Am Ende jeden Tages läuft eine bemerkenswerte Energiewelle durch die Gänse, eine Welle, die im Flug gipfelt! Dieses Spektakel erweckt immer meine Aufmerksamkeit. Man hört ein paar Gänse rufen und mit den Flügeln schlagen, und man kann Kopfschütteln ausmachen. Aber dann beruhigt sich alles wieder. Eine weitere Welle von Rufen, Flügelschlagen und Kopfschütteln, und dann wieder Ruhe – aber die Köpfe und Hälse sind aufrechter. Wie ein Mosaik aus Klangwolken rufen die einzelnen Gänse von verschiedenen Stellen auf der Wiese und bis hinunter zu dem Ufer des Almflusses. Langsam stellen sich alle Gänse mit dem Gesicht in Richtung Wildpark oder Almsee auf. Irgendetwas wird gleich passieren. Man kann es spüren.
Kopfschütteln und diesmal lautere, pulsierende Rekrutierungsrufe, eine gleichmäßige Abfolge von „Tschok tschok tschok“, gefolgt von individuell unterschiedlichen Abflugrufen, wie „Tchewii“, „Karunk“ oder „Gagru“. Zunehmende Intensität des Kopfschüttelns von einer Seite zur anderen und gesteigerte Aufregung. Immer mehr Rekrutierungsrufe, die sich in ihrer Rhythmik und Häufigkeit potenzieren. „Tschok tschock tschok“ und Abflugrufe, zunächst unkoordiniert. Schließlich wird der Abflugruf einer Gans von mehreren anderen beantwortet. Irgendein unsichtbarer Faden muss die Tiere verbinden, denn obwohl sie nicht nebeneinander stehen, sondern über die Wiese vor dem Auingerhof verstreut sind, ist es genau DIESE Ruf- und Antwortgemeinschaft von zehn bis zwanzig Gänsen, die plötzlich auffliegt und sich gemeinsam von der Gruppe entfernt. Jeden Abend fliegen viele Gänsegruppen mit mehr oder weniger Individuen ab. Dies ist das abendliche Ritual der Gänse vor dem Auingerhof – das dort übrigens manchmal auch nach dem Frühstück stattfindet.
Das Interessante daran: Die Teilgruppen, die sich da aus der großen Schar herauslösen, sind immer unterschiedlich zusammengesetzt. Aber diejenigen, die die Aufbruchstimmung in Gang bringen und zum Abflug rufen, sind überraschend oft dieselben Tiere.
Ich habe mir nach jahrelanger Beobachtung dieses Verhaltens etwas herausgenommen: Ich habe begonnen, die erfolgreichen Leiter von Teilgruppenbewegungen als „Influencer-Gänse“ zu bezeichnen. Wer ist heutzutage ein Influencer? Ein Influencer ist ein Meinungsführer, meistens mit starker Präsenz in den sozialen Netzwerken und einer möglichst großen Schar an Followern. Als ich den Begriff „Influencer“ zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Gänsen vorschlug, zuckte meine Familie zusammen. Und vielleicht geht es Ihnen genauso. Denn in unserer Gesellschaft ist dieser Begriff nicht immer positiv besetzt. Viele fühlen sich durch den scheinbar schnellen Zugang der Influencer zu Ruhm und Geld ohne „harte Arbeit“ betrogen. Und doch ziehen die Influencer Follower an und erzeugen eine Nachfrage nach bestimmten Ideen und Vorgehensweisen.
Könnte es derartige einflussreiche Persönlichkeiten also tatsächlich auch unter den Gänsen geben?
Wir haben mit einer systematischen Studie begonnen, um herauszufinden, wer vor einem erfolgreichen Abflug – definiert als Flug mit mindestens einem Follower – zuerst rief und wer folgte. Zur möglichen Bestimmung von Influencer-Gänsen ziehen wir fürs Erste ausschließlich diese Abflug-Events heran; möglicherweise werden andere charakteristische Situationen noch folgen. Veronika Weinhäupl und Eva-Maria Körmer sammelten jedenfalls die verschiedenen Ruftypen der Gänse beim Aufbruch, und zusammen mit Dina Mostafa notierten wir, welche Gänse zusammen wegflogen. In einigen Fällen wurde eine Gans von einer anderen Gans verfolgt. In anderen Fällen wurde eine Gans von zehn bis zwanzig anderen Gänsen begleitet. Gab es ein Muster bei diesen Gruppenbewegungen? Ließen sich Leittiere, also Influencer, und „Follower“, identifizieren? Und wenn ja, welche Merkmale wiesen sie auf?
Eine der aufregendsten neuen technologischen Errungenschaften für die Erforschung der Tierkommunikation ist die akustische Kamera. Sie wurde zuerst in der Autoindustrie eingesetzt, um die Quelle eines Störgeräuschs in einem Motor zu lokalisieren, und jetzt verwenden wir sie, um die Kommunikation unserer Gänse zu untersuchen. Mit der akustischen Kamera ist es möglich, sowohl ein Video des Verhaltens aufzunehmen als auch zu SEHEN, wann eine Gans ruft. Das funktioniert, weil die Schallwellen auf die Sensoren der Mikrofone der akustischen Kamera zeitversetzt auftreffen. Ein Computerprogramm berechnet anhand dieser winzigen Zeitunterschiede die exakte Position der Schallquelle. In einer Heat-Map, einer Wärmekarte, werden dann sowohl der Ort als auch die Art des Rufs angezeigt.
Wenn Sie auf diese Heat-Map klicken, die sich als Kreis um den Schnabel der rufenden Gans formt, erhalten Sie Zugriff auf die vollständigen Spektraleigenschaften des Rufs, einschließlich der akustischen Höchst- und Mindestfrequenz dieses Rufs. Dies öffnet eine neue Forschungswelt in Bezug auf das Rufverhalten. Zum Beispiel: Wer hat zuerst gerufen, wer hat geantwortet? Es ist uns nun möglich, beantwortbare Fragen zum Rufverhalten zu stellen, weil wir sehen können, wie es sich in Echtzeit und im aktuellen sozialen Kontext entfaltet. Stimmen die Gänse ihre Rufe aufeinander ab? Wenn Sie einem Gänseschwarm zuhören, könnten Sie in Versuchung kommen, zu glauben, dass die Lautäußerungen der Tiere unorganisiert sind. Aber bisher haben wir noch nie festgestellt, dass sich Distanzrufe einer Gans mit denen einer anderen Gans überschnitten – nicht einmal, wenn sie gemeinsam losfliegen. Sie warten, bis sie an der Reihe sind! Wie höflich.
Da die Gänse individuell unterschiedliche Rufe haben, können wir nach einem bestimmten Ruf eines beliebigen Individuums suchen und den Kontext überprüfen, in dem diese Gans gerufen hat. Wir können sehen, wer zuerst gerufen hat, wer geantwortet hat, wer das Gespräch beeinflusst hat, indem er es gestartet hat. Und so beginnt also tatsächlich die Geschichte der Influencer-Gänse und ihrer Follower.
Ballantine folgt den anderen Gänsen als Letzter in der Reihe. Er ist sehr erkundungsfreudig und offen gegenüber Neuem. Sogenannte Follower-Gänse, die auch offen für Neues sind, könnten neue Informationen und neue Traditionen verbreiten.
Jumper, die aggressivste Graugans in der Schar und derzeit auch die ranghöchste, beim Flug mit seiner Familie. Wenn Jumper ankommt, monopolisieren er und seine Familie die Nahrungsquelle.
Leia ist eine Influencer-Gans – wenn sie ruft, folgen die anderen Graugänse. Leia ist sehr mutig, nicht aggressiv und nur mäßig aufgeschlossen gegenüber Neuem. Hohe Werte für Mut deuten auf eine hohe Risikobereitschaft gegenüber Fressfeinden hin, was für die Graugänse, die ihr folgen, ein Vorteil ist.
Auch wenn alle Gänse Distanzanrufe tätigen, haben nicht alle Gänse die gleiche Anzahl von Followern. Wir haben eine „Influencer-Liste“ erstellt – eine Liste der Gänse mit den meisten Followern, im Durchschnitt Hunderte von Beobachtungen. Die Top-Influencer sind Leia, Joshua, Barbados und Triton. Zwei Männchen und zwei Weibchen, jedes aus einer anderen Familie. Im Durchschnitt haben sie jeweils zehn Follower pro Flug-Event. Andere wie Edes, Fritz und Kolibri haben lediglich ein bis zwei Follower.
Die Follower sind nicht nur Familienmitglieder. Wenn Leia ruft, folgen ihr in der Regel ihr Partner und der gemeinsame Nachwuchs, aber auch Dorothea und ihr Partner und deren Nachwuchs sowie mehrere Singletons. Was macht eine Influencer-Gans aus? Und was macht eine Follower-Gans aus?
Um das herauszufinden, haben wir an der Konrad Lorenz Forschungsstelle etwas begonnen, was für Laien vielleicht überflüssig erscheinen mag: Wir haben uns angeschaut, welche Persönlichkeit die jeweiligen Gänse haben. Und ja, die haben sie! Ihre individuellen Eigenschaften lassen sich sogar messen.
Die Persönlichkeit von Tieren ist mittlerweile gründlich erforscht. „Persönlichkeit“ ist dabei ein verkürzter Begriff für individuelle Unterschiede im Charakter oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, im Reaktionsprofil eines Tieres auf einen äußeren Einfluss. Also etwa: Wie reagiert Pistazie auf einen neuen, ihr unbekannten Gegenstand in ihrer Umgebung – sie ist diesem gegenüber sehr skeptisch! Damit man dabei wirklich von „Persönlichkeit“ und nicht etwa von einem Verhaltensmerkmal sprechen kann, muss das Reaktionsprofil – wie die Angst vor dem unbekannten Gegenstand – in verschiedenen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg bei diesem speziellen Individuum immer wieder nachweisbar sein.
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Forschung darauf geeinigt, dass es bei Tieren fünf Hauptpersönlichkeitsachsen gibt. Sie können als Mut, Aggressivität, Erkundungsverhalten, Aktivität und Soziabilität gemessen werden. Und wir haben Experimente, um jede dieser Achsen zu testen: Mut wird im Zusammenhang mit der Bedrohung durch Fressfeinde gemessen, Aggressivität wird als agonistisches Verhalten gegenüber einem Artgenossen festgestellt. Die Erkundung wird als Verhalten angegeben, das auf Neues in einer neuen Umgebung oder auf ein neues Objekt gerichtet ist. Aktivität wird als die Anzahl der Bewegungen in einem bestimmten Zeitrahmen gemessen und Soziabilität wird als die Nähe und Duldsamkeit gegenüber Artgenossen ermittelt.
Wir haben an der Forschungsstelle mit neuen Mutexperimenten begonnen. Bei unseren Gänsen haben wir den Mut mit einer standardisierten Methode gemessen, der sogenannten Fluchtdistanz. Dies ist die Distanz, die eine Gans von einem sich nähernden, unbekannten potenziellen Fressfeind, einschließlich eines Menschen, einnimmt. Eine Möglichkeit, dies zu messen, ist die folgende – wir setzen dafür jeden willigen Gast und Studierende ein, die den Gänsen unbekannt sind: Ein unbekannter Mensch beginnt in einer Entfernung von zehn Meter von einer Gans und geht einen Schritt pro Sekunde. Die beobachtende Person notiert dann die Distanz des Menschen, bevor sich die Gans fortbewegt. Eine mutige Gans toleriert die Annäherung eines Menschen bis auf etwa einen Meter, während eine scheue Gans vielleicht schon auf fünf Meter wegfliegt. Wir haben dies zahlreiche Male und über Jahre hinweg getestet und bei unseren Gänsen konsistente Unterschiede in Bezug auf ihren Mut festgestellt. Einige tolerieren die Annäherung von Menschen bis auf wenige Meter, während andere viel früher wegfliegen.
Als nächstes haben wir die Aggressivität getestet. In diesem Fall haben wir das Verhalten vor Spiegeln sowie Drohungen und Bisse zwischen Artgenossen untersucht. Die Gänse erkennen sich selbst nicht in einem Spiegel – das hatten wir bereits zuvor herausgefunden. So hatten wir die Möglichkeit, ihre Reaktion auf einen unbekannten Vogel mit der gleichen Körpergröße mit einem Spiegeltest zu prüfen. Wir stuften eine Gans als sehr aggressiv ein, wenn sie fauchte und ihr Spiegelbild angriff, aber sie erhielt eine niedrige Aggressionsbewertung, wenn sie kurz in den Spiegel blickte, sich dann schnell entfernte und in eine andere Richtung lief. Unsere Ergebnisse für den Spiegeltest sind über die Jahre hinweg ziemlich beständig.
Unsere Gänse sind durch die Farbringe individuell unterscheidbar, sodass diese Population eine einzigartige Gelegenheit bietet, agonistische, also feindselige, Interaktionen zwischen den Mitgliedern der Schar zu messen, einschließlich vollständiger Informationen darüber, wer das agonistische Verhalten an den Tag gelegt hat und wem gegenüber dieses Verhalten gezeigt wurde. Attackieren unsere aggressiven Gänse, die so stark auf den Spiegel reagieren, auch ihre Artgenossen? Ja, das tun sie. So greifen beispielsweise Jumper, Jafar und Allegra den Spiegel eher an, Erdbeere, Lazlo und Hedwig hingegen nicht. Das deckt sich auch mit anderen Beobachtungen dieser Individuen: Bei unseren Fütterungsbeobachtungen war Jumper zum Beispiel die bei Weitem aggressivste Graugans. Jumper jagte eine große Anzahl von Gänsen umher und auch Allegra und Jafar zischten ihre Artgenossen an, wenn sie sich diversen Futterstellen näherten. Das taten sie überall, wo wir ihnen begegneten, beim Auingerhof, Oberganslbach oder im Cumberland-Wildpark. Wenn Graugänse in einen Kampf verwickelt waren, dann waren es oft sie. Im Gegensatz dazu hielten sich die friedfertige Erdbeere, Lazlo und Hedwig am Rande der Gruppe auf und gingen Konflikten aus dem Weg. Sie waren nur selten in Kämpfe mit anderen Gänsen verwickelt.
Aufgrund Tausender Beobachtungen agonistischer Interaktionen zwischen den Gänsen wissen wir, dass einige Gänse sehr aggressiv sind und viel mit anderen Gänsen streiten, vor allem beim Fressen. Andere Gänse neigen hingegen gar nicht dazu, mit anderen Gruppenmitgliedern aggressiv zu interagieren. In einer Studie, die wir zusammen mit unserer Praktikantin Mara Krupka durchgeführt haben, untersuchten wir die Verteilung der Verhaltenskategorien in der Gänseschar, d. h. wie viele Gänse rasten, sich bewegen oder fressen im Verhältnis zur Anzahl der Auseinandersetzungen zwischen Gänsen.
Es überrascht vielleicht nicht, dass die Gänse in den Spitzenzeiten der Fütterung viel häufiger in agonistische Interaktionen verwickelt waren. Sehr überraschend war hingegen, dass der Zusammenhang zwischen der Anzahl der fressenden Gänse und der Anzahl der agonistischen Interaktionen nicht linear, sondern quadratisch war, d. h. er erreichte ein Plateau, in unserem Fall nach einer Gruppengröße von etwa fünfzig Gänsen. Nach dieser Zahl verzeichneten wir immer noch etwa fünfundvierzig agonistische Interaktionen pro zehn Minuten, unabhängig davon, ob die Zahl der fressenden Gänse fünfzig oder hundert betrug. Warum nahm die Zahl der agonistischen Interaktionen nicht linear zu? Das hat uns zum Nachdenken gebracht. Könnte das Dominanz-Rangsystem eine Rolle bei der Bewältigung von Kosten des Gruppenlebens spielen und insbesondere in Systemen mit aggressiven Persönlichkeitstypen von Bedeutung sein?