6.Dem Fuchs entkommen: Wann ist eine Gefahr eine Gefahr?

Jetzt ist schon wieder etwas passiert. Erst erwischte es Lavender, dann Rübezahl und jetzt auch noch Ficus. Sie wird von unserem engagierten Zivildiener Antonio im Juli 2023 gefunden. Er stolperte praktisch über den Körper der Gans – ohne Kopf, der war davor abgetrennt worden. Die Kiele der Federn waren dabei von einem Fuchs angefressen worden. Daran erkennen wir, wer die Gans getötet hat: Ein Greifvogel würde die Federn ausrupfen, die Kiele bleiben dann unversehrt. Hier hatte jedenfalls der Fuchs die Gans gestohlen. Und irgendetwas hat ihn gleich danach bei seinem Festmahl gestört. Vielleicht Antonio? Ihm jedenfalls bot sich ein makabrer Anblick.

Es mag sein, dass ich Ihnen bisher den Eindruck einer heilen Welt bei uns in Grünau vermittelt habe. Doch dem ist nicht ganz so. Nur ein Monat vor Ficus, im Juni, hatten wir ein abgetrenntes Gänsebein in einem Waldstück gefunden. Das war alles, was von Rübezahl, einem sechsjährigen Weibchen, übrig war. Identifizieren konnten wir sie nur, weil es ihr rechter Unterschenkel war, an dem noch der Fußring mit ihrer Kennnummer steckte. Gänse leben sehr gefährlich. So eng unsere Beziehungen zu manchen von ihnen, insbesondere den handaufgezogenen, auch sind – wir müssen jeden Tag damit rechnen, dass sie plötzlich verschwinden oder getötet werden.

Auch die achtjährige Lavender, eine mutige und abenteuerlustige Gans, überlebte den Frühling nicht, dabei war sie schon 2017 nur knapp dem Tod entronnen: Dido entdeckte sie damals skalpiert, mit freiliegendem Hirngehäuse. Ihre Kopfhaut hing herab und verdeckte Lavenders rechtes Auge, sodass Dido sie leicht fangen konnte. Vielleicht war es ein Adler gewesen, der die Kopfhaut mit seinen scharfen Krallen in einer sauberen Linie aufgeschnitten hatte. Dido brachte Lavender zum Tierarzt, der sie wieder zusammenflickte. Bemerkenswerterweise erholte sie sich und zog zusammen mit Rili noch Nachkommen auf, die jedoch alle starben. Und auch Lavender starb im selben Jahr, sie fiel einem Fuchs zum Opfer. Insgesamt war 2023 ein schlechtes Jahr für unsere Graugänse. Die Fuchsgemeinschaft scheint dagegen besser zu gedeihen als gewöhnlich.

Von wegen heile Gänsewelt also. Mit einer romantischen Vorstellung von „Natur“ haben aber eigentlich schon Charles Darwin und einige seiner Zeitgenossen Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeräumt. Darwin veröffentlichte 1859 sein Werk „On the Origin of Species“ („Über die Entstehung der Arten“), in dem er die radikale Idee der Evolution durch natürliche Selektion darlegte. Der Begriff „Evolution“ war damals zwar bereits seit Jahren bekannt gewesen, aber niemand wusste, durch welchen Prozess evolutionäre Veränderungen stattfinden. Darwins revolutionärer Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte bestand also darin. zu zeigen, wie die natürliche Auslese die Evolution vorantreibt.

Die Idee dieses ständigen Existenzkampfes, des Fressens und Gefressenwerdens, inspirierte die Kunstwelt, prägte Theorien in Wirtschaft und Wissenschaft, vor allem im Großbritannien dieser Zeit: Der Dichter Lord Alfred Tennyson beschrieb Vorgänge in der Natur mit dem Begriff „red in tooth and claw“, also „rot an Zahn und Klaue“, was zum geflügelten Wort in der englischen Sprache wurde. Auch viele der Gemälde des britischen Malers George Bouverie Goddard, darunter kämpfende Wölfe in „The Struggle for Existence“, kreisen um diese stete Bedrohung durch „Zahn und Klaue“.

Darwin schreibt: „Man kann sagen, dass die natürliche Auslese täglich und stündlich auf der ganzen Welt jede noch so kleine Veränderung prüft, das Schlechte verwirft, das Gute bewahrt und ergänzt, still und unmerklich, wann und wo immer sich die Gelegenheit bietet, an der Verbesserung jedes organischen Wesens im Verhältnis zu seinen organischen und anorganischen Lebensbedingungen arbeitet.“

Jederzeit zu „Beute“ werden zu können – das ist ein starker Selektionsdruck. Im ständig laufenden Evolutionsprozess prägt er die Merkmale einer Population, Merkmale, die bestimmen, wer überlebt und wer stirbt. Was sehen wir, wenn wir versuchen, durch die Augen eines Beutegreifers auf das verworrene Geflecht des Zusammenlebens und Sterbens von Pflanzen und Tieren innerhalb eines Ökosystems zu blicken? Wir sehen die artspezifischen und die individuellen Herangehensweisen, die die Überlebenschancen Einzelner erhöhen oder auch verringern. Wie überlistet man einen Fuchs? Oder wie läuft man schneller als ein Gepard? Vielleicht liegt ein Teil der Antwort darin, die Feinde aus der Reserve zu locken. Einen Fuchs kann man etwa vertreiben. Und einen Gepard erschöpfen. Welche Strategien haben Graugänse entwickelt, um individuell und als Art zu überleben? Und wo stehen sie, aber auch wir Menschen innerhalb dieser verworrenen Netzwerke heute?

Wie Darwin feststellt, ergeben sich die Ursachen für den unerbittlichen Kampf ums Überleben „zwangsläufig aus der hohen Rate, mit der sich organische Lebewesen zu vermehren pflegen“. Und weil die Fortpflanzung mehr Individuen hervorbringt, als jemals überleben können, „muss es in jedem Fall einen Kampf ums Dasein geben, entweder zwischen Individuen derselben Art oder zwischen Individuen verschiedener Arten oder mit den physischen Bedingungen des Lebens“. Das Wachstum wird also durch das nicht zufällige Überleben eingeschränkt. Anders ausgedrückt: Es überleben nur jene Individuen, deren Eigenschaften für die zum jeweiligen Zeitpunkt am jeweiligen Ort vorherrschenden Bedingungen geeignet sind. Das ist die blinde Macht der natürlichen Auslese.

Beutegreifer und Beute – eine gemeinsame Entwicklung in Koevolution

Gänseverbände sind ein besonders gutes System, um Konzepte der natürlichen Selektion zu studieren und zu testen, da sie die bevorzugte Nahrung für eine Reihe von Fressfeinden sind. Ihre Sinne sind auf Gefahren geschärft – und zwar auf genau diejenigen, die lebensbedrohlich für eine Graugans sein können. Sie kommunizieren auch für uns wahrnehmbar über Risiken innerhalb der Gruppe. Doch nicht alles folgt einheitlichen Regeln, wenn es um die Position des individuellen Tiers in der Gänsegesellschaft geht: So kann auch eine besonders kommunikative und hochrangige Gans eine Hochrisikoposition in der Schar einnehmen – bis sie womöglich selbst gefressen wird.

Ich stand neben dem bereits erwähnten zwanzigjährigen Ganter Joshua und meinem Kollegen Sepp auf der Wiese vor der Konrad Lorenz Forschungsstelle. Joshua schaute nach oben, den Kopf zur Seite geneigt. Während ich perplex auf Joshua hinunterblickte, hatte Sepp den Blick auf den Himmel gerichtet, deutete auf etwas und sagte: „Da ist er.“ Ich folgte Sepps Blick und sah einen kleinen schwarzen Punkt, der sehr hoch oben kreiste. Ein Adler am Himmel. Der Kampf ums Dasein führt zu Fähigkeiten und Anpassungen, die die Überlebenschancen in beiden Systemen erhöhen. Wir nennen das auch eine Koevolution: Nicht nur Adler haben die Fähigkeit entwickelt, ihre Beute am Boden wahrzunehmen, sondern auch die Beutetiere wurden im evolutionären Prozess so selektiert, dass sie einen Adler in der Luft erkennen.

Kurt Kotrschal, Josef Hemetsberger und John Dittami konnten nachweisen, dass Gänse auf verschiedene Adlerarten unterschiedlich reagieren, je nachdem, welche Bedrohung sie für sie darstellen. Die Gänse haben auch spezielle Rufe für verschiedene Arten von Fressfeinden, etwa Luftalarmrufe („Whee“) für Adler und Landalarmrufe („Graa“) für Füchse. Sobald sie also eine bestimmte Art von Beutegreifer erspähen und Alarm geschlagen wird, zeigen die Gänse ein artspezifisches Reaktionsmuster: Wenn sie Steinadler oder Fuchs entdecken, fliehen sie aufs Wasser; auch ein Wolf würde diesen Alarm auslösen. Bemerken sie hingegen einen Seeadler, fliegen sie auf und kreisen zusammen in der Luft, bevor sie möglichst nahe an Bäumen landen. Das ist im Sinne der Evolution schlau von den Gänsen, denn Seeadler sind geschickte Jäger auf dem Wasser.

Auch zu diesem Verhalten in Hochrisikosituationen haben wir ein Experiment durchgeführt, und zwar mit einem ausgestopften Fuchs, im Fachjargon auch „taxidermische Montur“ genannt. Sepp, Dido und ich bedeckten das präparierte Tier mit einem Tuch und schmuggelten es so mitten unter die Gänse, die sich beim Fressen und Ausruhen in einem losen Verband auf der Wiese aufhielten. Als wir das Tuch von der Fuchsattrappe zogen, geschah etwas Erstaunliches: Die Gänse stießen den terrestrischen Alarmruf „Graa“ aus und rannten alle zusammen. Sie formierten sich zu einer geschlossenen Gruppe, standen mit ausgestreckten Hälsen in einer extremen Wachsamkeitsposition da und gingen dann gefasst, aber zügig Richtung Wasser. Mich erinnerten sie an Ballerinas, die sich im selben Takt bewegen: Die Füße der Tiere marschierten im Gleichschritt, während Köpfe und Hälse ausgestreckt blieben. Einige von ihnen wasserten, andere blieben stehen und sahen sich skeptisch nach dem Fuchs um, der sich schließlich ebenfalls nicht regte.

Eine außergewöhnliche Reaktion: In Zeiten extremer Bedrohung gehen die Gänse von ihrer ausgeprägten Individualität zu einer Gruppenidentität über. Wir bezeichnen das – mithilfe eines aus der Thermodynamik entlehnten Begriffes – als einen Phasenübergang, den die Gänse als einzige bekannte Art an Land zeigen; wir kennen solche Formationen sonst nur von Fischschwärmen im Wasser oder etwa Starenschwärmen in der Luft. Gänse sind sehr sozial und bewegen sich in Zeiten der Bedrohung als Einheit, wobei die Form, die der Schwarm dabei einnimmt, sehr unterschiedlich sein kann. Mal gruppieren sie sich zu einem länglichen Parallelogramm, in anderen Situationen bilden sie die Form eines Kreises oder Ovals. Die Tiere an der Peripherie der Gruppe sind dabei am gefährdetsten, denn sie stellen das erste Ziel eines sich nähernden Beutegreifers dar, insbesondere eines Fuchses. Aus diesem Grund konkurrieren die Gänse um den Zugang zu zentralen und sicheren Plätzen im Inneren der Formation. Wovon hängt das Zugangsrecht zu den sichersten Plätzen in der Schar ab? Die Größe der Familie und die Anzahl der sozialen Verbündeten spielen hier eine Rolle. Größere Gänsefamilien neigen dazu, die zentrale Position der Schar zu besetzen, während die einzelnen Gänse an die Peripherie verdrängt werden. Sie fungieren als Wächter, weisen also eine erhöhte Wachsamkeit auf und haben somit weniger Zeit zum Fressen. Es ist also eine stressige Position, die sie einnehmen. Aber durch die Wachsamkeit der übrigen Tiere haben selbst diese Gänse an den Randpositionen eine bessere Chance, als Mitglied der Gruppe zu überleben, als wenn sie versuchen, allein zurechtzukommen.

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Obelix ist in der Position „Auge auf“ und hält Ausschau nach einem fliegenden Fressfeind. Um Gefahren am Himmel zu erkennen, neigt die Gans ihren Kopf zur Seite, sodass ihr Auge nach oben gerichtet ist. Wenn Sie dieses Verhalten beobachten, können Sie sicher sein, dass sich ein Greifvogel in der Luft befindet – von Flugzeugen lassen sich die Graugänse nicht täuschen.

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Obwohl Graugänse im Wasser vor Füchsen und Steinadlern sicher sind, können Seeadler eine unausweichliche Gefahr darstellen. Lavender ist in der Position „Auge auf“ auf dem Wasser und hält wohl Ausschau nach Seeadlern.

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Ein ausgestopfter Fuchs, der verwendet wird, um das Verhalten von Graugänsen auf Beutegreifer zu testen.

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Wölfe stehen an der Spitze der Nahrungskette und stabilisieren als Prädatoren Ökosysteme in der Natur. Der Cumberland Wildpark beherbergt das einzige kombinierte Wolf-Bären-Gehege in Europa.

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Ein Bär im Cumberland Wildpark. Das Verständnis unserer starken emotionalen Reaktion auf Wölfe und Bären ist unerlässlich, um eine Zukunft zu planen, in der Menschen und Wildtiere zusammenleben.

Haben Gänse Angst vor UFOs?

Wenn wir als Menschen über das Verhalten der Gänse in Gefahrensituationen nachdenken, müssen wir immer eines im Gedächtnis behalten: Wir sind immer Jäger, sie nicht. Deshalb müssen wir umdenken, wenn wir uns in sie hineinversetzen wollen. Vielleicht verfügen die Tiere auch über eine Form von Intelligenz, eine Herbivoren-Intelligenz, die wir (noch) gar nicht erkennen. Wir wissen jedenfalls: Sicherheit ist für sie zentral.

Wobei: Wenn wir uns das Gegensatzpaar Sicherheit und Freiheit als eine Wippe vorstellen, dann sind auch wir Menschen in den westlichen Gesellschaften bzw. im Globalen Norden in den vergangenen Jahrzehnten stark auf eine Seite gekippt, und zwar auf die der Sicherheit. Ich habe zum Beispiel meine erste Reiseversicherung im Alter von dreiunddreißig Jahren abgeschlossen – lange nach meinem Forschungsaufenthalt in Tansania. Heute kann eine Forschungsreise ohne Versicherung praktisch nicht stattfinden. Muss man mein Vorgehen als Maßstab nehmen? Natürlich nicht. Kann ich’s empfehlen? Nur auf eigene Gefahr.

Aber vielleicht sollten wir auch als Gesellschaft darüber nachdenken, ob tatsächlich alles durchgeplant und durchgetaktet sein sollte – in unserem Leben genauso wie in der Natur, die uns umgibt. Wäre es nicht an der Zeit, wieder mehr Wildnis rund um uns herum zuzulassen? Nicht nur, weil unsere Rolle, auch einmal die Beute zu sein, Teil unserer Vergangenheit ist, sondern auch, weil wir Menschen uns zu langweilen scheinen oder unflexibel werden, wenn wir nicht zumindest mit einer gewissen Unberechenbarkeit unserer Umgebung konfrontiert sind. Wenn wir uns hingegen ausschließlich als urbanes oder als Laborwesen begreifen wollen, verpassen wir sehr vieles, was uns in unserer Vergangenheit geformt hat – und uns auch heute noch beeinflussen könnte.

Der Trend geht derzeit eher dahin, uns alles gefügig zu machen, die Dinge nach unseren Vorstellungen auszurichten, anstatt uns formen zu lassen. Wir haben auch einen neuen Namen für diese Ära: das Anthropozän, gekennzeichnet unter anderem durch die Klimakrise und ein rasantes Artensterben.

Tiere, die auch uns Menschen gefährlich werden könnten, möchten wir wirklich nicht in unserer Nähe wissen und wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, um diese Arten zu eliminieren. Das Problem dabei: Dieses Vorgehen destabilisiert die Ökosysteme grundlegend. An der Konrad Lorenz Forschungsstelle erforschen wir deshalb auch Greifvögel, deren Einfluss für einen ausbalancierten Naturlebensraum essenziell sind. Wir haben dafür zwei ausgewiesene Greifvogel- und Eulenexperten: Petra Sumasgutner und ihren Partner Shane Sumasgutner.

Das Almtal beherbergt eine reiche Vielfalt an Greifvögeln, darunter Steinadler, Wanderfalke, Turmfalke, Baumfalke, Rotmilan, Habicht, Wespenbussard, Mäusebussard, Uhu und Waldkauz. Der Steinadlerbestand scheint sich langsam zu erholen – das haben Petra und ihr Team beobachtet: Da die Mauserzeit, in der die Tiere ihre Federn verlieren und diese wieder neu wachsen, sich beim Steinadler über drei Jahre erstreckt, sind die einzelnen Vögel an dem Muster des Federverlusts (den sogenannten „Mauserlücken“) zu erkennen. Gänse oder Singvögel hingegen mausern jährlich.

Unsere aufmerksamen Beobachter*innen der Adler können deshalb mithilfe eines Fernrohrs oder Teleskops die Revierpaare zumindest saisonal identifizieren. So hat Petra drei Steinadlerreviere im Almtal festgestellt. Wir haben in diesem Jahr den Flugerfolg eines Steinadlers gefeiert, der in einem Horst in einer Felswand über dem Almsee aufgewachsen ist – also weit entfernt von menschlichem Einflussgebiet. Petra glaubt, dass diese Meidung des Menschen darauf zurückzuführen ist, dass wir in Österreich durch die langjährige Verfolgung auf sehr scheue Steinadler selektiert haben. Generell gelten übrigens Top-Prädatoren wie Adler in der Evolutionsbiologie als nicht unbedingt die Schlauesten, was auch Konrad Lorenz in „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ erwähnt („viel dümmer als jedes Hendel!“): Sie haben zwar üblicherweise eine ausgezeichnete Wahrnehmung und können superschnell oder superstark sein. Aber ihre Beutetiere, für die es darum geht, ihre Angreifer auszutricksen, haben dafür viel mehr Köpfchen.

Petra und Shane, die auch an Raben forschen, setzen Drohnentechnologie ein, um zum Beispiel die Nester der Kolkraben in den Klippen des Toten Gebirges zu beobachten. Die Rabennester befinden sich manchmal sehr abgelegen, in winzigen Spalten einer Felswand. Der Einsatz der Drohne brachte uns auch auf eine Idee für die Gänse: Wie würden sie auf ein UFO, ein ihnen völlig unbekanntes Flugobjekt und eine neue Gefahr aus der Luft reagieren? Im Allgemeinen sind Graugänse sehr neophob. Wir haben dies getestet, indem wir unbekannte und bewegungslose Objekte auf der Wiese platziert und ihre Reaktionen beobachtet haben. Ich war überrascht, wie zögerlich die Tiere sich einem solchen neuen Objekt näherten und wie wenig Unterschiede in der Größe des Objekts eine Rolle zu spielen schienen. Ein mit roter oder blauer Flüssigkeit gefülltes Glas war kein Problem, solange es nur etwa 10 cm hoch war. Wenn das Glas jedoch 15 cm hoch war, dauerte es viel länger, bis die Gänse sich ihm näherten. Warum das so ist? Ich habe keine Ahnung. Insgesamt zögert die Gänseschar also, sich schnell auf etwas Neues einzulassen. Aber eine Handvoll Gänse nähert sich immer schnell und dann, im Laufe der Zeit, beginnen auch die anderen, sich zu trauen. Was würde passieren, wenn sich das neue Objekt bewegt? Wird diese Art von Objekt von den Gänsen nun angesichts der Bewegungsachse als potenzieller Beutegreifer eingeordnet?

Shane programmierte die Drohne mit einer standardisierten Flugroute und startete sie aus einer Entfernung von einigen Hundert Metern. Sie flog zum Auingerhof, wo die Gänse versammelt waren. Unsere geschätzten Forschungsstelle-Praktikant*innen wurden strategisch rund um die Gänseschar positioniert, um das Verhalten der Gänse aus verschiedenen Perspektiven zu dokumentieren. Parallel dazu sammelten wir Kotproben, einige Stunden vor, während und nach dem Drohnenflug, um die Stressbelastung der Tiere zu messen.

Wie schon bei der Fuchsattrappe war auch diesmal die Verhaltensreaktion bemerkenswert: An Tag eins lagerten die knapp hundert Gänse lose über die Wiese verteilt, als die Drohne erschien. Sie liefen aus allen Richtungen zusammen und als das Flugobjekt etwa dreißig Meter über ihnen schwebte, standen sie im Verbund dicht zusammen mit einem sehr regelmäßigen Abstand von etwa einem halben Meter zwischen den einzelnen Gänsen. Von oben sah es aus, als wäre aus den versammelten Gänsekörpern eine geometrische Form, ein unregelmäßiges Vieleck oder Oval entstanden. Es herrschte Totenstille und ihr Schnattern war vollkommen eingestellt.

Am nächsten Tag liefen die Gänse beim Ankommen der Drohne wieder zusammen und bildeten das Oval, das aber diesmal nicht mehr so eng beieinander war. Und am vierten Tag reagierten sie gar nicht mehr auf die Drohne – sie waren zwar schon wachsam und beobachteten das unbekannte Objekt am Himmel, aber sie veränderten deshalb nicht ihre Positionierung innerhalb der Gruppe, weideten weiter, schnatterten weiter. Wir schlussfolgern daraus, dass die Gänse zwar wachsam gegenüber einer sich nähernden Drohne sind – es wäre dumm, wenn sie es nicht wären, schließlich macht die Drohne ja immer auch ein irritierend surrendes Geräusch –, aber dies schlug sich nicht mehr in einer unmittelbaren Stressreaktion nieder. Das tat die Drohne übrigens auch physiologisch nicht: Im Kot veränderte sich die Konzentration der Ausscheidungsprodukte des Steroidhormons Kortikosteron, das zur Bestimmung einer unmittelbaren Stressreaktion verwendet werden kann, bei den Gänsen während der Wochen der UFO-Sichtungen nicht.

Auch wenn wir vielleicht annehmen, dass wir die Graugänse mit einer Drohne stressen, ist das gar nicht der Fall! Sie können offenbar schon nach wenigen Sichtungen erkennen, wann sich die ganze aufreibende Aufregung auszahlt, wann also ein Objekt tatsächlich eine Gefahr für sie darstellt, und wann nicht.

Angeregt durch diese Studie habe ich den Versuch an Koalas in Australien wiederholt. Zusammen mit meiner Kollegin Diane Colombelli-Négrel ließen wir eine Drohne vor den Koalas fliegen und maßen die physiologische Stressreaktion der Tiere mit einem Fitbit-Armband, das uns Auskunft über Körperparameter wie ihre Herz- oder Atemfrequenz gab. Wir fanden genau das gleiche Muster wie bei den Gänsen: Die Koalas zeigten ebenfalls eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber der Drohne, aber keine physiologische Stressreaktion. Artenübergreifende Studien sind unerlässlich, um die Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen zu prüfen und in diesem Fall auch, um zu wissen, welche Arten mit einer Drohne überwacht werden können, ohne eine physiologische Stressreaktion auszulösen.

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L‘Amour, sein Partner Pudding und andere Artgenossen fliehen zunächst vor einer Gefahr und versuchen dann, auf einer nahen flachen, von Bäumen umgebenen Wiese sicher zu landen.

Die Faszination des Phasenübergangs

Wir wissen, dass Graugänse in gefährlichen Situationen ein bestimmtes kollektives Verhalten an den Tag legen und sich als Einheit bewegen und sogar geometrische Formationen bilden können. Individuell haben dieselben Graugänse, die sich nahtlos in ein Kollektiv einfügen, aber auch starke Individualitätsmerkmale. Welche individuellen Merkmale oder Kombinationen von Merkmalen sorgen dafür, dass eine Graugans besser in der Lage ist, einen hochwertigen Partner zu finden, eine große Anzahl von Eiern zu legen und/oder lange genug zu überleben, um ein reiches Netzwerk von Verwandten und sozialen Verbündeten aufzubauen? Nicht nur die Genetik und die Gesichtssymmetrie oder die Angleichung der Hormone und der Physiologie, sondern auch kognitive Eigenschaften tragen dazu bei, wie kompetent sie als Partner, Mutter, Vater und sozialer Verbündeter sind.

Schauen wir uns diese Fragen am Beispiel von Tumnus an. Tumnus schlüpfte 2017 und entstammt einer Gänsedynastie, ihre Eltern sind Timber und Murphy. Sie selbst ist eher still und nicht mutig, aber dafür ihre Schwester Triton. Tumnus hat ein schwieriges Jahr hinter sich. Sie und ihr Partner Kokosnuss haben mehrere Jahre lang versucht, eine Familie zu gründen, aber erst 2023 hatten sie einen Bruterfolg und es schlüpften drei Gössel. Aber bereits kurz danach verschwand eines nach dem anderen, bis alle Nachkommen weg waren. Tumnus hatte früher eine sehr hochrangige Position als Tochter des erfolgreichsten Weibchens in der Geschichte der Schar. Doch seit sie alle drei Gänseküken verloren hat, wirkt sie deprimiert, ihre Haut ist schlaff und sie bleibt in geduckter Haltung und sozialer Isolation abseits von ihrem Partner am Rande der Gruppe.

Ihr Kumpel Giovanni setzt sich manchmal für sie ein und verteidigt sie, wenn andere Gänse sie angreifen, wie beispielsweise Jafar. Triton und Tumnus haben jetzt eine engere Bindung als früher. Sie verbringen mehr Zeit miteinander als in der frühen Jugend und Triton kommt Tumnus zu Hilfe, wenn sie bedroht wird. Kokosnuss wird inzwischen mit den anderen Mitgliedern der Schar gesehen, nicht mehr mit Tumnus’ Familie, und die Beziehung zwischen Tumnus und Kokosnuss ist belastet. Sie verbringen nicht mehr viel Zeit miteinander. Und das ist sehr riskant für eine Gans und ihr Überleben.

Wir wissen, dass die Gänse beim Ruhen und Nisten eine räumliche Verteilung haben, bei der sich die weibliche Verwandtschaft zusammenballt und die Männchen sich in andere Gebiete ausbreiten. Und wir wissen, dass die Gänse einander erkennen und sich gegenseitig bei Allianzen und Konfliktlösungen unterstützen. Sie kommen sich gegenseitig zu Hilfe und können sich anhand von Stimme und Gesicht erkennen. Neben diesen individuellen Merkmalen gibt es in der Gänsegesellschaft auch noch die Fähigkeit zum Übergang von der individuellen zur gruppenbezogenen Identität, dem bereits erwähnten Phasenübergang, der anderen Regeln folgt.

Im Zuge dieses Phasenübergangs „verliert“ die einzelne Gans ihren Status. Unabhängig davon, wo das Tier in der Hierarchie steht, wird es in der Situation der Bedrohung einfach zum Gruppenmitglied. Trevor mag als Individuum scheu sein – aber als Gruppenmitglied in einer Gefahrensituation spielt diese Eigenschaft keine Rolle mehr! Wenn die Elterntiere bei der Futtersuche von einem Fuchs angegriffen werden, könnte die Selektion mutige Eltern bevorzugen, die ihre Nachkommen verteidigen. Dies könnte stabil sein, da die Gänseküken selbstständig auf Nahrungssuche gehen und somit überleben könnten. Innerhalb einer Gruppe nicht verwandter erwachsener Tiere hat der Zusammenschluss jedoch auch Vorteile für die Erwachsenen. Jetzt erhöhen die erwachsenen Graugänse ihre Überlebenschancen, indem sie mit anderen Graugänsen zusammen sind. Die Graugänse haben sowohl starke individuelle Eigenschaften als auch die Fähigkeit, sich bei Gefahr für die Gruppe einheitlich zu verhalten. Ihre Individualität verschwindet plötzlich mit der Gefahr, dann gibt es nur mehr die soziale Gans. Was mag hier an psychologischen Faktoren wirken, damit sie ihre Individualität so entschlossen beiseiteschieben können?

Der psychologische Mechanismus, der diesen Phasenübergang ermöglicht, ist in der Forschung derzeit noch nicht bekannt, aber es scheint eine weitere Eigenschaft zu sein, für die selektiert wurde, um das Überleben des Individuums und damit auch der Gruppe zu fördern.

Angesichts von Klima- und Biodiversitätskrise könnte uns das Verhalten der Gänse zu denken geben: In welchen Fällen sind wir Menschen bereit, unsere Individualität zu vernachlässigen – zum Wohle unserer Gruppe oder Art? Wie viel von unserer Sicherheit, unseren Annehmlichkeiten würden wir aufgeben zum Wohle anderer Arten?

Besonders gut gefällt mir Darwins letzter Absatz in „Die Entstehung der Arten“, in dem er beschreibt, wie natürliche Kräfte zu einem erstaunlichen Geflecht von Interaktionen zwischen den Arten und auch den Eigenschaften von Arten führen können: „Es ist anziehend, eine dicht bewachsene Uferstrecke zu betrachten, bedeckt mit blühenden Pflanzen vielerlei Art, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit schwärmenden Insekten in der Luft, mit kriechenden Würmern im feuchten Boden, und sich dabei zu überlegen, dass alle diese künstlich gebauten Lebensformen, so abweichend unter sich und in einer so komplizierten Weise voneinander abhängig, durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort um uns wirken.“

Wenn das verworrene Geflecht der Interaktionen zwischen den Arten eine mächtige Kraft in der Natur ist, dann sind wir Menschen es auch.