als auch für die Vermittlung unserer Forschung spielen. Etwa dann, wenn ich, wie besonders häufig, von Besucherinnen und Besuchern unserer Forschungsstelle gefragt werde: Was können wir heute nach Lorenz’ jahrzehntelanger Tätigkeit überhaupt noch Neues über die Graugänse herausfinden? Das ist eine gute Frage. Sie bringt mich immer wieder aufs Neue zum Nachdenken darüber, was wissenschaftliches Arbeiten für mich eigentlich bedeutet.
Im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht für mich immer die Frage, die unsere Forschung anstößt – jene Frage, die wir stellen, nachdem wir eine Reihe von Beobachtungen gemacht oder verschiedene Gedanken miteinander verknüpft haben. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn sich nun – wie circa ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts passiert – plötzlich vermehrt Frauen als Wissenschaftlerinnen und damit auch als Beobachterinnen und Fragenstellerinnen über die Welt einbringen? Ich bin eine dieser Frauen. Und ab den 1980er-Jahren begann ich tatsächlich, andere Verhaltensweisen wahrzunehmen und andere Fragen zu stellen als meine (männlichen) Kollegen zuvor.
Bei meiner ersten Feldforschung in Tansania zum Beispiel bestand meine Aufgabe darin, mehr darüber herausfinden, wie Pavianweibchen ihr „learning to mother“ betreiben, wie sie also lernen, sich mütterlich zu verhalten. Die Annahme dabei war schon vorab: Alle weiblichen Tiere einer Gruppe seien höchst interessiert daran, für Pavianjunge zu sorgen. Ich konnte mir diese Prämisse nur damit erklären, dass sie auf der (mindestens) Jahrzehnte alten klischeebehafteten Annahme beruhen musste, wonach menschliche Frauen als extrem motiviert gesehen werden (mehr als Männer), kooperatives Verhalten zum Wohle der Familien zu zeigen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon viel Zeit mit der betreffenden Paviangruppe verbracht und erkannte jedes Gruppenmitglied am Schwanz oder Ohr. Ich wusste genau, wer wer ist. Doch dann sah ich – mit dem neuen Forschungsauftrag in der Tasche – nur wenig Fürsorge bei manchen Weibchen. Stattdessen beobachtete ich erfahrene Weibchen dabei, wie sie die Kleinen anderer Gruppenmitglieder misshandelten. Sie zogen die Jungtiere hinter sich her, die kleinen Köpfe schlugen dabei immer wieder am Boden auf. Das, was ich da mitbekam, war kein „learning to mother“ – that is abuse. Es hat mich acht Jahre gekostet, diese Forschungsarbeit zu publizieren, denn: Weibchen sollten nicht so sein! Da muss es einen Fehler in den Daten geben, sagte man mir immer wieder. Dieses Bild einer Mutter wollte keiner sehen. Die Daten belegten jedoch eindeutig, dass diese Verhaltensweisen existierten.
Die Paradigmen der jeweiligen Zeit, die Umstände unserer Lebenslagen lenken auch unseren Blick als Forschende. In Kenntnis des menschengemachten Klimawandels stellen wir andere Fragen als zu Konrad Lorenz’ Zeiten. Als forschende Frauen stellen wir andere Fragen als alle Männer in den Jahrzehnten davor. In meiner Studienzeit hieß es, dass weibliche Singvögel nicht singen bzw. dass ihr Gesang keine Rolle spielt. Mittlerweile wissen wir jedoch: 71 Prozent der Weibchen singen komplexe Lieder, und diese Lieder werden zum Beispiel sehr wohl auch zur Verteidigung von Territorien eingesetzt.
„Eine Kurzfassung seines Lebens“, und damit sind wir wieder zurück bei Konrad Lorenz, „gleicht einer Spielfilmproduktion Marke Hollywood“, schrieben seine Biografen Klaus Taschwer und Benedikt Föger 2003. „Der Held verbringt eine paradiesische Kindheit in einem zauberschlossartigen Gebäude, umgeben von Luxus und vor allem: jeder Menge von Tieren. (…) Er wird zum jungen Dr. Doolittle, der mit den Tieren spricht, aber stets von Geldsorgen geplagt ist. Dann folgen die dunklen Jahre: Als schwärmerischer Opportunist fällt er auf die Nazis herein.“ Das trifft es aus meiner Sicht ganz gut. Aber es lässt die wichtige Beziehung zwischen Lorenz und seinem Vater aus, von der wir später noch erfahren werden.
Lorenz berichtete in Briefen 1938 begeistert vom „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, trat kurz darauf der NSDAP bei – und profitierte fortan auch vom NS-Netzwerk. Nach jahrelangen erfolglosen Versuchen, Finanzierungen für seine Studien aufzutreiben oder eine Professorenstelle für „Tierpsychologie“ im deutschsprachigen Raum zu bekommen, wird Lorenz schließlich 1940 an die Universität Königsberg gerufen. Auch ideologisch passt er den Nationalsozialisten ins Bild: In einem seiner am weitesten verbreiteten Texte dieser Zeit „Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens“ argumentiert er, der „überzivilisierte Großstadtmensch“ gefährde sich selbst durch eine „Verhaustierung“, die – ähnlich wie vom Wolf zum Schoßhund oder vom Wild- zum Hausschwein – zu „Mopskopf“ oder „Hängebauch“ führe.
Einige von Lorenz’ Wortmeldungen von damals, darunter auch eindeutig antisemitische, sind absolut inakzeptabel. Es ist sehr aufwühlend, über diese Zeit nachzudenken, eine tragische Periode der Geschichte. Und ich möchte Lorenz’ Verhalten in dieser Hinsicht keineswegs rechtfertigen.
Schwierig finde ich jedoch, aus heutiger Sicht, mit unserer heutigen „Ethikbrille“ auf Lorenz’ Verhalten von damals als einzelnen Fall zurückzublicken. Natürlich kann und muss man das machen, um zu versuchen, zu verstehen, was geschehen ist. Aber Lorenz als ein Beispiel unter Tausenden herauszupicken und ihm – wie die Universität Salzburg es 2015 tat – die Ehrendoktorwürde abzuerkennen, finde ich unangemessen. Dieser Schritt bleibt mir und übrigens auch seinem ihm ebenfalls durchaus kritisch gegenüberstehenden Biografen Klaus Taschwer, wie dieser mir mitteilte, unverständlich.
Auf unser Fach der Vergleichenden Verhaltensforschung hatte Lorenz einen transformativen Einfluss, der noch heute nachwirkt. Das hatte unter anderem mit seiner halbzahmen Dohle Tschock zu tun: Als Jungtier nahm er sie aus einer Tierhandlung zu sich und zog wenig später vierzehn weitere der Rabenvögel am Dachboden seines Elternhauses auf. Das war der Beginn seiner Tierhaltung für wissenschaftliche Zwecke. Mit seiner Beobachtung und Protokollierung des Verhaltens von Tieren – oder auch: mit seinem Sammeln „wissenschaftlicher“ Geschichten – in einer möglichst natürlichen Umgebung betrat er damals Neuland.
Als „Ethologe“ ging er einer Idee Charles Darwins nach: dass nämlich Verhaltensweisen ähnlich anatomischen Merkmalen zwischen verschiedenen Tierarten vergleichbar seien; deshalb heißt das von ihm mitbegründete Fach auch „Vergleichende Verhaltensforschung“. Verhalten könne – gemeinsam mit der Fähigkeit zu lernen – als vererbbares Merkmal studiert werden. Damit stand Lorenz Anfang des 20. Jahrhunderts den sogenannten „Behavioristen“ gegenüber, die sich auf den russischen Arzt Iwan Pawlow und seine Theorie zur Konditionierung beriefen. Ihnen zufolge sei alles Verhalten gelernt; angeborene Instinkte oder subjektive Erfahrungen, wie Lorenz sie den Tieren zusprach, galten ihnen nichts. Die Versuchstiere der Behavioristen wurden im Labor unter streng kontrollierten Bedingungen zu Experimenten angeleitet, ja, dressiert.
Lorenz hingegen verfolgte eine ganz andere Richtung. Er beobachtete, wie junge Dohlen im Nest ihren Rachen weit aufsperrten, und schloss daraus, dass dieser die Vogeleltern zum Füttern anregte. Er beobachtete das, was er „Prägung“ nannte, und schloss daraus, dass eben geschlüpfte Jungvögel diejenigen Lebewesen als Eltern erkennen, die sie als Erstes zu Gesicht bekommen. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte er 1935 eine seiner wichtigsten Arbeiten: „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels: Der Artgenosse als auslösendes Moment sozialer Verhaltensweisen“. Es gebe pro Art angeborene Verhaltensweisen, die naturwissenschaftlich erforscht werden und in Verhaltenskatalogen festgehalten werden könnten, schrieb Lorenz damals wegweisend.
Mit solchen Katalogen, die das ganze Verhaltensrepertoire einer Art umfassen, arbeiten wir heute noch, jetzt nennen wir sie „Ethogramm“, und es gibt solche Ethogramme artspezifischer Verhaltensweisen für Graugänse genauso wie für Hausschweine oder Elefanten.
Im Sommer 1909 war Lorenz sechs Jahre alt, seine spätere Frau Margarete neun. Die beiden Kinder, die sich damals schon kannten und gemeinsame Interessen hatten, erhielten jeweils ein Entenküken und waren ihnen Ziehmutter bzw. -vater. Diese kleinen Entchen prägten Lorenz ebenso sehr auf Anatiden, also Entenartige, wie er die Tiere als Handaufzieher auf sich prägte:
„Wir wateten an flachen Ufern passender Altwässer der Donau entlang, bevorzugten Teiche, die reich an Insektenleben waren, und sahen mit Genuss zu, wie unsere Enten dieses natürliche Futter verschlangen. (…) Bald kannten wir den ‚Gut-Schmeck-Laut‘, den die Entchen dann hören ließen, wenn sie Zuckmückenlarven im Schlamm gefunden hatten, selbst wenn diese Futtertiere für uns unsichtbar blieben. Wenn wir das ‚Trillern‘ hörten, das junge Entenvögel äußern, wenn sie gewärmt werden und schlafengehen wollen, machten wir sofort warme Falten und Taschen in unsere Kleider und wärmten die Küken an unseren Körpern.“
Kinder sind hervorragende Beobachter. Und das Beobachten von Tieren ist bis heute zentral an der Konrad Lorenz Forschungsstelle. Allerdings versuchen wir mittlerweile, die Verhaltensbeobachtungen unter möglichst natürlichen Bedingungen mit experimentellen Manipulationen wie dem Vorführen einer Fuchsattrappe und dem Messen von physiologischen Parametern zu kombinieren. Dafür haben wir unerwartet verlässliche Helfer gefunden: die Volksschulkinder im Almtal.
Meine Kollegin Didone Frigerio, genannt Dido, selbst Verhaltensphysiologin, die über die Graugänse promovierte, ist an der Forschungsstelle unsere Spezialistin für Social Outreach und Wissenschaftskommunikation – und setzt ihr Wissen auch bei der Arbeit mit den Jüngsten ein. Im Jahr 2010 startete sie im Rahmen des Bürgerwissenschaftsprogramms „Sparkling Science“ eine Kooperation. Sie besucht dafür regelmäßig die Volksschulen von Grünau und Mühldorf, einem Nachbarort Grünaus, und hat dabei immer Gurnemanz mit dabei: Er ist ein Ganter aus Lorenz’ Seewiesener Grauganskolonie – heute allerdings nicht mehr schnatternd und lebendig, sondern präpariert auf einem Brett befestigt.
Kinder als Bürgerwissenschaftler*innen.
Die Forscherinnen Didone Frigerio und Petra Sumasgutner versehen das Graugans-Männchen Allegra mit einem GPS-Sender.
Mit seiner Hilfe lernen die Kinder zuerst einmal im Klassenzimmer: Wie groß ist eine Graugans? Wie sehen die farbigen Ringe an ihren Füßen aus, anhand derer sich jedes Tier in Grünau eindeutig identifizieren lässt? Und: Was fressen Graugänse eigentlich? Wenn dann jemand aus der Klasse „Brot“ antwortet, fragt Dido zurück: „Tatsächlich? Habt ihr etwa schon einmal eine Graugans vor der Bäckerei gesehen?“ Auf diese Weise lernen die Kinder spielerisch, dass die Gänse von sich aus kein Gebäck fressen oder wie sie die Fußringe richtig lesen. Dafür hat Dido ein eigenes Spiel mit verschiedenen Farbringkombinationen entworfen. Oder sie erfahren eben auch, welche Verhaltensweisen im Ethogramm der Graugänse festgehalten sind.
Bei ihren Besuchen an der Forschungsstelle gehen die Schüler-Forscher*innen dann daran, dieses Verhalten der Gänse zu protokollieren. Das ist gar nicht so trivial, denn das zugeteilte Tier darf dabei nicht aus den Augen gelassen werden. „Ich nenne es: die Gans als Fernseher“, sagt Dido. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten dazu in Dreierteams zusammen und zeichnen rund zehn Minuten lang das Gänseverhalten auf: Ein Kind beobachtet das Tier, eines stoppt die Zeit und das dritte führt Protokoll. Auch jene, die sonst als „Problemkinder“ auffallen, arbeiten dabei fleißig mit. Im Jahr 2012 erhoben wir, ob die Aufzeichnungen der Volksschüler*innen auch verlässlich waren – und siehe da: Das waren sie! Die Protokolle der Kinder stimmten durchschnittlich zu über 85 Prozent mit denen der Biolog*innen überein.
Tatsächlich lassen sich – jedenfalls Didos Erfahrung nach – Kinder viel leichter darauf ein, eine Gans möglichst unvoreingenommen zu beobachten: (Fachfremde) Erwachsene wollen oft gleich Anerkennung von der wissenschaftlichen Aufsichtsperson; Kinder schauen sich einfach an: Was macht die Gans? „Bei solchen Verhaltensbeobachtungen geht es dann auch darum, darüber nachzudenken, dass und wie wir als Beobachter die Wissenschaft beeinflussen“, sagt Dido. „Die Gans macht in den Augen von fünf verschiedenen Beobachtern ganz unterschiedliche Dinge. Aber: Wissenschaft ist keine Religion. Wissenschaft umfasst auch die Fähigkeit, Fragen zu stellen, neugierig zu bleiben.“ Und: möglichst authentische – soll heißen: nach bestem Wissen und Gewissen aufgezeichnete – Geschichten zu erzählen.
Vor der Gemeinschaftsküche unserer Forschungsstelle hängen an unserem Schwarzen Brett drei Zettel. Auf ihnen stehen drei Fragen, adressiert an unsere Studierenden: Wie bist Du zu dem geworden, die oder der Du heute bist? Welche Aha-Momente haben Dich geprägt? Und: Was ist Deine professionelle Vision für die Zukunft? Ich glaube, dass es ungemein wichtig ist, solche richtungsgebenden Narrative gegenüber sich selbst und im Gespräch mit anderen zu formulieren und wieder und wieder neu zu überdenken.
Lorenz etwa wurde sehr wahrscheinlich von einer Aussage seines Vaters beeinflusst. Adolf Lorenz, ein orthopädischer Chirurg, der jedes Jahr ein paar Monate in New York ordinierte und übrigens selbst für den Nobelpreis gehandelt wurde, zeugte den zweiten Sohn Konrad nämlich im bereits fortgeschrittenen Alter – und war besorgt um die Risiken, die dadurch womöglich entstanden. Er erklärte aber, er hätte den Säugling dem Tod überlassen (Wortlaut Adolf Lorenz: „Kein Brutofen, keine sonstigen, außerordentlichen Maßregeln!“), wenn dieser schwach oder „untauglich“ gewesen wäre – und ließ das auch seinen Sohn Konrad später wissen. Der wiederum verband sich mit dem Gänsenachwuchs, machte sich Gedanken über die Bedeutung von „minderwertigen“ Partnern, Sorgen über die Domestizierung von Gänsen und versuchte, so meine Vermutung, seinen handaufgezogenen Gänsen ein guter Vater zu sein.
Ich plädiere dafür, dass es nützlich ist, die prägenden Einflüsse in unseren jeweiligen Leben zu identifizieren und verstehen zu lernen. Solche Einsichten helfen uns, uns selbst besser kennenzulernen: unsere Denkmuster, unsere Vorurteile und unsere Grundeinstellungen bzw. Prädispositionen.
Ich bin auch ein großer Fan des Aha-Moments: Jenes Augenblicks, in denen etwas, das Sie sehen oder auf eine andere Art wahrnehmen, eine gedankliche Verbindung, die Sie plötzlich herstellen, Sie zum Staunen bringt. Ich frage mich, ob diese Aha-Momente eine einzigartige Eigenschaft der Menschen sind. Im Alltag bewirken sie bei uns oft einen Motivationsschub, der uns ein Problem in ganz neuem Licht erscheinen lassen oder uns eine neue Perspektive zeigen kann.
In der Wissenschaft lassen sich auf Basis solcher Aha-Momente neue Fragen und in weiterer Folge Hypothesen und Experimente entwickeln. Fragen sind dabei ungemein nützlich. Sie gestalten unsere Visionen, die uns in die gewünschte Richtung bringen. Weil wir eine soziale Spezies sind, werden wir auch schnell merken, ob diese Visionen in einer Gruppe Übereinstimmung finden oder nicht. Und was sie an Ressourcen kosten.
Deshalb halte ich meine Studierenden dazu an, sich zu überlegen: Wo kommen sie her, wo gehen sie hin? Die Wissenschaft ist nicht objektiv. Aber wir bemühen uns darum, sie so objektiv wie möglich zu betreiben: In den Naturwissenschaften bestimmt etwa die wissenschaftliche Methode, wie wir vorgehen, um eine Forschungsfrage zu beantworten. Aus einem Experiment ziehen wir Schlussfolgerungen. Diese Schlussfolgerungen sind nur dann wertvoll, wenn sie wiederholbar und in verschiedenen Systemen vorhersagbar sind. Auf diese Weise kommen wir zwar nicht zu objektiven, aber immerhin zu objektivierbaren Ergebnissen, die möglichst frei von persönlichen Färbungen durch einzelne Wissenschaftler*innen sind.
Dennoch: Die Ausgangsfragen, die wir stellen, sind normativ, sie geben eine Richtung vor, sie legen die Latte auf eine gewisse Höhe. Aus diesem Grund müssen wir uns gut überlegen, welche Fragen wir stellen, und reflektieren, warum wir diese Fragen in uns tragen, woher sie kommen.
Welche physiologischen Mechanismen oder ontogenetischen Erfahrungen die Gänse zu den Individuen machen, die sie sind – diese Frage ist für uns Forschende nach wie vor spannend und noch nicht abschließend geklärt. Das veranschaulicht der Lebensweg von Sinda und Blasius, den beiden eingangs erwähnten Gänsen, deren Geschichte Lorenz so bewegte. Die beiden überlebten ihren symbolischen Ziehvater übrigens; eigentlich hatte sie die Biologin Sybille Kalas-Schäfer handaufgezogen. Das Paar trennte sich Anfang der 1990er-Jahre und Sinda nahm sich einen jüngeren Ganter. Sie brütete in der Folge mehrfach am Südufer des Almsees, bis sie dort der Fuchs erwischte. Dennoch brüteten auch ihre Töchter, Simone und Sarah, an derselben Stelle. Auch sie sind dort vom Fuchs gefressen worden.
Im Nationalpark Neusiedler See wird von einer Graugans namens Johanna berichtet, die – mit einem GPS-Tracker ausgestattet – jedes Jahr im Herbst Richtung Norden aufbricht, an einem See nahe Berlin überwintert, um im Frühjahr zum Brüten wieder an den Neusiedler See zurückzukehren. Sie kommt jedes Mal sehr nahe an den gleichen Neststandort. Ist dies ein Beispiel für die Prägung auf einen Neststandort? Oder handelt es sich hierbei eher um eine „Tradition“?
Von den Graugänsen können wir lernen, wie frühe Lebenserfahrungen die Gewohnheiten sowohl im Kleinen als auch im Großen entscheidend beeinflussen können. Auf diese und andere Fragen suchen wir weiter nach Antworten, in der Hoffnung, solche Einflüsse auch in unserem Leben ein wenig besser zu verstehen.