Als ich einmal in Wien auf die Straßenbahn wartete, um zu unserem neuen Biologiegebäude (UBB) zu fahren, wo ich Vorlesungen über Tierverhalten und Evolutionstheorie halte, beobachtete ich eine männliche Taube, die aktiv mit einem scheinbar uninteressierten Weibchen flirtete. Die Taube bewegte sich in weiten Bögen, gurrte und schwang die Flügel. Eine tolle Show. Ich dachte kurz, dass sicher alle Wartenden diese Vorführung beobachteten – stellte aber fest, dass die meisten auf ihre Handys starrten. Nur ein Paar erwiderte meinen Blick lächelnd und wir genossen das Spektakel gemeinsam.

Wien ist übrigens auch die Stadt mit einer schurkischen Bande von steinewerfenden Krähen, die sowohl an unserem UBB-Gebäude als auch an dem 2023 neu eröffneten Parlamentsgebäude Sprünge in den Glasdächern verursachten. Aber auch hier gilt es wieder zu bedenken: Nicht alle Krähen sind Steinewerfer – nur einige von ihnen. Und nicht alle Krähen ahmen das Steinewerfen nach, sondern auch davon wiederum nur einige. Das ist insbesondere bedenkenswert, wenn es um die Abwehr von solchen unerwünschten Verhaltensweisen geht. Es ist im konkreten Fall nicht notwendig, alle Krähen abzuwehren, es reicht, die Gebäude vor jenen Individuen zu schützen, die mit ihrem Verhalten Schaden anrichten.

Einige Gänse hier im Almtal haben ebenfalls ihre Traditionen. Wenn man Sinda und Blasius bei der Aufzucht ihres Nachwuchses entlang des Almsees beobachtet, während Demant und Lauffuss stets am Waldrand genistet und Timber und Murphy jedes Jahr die Bruthütten in den Teichen benutzt haben, kommt man zu dem Schluss, dass jede Gans ihre eigenen Entscheidungen trifft. Die Töchter nisteten dann in denselben Gebieten wie ihre Eltern. Und auf diese Weise wurde die Tradition innerhalb der Familien weitergegeben. Die Gänsegesellschaft insgesamt scheint eher konservativ zu sein, aber es gibt genug Individualität innerhalb der konservativen Gesellschaft, sodass Veränderungen möglich sind. In den vergangenen fünfzig Jahren haben wir diese Traditionen beobachtet, angefangen bei der Frage, wo die Gänse nisten und fressen, bis hin zu der Frage, wie sich eine Vorliebe für eine neue Pflanzensorte zunächst innerhalb einer Familie und dann zwischen den Familien verbreitet. Einige Gänse sind weit gereist und haben neue Partner mitgebracht und Familien mit neuen Traditionen und Vorgehensweisen gegründet. Andere schlossen sich in Deutschland oder Kroatien einer Gänseschar an und brachten zweifellos ihre Almtaler Lebensweise in fremde Länder mit.

Wie aber kommt es von einer innovativen Gans zu einer neuen, von vielen geteilten Tradition, die vielleicht besser an neue Bedingungen angepasst ist? Mir scheint, wir brauchen Innovationsgänse und Nachahmergänse, also sowohl Individuen, die originell und ideenreich sind, als auch solche, die eine gute Idee nachmachen. Hier könnten wir von unseren Beobachtungen in Bezug auf die Influencer-Gänse profitieren.

Solche Zyklen von Innovation und Tradition liegen allen Tiergesellschaften zugrunde, auch unserer menschlichen. Ich hoffe aufrichtig, dass wir uns auf eine neue Ära des innovativen Denkens über Nachhaltigkeit einlassen und dies in eine neue Ära der Tradition umsetzen können. Wenn eine Gans das kann, können wir das doch sicher auch, oder?

Pflanzenfresser als Artenschützer?

Ich möchte noch einmal zu der eingangs gestellten Frage zurückkehren: Kann die Gans als nicht gefährdete Art ein Symbol für die Artenvielfalt in unserer anthropozänen Welt sein? In den vergangenen neunundzwanzig Jahren ist die Temperatur im Almtal um 1,5 Grad Celsius gestiegen. Entsprechend hat sich zum Beispiel auch das Verhalten der Gänse bei der Eiablage verändert. Die erfahreneren Weibchen legen nach einem wärmeren Winter mit geringerer Schneedecke im Frühjahr früher Eier, und ihr Nachwuchs frisst die frischen Gräser, die ebenfalls früher verfügbar sind. Unsere Gänse profitieren in dieser Hinsicht also tatsächlich vom Klimawandel. Zumindest machen sich die erfahrenen Gänse ihn zunutze. Das gilt auch für den verminderten Zugzwang während der Wintermonate – eine energetisch teure Maßnahme, die sich die Gänse aufgrund der wärmeren Temperaturen sparen können. Die Kehrseite der Medaille ist das erhöhte Aufkommen von Parasiten, von denen die Vögel befallen werden. Graugänse können an Bandwurm, Lungenwurm und von Zecken übertragenen Viren leiden, insbesondere in Jahren mit höheren Durchschnittstemperaturen.

Wir Menschen erzeugen einen starken Selektionsdruck, der das Leben der Pflanzen und Tiere um uns herum verändert. Allerdings ist es wissenschaftlich untermauert, dass wir in Gebieten mit geringerer Artenvielfalt weniger glücklich sind und mehr Stress haben. Die Beziehung zur Artenvielfalt hat also durchaus zwei Seiten. Die Gänse – als soziale Pflanzenfresser, als Weidetiere, die anderen Weidetieren folgen – könnten uns helfen, unser Verhalten in unserer bereits so umgestalteten Umwelt zu erkunden. Wenn wir die bemerkenswerten Fähigkeiten der Gänse kennenlernen, die ihnen helfen, hier zu gedeihen, können wir damit auch darüber nachdenken, wie unser Handeln unser und ihr Verhalten verändert. Ihr komplexes soziales System, ihr ausgezeichnetes Seh- und Hörvermögen, ihre Fähigkeit zu lernen, über große Entfernungen zu navigieren, soziale Allianzen zu bilden und soziale Partnerschaften zu nutzen, um ihr Verbreitungsgebiet und den Zugang zu Ressourcen zu erweitern – all das macht die Gänse zu einem spannenden System, um zu beobachten und zu messen, wie sich eine sich verändernde Welt schnell in unterschiedliche Traditionen der Tiere in Bezug auf Futterplätze, Nester und Lebensweise niederschlagen kann.

Wissen entsteht über Generationen

In diesem Buch habe ich mehrere Beispiele für intergenerationelle Veränderungen angeführt. Aber um das klarzustellen: Bisher haben wir die generationenübergreifende Beständigkeit von Phänotypen (das Erscheinungsbild einschließlich der Persönlichkeit) gemessen, und wir haben nicht versucht, genetische Veränderungen auf der Ebene des Genotyps (das Erbgut) zu messen. Wir haben etwa beobachtet, wie sich die Schlaf- und Nistplätze der Graugänse über Jahrzehnte hinweg verändert haben, wie der Klimawandel die Eiablage und den Nesterfolg beeinflusst, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Jungtieren die soziale Integration und das psychologische Wohlbefinden der sich entwickelnden Gänseküken bestimmt und wie Hinweise auf die Individualität dazu beitragen, wer in der Gruppe eine Führungsrolle übernimmt und wer nicht. Erst dank Lorenz und Kolleg*innen ist das Verhalten von Tieren eine Evolutionswissenschaft.

Aus diesem Grund messen wir heute, wie die natürliche und sexuelle Selektion Verhaltensmerkmale und Erscheinungstypen über Generationen hinweg begünstigt. Und wir fragen auch, welche Merkmale über die Evolutionsgeschichte hinweg bei den Vorfahren von Arten mit komplexen sozialen Systemen vorhanden sind. In Echtzeit und vor unseren Augen können wir bei unseren handaufgezogenen Gänseküken sehen, wie wichtig es ist, solche generationenübergreifenden Veränderungen zu berücksichtigen. In unserer groß angelegten Vergleichsstudie über das Schicksal der handaufgezogenen Gänseküken im Vergleich zu den wild aufgezogenen – und die Stichprobe war mit 330 handaufgezogenen Gänseküken und 631 wild aufgezogenen Gänseküken sehr groß – gab es nur geringe Unterschiede beim Paarungserfolg oder der Anzahl der gelegten Eier. Allerdings gab es große Unterschiede zwischen den von Hand aufgezogenen und den von Gänsen aufgezogenen Gösseln in Bezug auf die Überlebensraten in den frühen Stadien ihres Lebens. Gemessen an der Anzahl der Eier wurden handaufgezogene Gössel viel eher flügge als gänseaufgezogene Gössel. Aber dann, nach dem Flüggewerden, drehte sich die Überlebenskurve in die andere Richtung. Nun hatten die handaufgezogenen Jungvögel ein höheres Prädationsrisiko, es war also wahrscheinlicher, dass sie einem Beutegreifer zum Opfer fielen. Warum?

Als wir uns die räumliche Verteilung dieser Tiere in der Schar anschauten, waren diese handaufgezogenen Graugänse eher am Rande der Schar zu finden; sie hatten wenige Familienangehörige. Erinnern Sie sich, als ich weiter oben zum ersten Mal von der Gruppenstruktur der weiblichen Sub-Clans erzählt habe? Mütter und ihre Nachkommen – Tanten, Cousinen, Großmütter – bilden Unterclans. Aber wenn man keine Familie hat, wo ist dann der Kreis, zu dem man gehört? In solchen Fällen befindet man sich eher am Rande der Gruppe und ist somit eher dem Risiko von Fressfeinden ausgesetzt.

Wir hatten mehrere sehr erfolgreiche von Hand aufgezogene Gänse, darunter zum Beispiel Timbers Mutter Tlingit. Allerdings brauchte Tlingit zwei bis drei Generationen, um ihre eigene Subeinheit innerhalb der Schar zu sichern. Diese transgenerationalen Auswirkungen dürfen nicht übersehen werden. Wir sollten daher sehr vorsichtig sein, wenn wir in das Leben der Tiere eingreifen. Zwar können sie sich über die Zeit hinweg integrieren, aber nicht jedes Individuum hat dieses Glück. Denken Sie an den Fall der Menschen, wo es ähnliche Muster gibt: Wenn Menschen aus dem Ausland in ein neues Land ziehen, haben sie in der Regel in der ersten Generation oft keine oder nur wenige Freunde oder Familie und es dauert oft zwei oder drei Generationen, bis eine „fremde“ Familie vollständig in eine Gemeinschaft integriert ist. Das gleiche Muster sehen wir bei unseren Gänsen.

Auf den Schultern von Giganten stehen – und auf jenen von Gigantinnen

Als ich ab 1984 Verhaltensbiologie studierte, waren fast alle Professoren männlich. An verschiedenen Universitäten erklärten viele meiner männlichen Kollegen den Studierenden der Verhaltensbiologie auf grandiose Weise, dass sie – ähnlich wie Konrad Lorenz – ihre Kindheit auf dem Land verbracht und schon ihr ganzes Leben lang Insekten und Vogeleier gesammelt oder Tiere gejagt hatten. Das implizierte, dass der beste Weg, um in der Tierverhaltensforschung gut zu sein, offenbar darin bestand, im ländlichen Raum aufgewachsen zu sein. Ich habe mich immer ein wenig wie ein seltsames Ei unter diesen Tierverhaltensforschern von damals gefühlt, weil ich in einer Großstadt aufgewachsen und zudem ein Mädchen war, das sich für die Wissenschaft interessierte.

Dieses Gefühl änderte sich, als ich 1989 Jane Goodall traf und meinen ersten richtigen Job als Pavianforscherin antrat. Sie hatte den Forschungsort ausgewählt, an dem ich zwei Jahre lang Paviane in Ostafrika erforschte, den Mikumi-Nationalpark. Ich bin überzeugt, dass es vor allem meine pure Leidenschaft in Kombination mit jahrelanger Schreib- und Lesearbeit war, die mir diese erste Stelle beschert hat. Als Jane mich später als Freiwillige akzeptierte, um 1991 das Roots-and-Shoots-Programm ins Leben zu rufen, wurde der Grundgedanke gestärkt, dass Menschen aus allen Ländern und Gesellschaftsschichten eine Rolle in der Naturwissenschaft und für das Wohlergehen von Mensch und Tier spielen können und sollten. Heute betrachte ich Goodall in vielerlei Hinsicht als meine Mentorin. Sie war ein sehr wichtiges weibliches Vorbild für mich.

Wir alle kennen die Redewendung: „Wenn ich weiter gesehen habe, dann nur, weil ich auf den Schultern von Giganten stand.“ Bis vor Kurzem erst waren diese Riesen in den Wissenschaften fast ausschließlich Männer. Ich freue mich, hinzufügen zu können: „Und jetzt gibt es auch Gigantinnen.“

Konrad Lorenz und Jane Goodall waren beide solche Giganten in der Verhaltensforschung, und sie waren befreundet. Goodall sagte einmal, Lorenz’ Buch „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ habe sie zur Arbeit mit Tieren inspiriert. Ich fühle mich geehrt, den Staffelstab der Verhaltensforschung sowie der Inklusion eines Tages an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Immer wieder werden wir an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau von Besucher*innen gefragt, ob wir denn nicht längst schon alles über die Graugänse herausgefunden hätten. Seit Lorenz’ Zeiten, seit fünfzig Jahren eben, erforschen wir diese Vögel und noch immer sollen sie Geheimnisse für uns bereithalten?

Ja, genau so ist es, antworte ich dann gerne. Wissenschaft heißt schließlich nicht, an einem Punkt alles über die Graugänse oder ein anderes „System“ herausgefunden zu haben. Stattdessen bedeutet es, zu begreifen: Je besser man ein System kennt, desto besser kann man Fragen bezüglich dieses Systems stellen, Antworten verstehen und Lösungen aufzeigen. Uns werden die Fragen und Herausforderungen also nie ausgehen, denn die Umstände und die Bewohner*innen auf unserem Planeten verändern sich ständig.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse für mich auf meinem bisherigen Weg mit den Graugänsen ist: Die Tiere sind alles andere als die uniformen Mitglieder einer Schar, als die wir sie oft sehen. Jede Gans hat ihren Charakter. Obwohl es so aussieht, als wären sie alle gleich, hat jede zudem ihr individuelles Gesicht, ihre eigene Stimme, ihren spezifischen Ruf.

Dazu kommen die ethischen Überlegungen, für die Rechte anderer Lebewesen, für den Erhalt der biologischen Vielfalt einzutreten, selbst wenn der Mensch keinen Nutzen daraus zieht. Schön langsam könnte uns nämlich dämmern: Nicht nur die Tiere, auch wir Menschen finden in Gegenden mit sauberem Wasser und guter Luft bessere Lebensbedingungen vor. Und weil wir davon profitieren, dass wir die vielfältigen, über Jahrtausende entwickelten Lösungen der Natur für die Bewältigung von Herausforderungen nachahmen, ist es einfach, dafür zu plädieren, die biologische Vielfalt auch zu unserem Nutzen und in unserem Interesse zu bewahren.

Wir können lernen. Wir können uns und unsere Haltung verändern. Auch jene gegenüber den Gänsen. Wir können sie als Individuen und Gemeinschaftswesen wahrnehmen, genauso wie wir ihre Art, innovativ zu sein, anerkennen können. Wir können darüber staunen, wie sie in allen Elementen – Luft, Erde, Wasser – zu Hause sind, wie sie sowohl als individuelle Persönlichkeiten als auch als soziale Pflanzenfresser mit anderen Arten zusammenleben und wie auch aus ihrer Gemeinschaft über Generationen hinweg eine Art von „Wissen“ entsteht. Wir könnten offen sein für Aha-Momente, die durch die Betrachtung und Würdigung einer Graugans ausgelöst werden. All das könnten wir würdigen und uns davon inspirieren lassen.

Gemeinsam könnten wir so einen Weg der Lebensfreude beschreiten, der zu einem guten, einem erfüllteren Leben führt – für uns alle.

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Graugans-Menscheneltern an der KLF mit ihren Graugans-Tanten und -Onkeln.