Was über den Rang entscheidet

In einer Dominanzhierarchie, vergleichbar einer „Hackordnung“, erhalten einige Individuen mehr Zugang zu Ressourcen als andere. Wie wir bei unseren Gänsen gesehen haben, haben verpaarte Vögel mehr soziale Verbündete, die ihnen helfen, Zugang zu Ressourcen zu erhalten. Mit dem Elo-Ranking, einem Bewertungsprogramm, das auch für Spiele wie Schach verwendet wird, haben wir eine Dominanz-Rangliste erstellt. Dazu berechnet man eine Matrix, die alle gewonnenen und verlorenen Zweikämpfe zwischen allen Mitgliedern der Schar vergleicht.

Das Ergebnis war wie folgt: Die per se aggressivsten Gänse, die wir mit dem Spiegeltest gegen einen in Größe und Verhalten identischen Gegner (weil es sich um ein Spiegelbild handelte) getestet haben, gewannen auch mehr Kämpfe mit anderen Artgenossen und waren die dominanten Gänse. Im Fall unserer Gänseschar waren das Jumper und Jafar. Die beiden gehen aus den meisten Interaktionen siegreich hervor und werden nur selten von anderen angegriffen. Im Gegensatz dazu sind die rangniedrigsten Individuen wie Natalie und Pudding vielen Angriffen ausgesetzt. Sie vermieden ihr Spiegelbild und begannen nicht viele Kämpfe, wahrscheinlich, weil sie verlieren würden. Einige Einzeltiere sind aggressiv, aber die meisten aggressiven Vögel sind ebenfalls verpaart. Ich vermute, dass Testosteron sowohl beim Gewinnen aggressiver Interaktionen als auch bei der Verteidigung des Partners und der Familie eine Rolle spielt und daher ein Anreiz zur Paarung sein könnte.

Vielleicht ist der Dominanzrang ein Mechanismus, mit dem in Gruppen lebende Tiere die Kosten des Gruppenlebens, etwa den Wettbewerb um Ressourcen wie Nahrung und Partner, abmildern und gleichzeitig seine Vorteile wie erhöhte Wachsamkeit – mehr Augen, die nach Fressfeinden Ausschau halten – maximieren. Auf jeden Fall korrelieren bei unseren Gänsen Aggressivität und Dominanz in der Rangordnung deutlich. Man könnte nun also annehmen, dass Aggressivität, die eine Gans als Partner attraktiv macht und ein Hinweis auf ihr Ressourcenpotenzial sein könnte, auch ihren Erfolg als Influencer-Gans vorhersagt? Nein, tut sie nicht!

In der menschlichen Gesellschaft preisen wir häufig Intelligenz und Innovation. Die Innovationsfähigkeit steht in engem Zusammenhang mit der individuellen Bevorzugung der Erkundung. Wie sieht es in dieser Hinsicht mit den Gänsen aus? Bei Gänsen, die mehr auf Entdeckungstour gehen, kann man davon ausgehen, dass sie neue Gebiete und neue Vorgehensweisen ausprobieren. Wir haben unsere handaufgezogenen Gänseküken im Zuge von Experimenten in Kammern mit neuen Arealen gesetzt, um individuelle Unterschiede zu messen. Einige Gänseküken gingen in jeden Bereich der neuen Arena und waren sehr erkundungsfreudig. Andere, weniger erkundungsfreudige Gössel betraten dagegen nur einige Quadranten der zwölf möglichen Bereiche.

Mit den erwachsenen Gänsen können wir solche „Novel Arena Tests“ nicht durchführen, da sie zu sehr gestresst wären und sich nicht normal verhalten würden, wenn sie von der Schar abgesondert würden. Aus anderen Studien wissen wir aber: Tiere, die ein neues Objekt meiden, also neophobes Verhalten zeigen, sind auch weniger erkundungsfreudig. Und so beschlossen wir, eine Reihe von Neophobie-Experimenten durchzuführen. Wir haben uns einige Versuchsanordnungen überlegt: zum Beispiel eine nur mit Lebensmitteln und eine andere mit Lebensmitteln und einem neuen Objekt – kleine, schräge Skulpturen aus Holzstücken und Plastikbechern, Kleiderbügeln und Zahnbürsten, die auch noch bunt bemalt waren.

Einige Gänse waren hochgradig neophob und brauchten viel länger, um sich dem Futter mit dem neuen Objekt zu nähern, andere hingegen kümmerten sich überhaupt nicht darum und näherten sich genauso schnell. Um herauszufinden, ob es sich dabei um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt, haben wir die Kontroll- und Testbedingungen an verschiedenen Tagen wiederholt. Und ja, eine neophobe und daher wenig erkundungsfreudige Gans an einem Tag war auch an einem anderen Tag wenig erkundungsfreudig, sogar bei Messungen über mehrere Monate.

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Sturmwind hetzt auf Ericsson, der ihr ausweicht. Agonistische Interaktionen – also Kämpfe, bei denen gepickt, gejagt, gedroht oder geschnappt werden kann – zwischen zwei Graugänsen um Futter und Partner sind besonders häufig unter ähnlich ranghohen Individuen.

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Fritz stürzt sich auf Erdbeere, während die Gänseschar bei der Fütterung in unmittelbarer Nähe ist. Wenn eine Gans eine andere angreift, kommt es häufig vor, dass sich ein Unbeteiligter einmischt und zum Gegenangriff ansetzt und damit seine Unterstützung für das Opfer zeigt, das wahrscheinlich ein sozialer Verbündeter ist.

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Kolibri ist offen für Neues, wie hier beim Betrachten einiger neuer Objekte, die in Tests verwendet wurden. Gänse, die offen für Neues sind, nähern sich zum Beispiel einem Futterbehälter mit einem neuen Objekt oder ohne.

Bestimmt die Erkundungsbereitschaft einer Gans aber auch, ob sie ein neues Futtergebiet annimmt bzw. erschließt? Dazu etablierten wir im Versuch neue Futterstellen. Zunächst gewöhnten wir die Gänse wochenlang an eine Reihe von Holztafeln. Dann stellten wir diese Holztafeln an neue Futterplätze, an denen die Gänse in den vergangenen fünfzig Jahren noch nicht gefüttert worden waren, selbstverständlich mit zusätzlichem Futter. Das Ergebnis: Die Werte für Erkundungsbereitschaft korrelierten mit den Werten für die neue Futterstelle. Gänse, die erkundungsfreudiger waren, waren auch eher bereit, an der neuen Futterstelle zu fressen.

Mutig, offen für Neues und nur wenig aggressiv: die Merkmale von Influencer-Gänsen

Wie sieht es nun mit unseren Influencer-Gänsen aus? Welche Eigenschaften haben sie? Ich habe alle Persönlichkeitswerte verglichen und bin zu folgendem Schluss gekommen: Die Top-Influencer-Gänse haben einerseits sehr niedrige Werte für Aggressivität, andererseits verfügen sie über hohe Werte für Mut. Und sie alle weisen mittlere Werte für Neophobie und damit für Erkundungsverhalten auf. Wenn man darüber nachdenkt, ergibt das durchaus Sinn: Würden Sie einer hochaggressiven Gans folgen wollen? Ich nicht! Die Gans könnte zwar ein neues Gebiet für Sie erschließen, würde aber im Anschluss die vorhandenen Ressourcen wahrscheinlich nicht mit Ihnen teilen. Es scheint also eine gute Idee zu sein, einer nicht aggressiven Gans zu folgen, wenn man einen Teil des Kuchens abbekommen möchte.

Der große Mut der Influencer-Gänse bedeutet, dass sie wahrscheinlich eher nützlich sind, um sich gegen einen Fressfeind zu verteidigen – und genau das macht einen guten Verbündeten aus. Ihre mittelmäßig ausgeprägte Neophobie geht einher mit einem geringen Risikoverhalten. Anders ausgedrückt: Sie sind mäßig geneigt, etwas Neues zu entdecken, werden dabei aber nicht allzu viele Risiken eingehen. Diese Eigenschaften scheinen eine Influencer-Gans auszumachen. Und sie unterscheiden sich von den Eigenschaften, die eine hochrangige Gans in der Dominanzhierarchie ausmachen! Eine solche Gans setzt Aggression ein, um an Nahrungsressourcen und Partner zu gelangen. Eine Influencer-Gans hingegen ist mutig, mäßig forschend und könnte auf diese Weise an neue Informationen gelangen.

In diesem Zusammenhang stellte sich für uns die Frage: Ist es wahrscheinlicher, dass Follower neue Verhaltensweisen kopieren, wenn sie einer Influencer-Gans folgen? Unser nächster Schritt bestand nun also darin, diese experimentell ermittelten individuellen Unterschiede in verschiedenen sozialen Kontexten zu betrachten: Im sozialen Kontext spielten die individuellen Unterschiede in Bezug auf Aggression, Mut und Erkundung im sozialen Leben der Gänse auf unerwartete Weise eine Rolle. Einige Eigenschaften waren damit verbunden, eine Influencer-Gans mit vielen Anhängern zu sein, und andere Eigenschaften damit, ein hochrangiges Mitglied der Gänsegesellschaft mit Zugang zu Nahrungsressourcen zu sein.

Diese Untersuchungen laufen noch. Aber unsere bisherigen Ergebnisse zeigen, dass es bei den Gänsen zwei parallele Systeme zu geben scheint, die ich als Influencer-System und Dominanzhierarchie bezeichne. Der Dominanzrang ist bei Paaren höher, sowohl bei Männchen als auch bei Weibchen. Diese Vögel, sowohl Männchen als auch Weibchen, neigen auch dazu, aggressiver zu sein, was wir in einem anderen Kontext gemessen haben, nämlich als deren Angriff während eines Spiegeltests. Paare konkurrieren in der Regel besser und gewinnen Interaktionen gegen Singles. Die Dominanzhierarchie hat daher sowohl individuelle Komponenten wie Aggressivität als auch soziale Komponenten wie die Wahrscheinlichkeit auf einen sozialen Verbündeten und einen erfolgreichen Paarungsstatus.

Der Influencer-Wert wiederum wird durch andere Persönlichkeitsmerkmale vorhergesagt und steht in Verbindung mit der Mobilisierung von Teilgruppen in neue Gebiete, wie Futterplätze und Schlafplätze. Vielleicht handelt es sich bei dem Influencer-System um einen Informationstransfer, der das Potenzial hat, Innovation (durch die Influencer) zu schaffen und in der Folge Tradition (dank der Follower) hervorzubringen. Die Influencer bringen Gruppen in neue Gebiete, wo ihre Anhänger die neuen Informationen oder die neue Art, Dinge zu tun, vielleicht durch Mechanismen wie soziale Nachahmung und soziales Lernen vor Ort übernehmen.

Mit großer Vorsicht, aber mit einem offenen Geist, ist es verlockend, daraus folgenden Schluss zu ziehen: Vielleicht haben wir mit dieser Untersuchung einen allgemeinen biologischen Mechanismus für gleichzeitige Systeme aufgedeckt. Einerseits für die Informationsübertragung über das Influencer-System mit Anführern und Anhängern. Und auf der anderen Seite für die Ressourcenverteilung auf der Grundlage von Aggressivität und Dominanzrang, vermittelt durch die sozialen Verbündeten und die soziale Unterstützung der Tiere.

Es ist außerdem verlockend, vorzuschlagen, dass es in der menschlichen Gesellschaft auch zwei parallele Systeme geben könnte, die auf eine uralte biologische Veranlagung zurückgehen, einen biologischen Baustein, der Systeme für den Informationsfluss mit Followern auf der einen Seite und Systeme für den Zugang zu Ressourcen auf der anderen Seite begünstigt. In unserer Gesellschaft werden Influencer interessanterweise von ressourcenhungrigen Interessensgruppen vereinnahmt, die ihre Produkte im Huckepack mit dem Influencer verkaufen. Auf diese Weise treffen diese beiden parallelen Systeme aufeinander.

Schauen, was dahintersteckt

Und was ist mit den Followern? Mit ihnen kommen wir noch einmal zurück zu den Spiegeltests. Dabei passierte nämlich etwas Bemerkenswertes: Während etwa ein Drittel der Gänse beim Anblick des Spiegelbildes den Spiegel angriff, ein Drittel schnell wegging und einen Konflikt vermied, tat das übrige Drittel etwas, was mir die Kinnlade herunterfallen ließ. Diese Tiere gingen lässig auf den Spiegel zu, um ihn herum und schauten hinter ihn. Dieses Verhalten war bei den Followern zu beobachten, während es bei den aggressiven Gänsen mit hohem Rang oder den leicht neophoben Influencer-Gänsen nicht häufig vorkam.

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Masterstudentin Mariia Klymenko fotografiert Graugänse aus nächster Nähe. Das Bild zeigt, wie sehr die Graugänse an der KLF an menschliche Beobachter*innen gewöhnt sind.

Vielleicht ist ein Follower also eher bereit, den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser zu wagen, als wir denken. Vielleicht ist eine Follower-Gans offener für Neues, als wir dachten? Was geht im Kopf der Gans vor, wenn sie hinter den Spiegel geht? Verfügt sie über Vorstellungskraft? Für mich gibt es hier Parallelen zum Menschen, denn manche von uns sind aggressiv und konfrontativ, während andere Fantasie haben und über das hinaussehen, was sich direkt vor ihnen befindet.

Unsere weiteren Untersuchungen werden uns Aufschluss darüber geben, was wir vielleicht auch den Followern zuzutrauen haben. Jedenfalls stellen die unterschiedlichen Persönlichkeiten unserer Gänsegesellschaft evolutionär gesehen ein Fitness-Reservoir dar, das viele Möglichkeiten offenlässt: Eine Vielfalt an Persönlichkeiten erhöht die Resilienz einer Population, genauso wie das auch die genetische oder soziale Vielfalt tut. Sie machen die Gruppe widerstandsfähiger für Herausforderungen, denen die Gänse und wir schon gegenüberstehen oder die noch auf uns zukommen werden.

Sie fragen sich vielleicht, ob Persönlichkeitsmerkmale über Generationen hinweg bestehen bleiben? Und ob sie weiter vererbbar sind? Wir haben noch keine Daten über die Gänse, um diese Fragen zu beantworten, aber eine Beobachtung legt nahe, dass Charaktereigenschaften über Generationen hinweg weitergegeben werden können. Meine Kollegin Dido erzählte mir, dass Dorothea ein rebellisches Junges war. Sie war oft allein unterwegs, auch wenn sie aufmerksame Eltern hatte. Bemerkenswerterweise überlebte sie trotz der Gefahren und Risiken der Füchse. 2023 ist ihre Tochter Diega ebenfalls eine Einzelgängerin! Unser Gänseteam hat beobachtet, wie sie als Jungvogel scheinbar ohne Eltern in der Mitte der Schar umherzog und sich mit den anderen Gänsen herumtrieb, aber sicher nicht in der Nähe ihrer Eltern Dorothea und Babaco blieb.

Manchmal machen sich Eltern Sorgen um die Charaktereigenschaften ihrer Sprösslinge und denken, dass sie das tun sollten, was auch alle anderen tun. Aber das Beispiel von Diega und Dorothea zeigt, dass gerade das Anderssein manchmal zum Erfolg verhilft: Diega war das einzige Gänseküken, das im Jahr 2023 überlebte (von insgesamt 185 Eiern).