Kapitel zwei
W
enn jemand geht, kommt die schmerzliche Erinnerung zurück. Ich dachte jede Sekunde an Anne. In der U-Bahn, wenn ich in die Innenstadt zur Arbeit fuhr, während ich mit gesenktem Kopf die Königstraße entlangging, und sogar während ich die Drogeriemarktprodukte der Kunden über den Scanner zog. Normalerweise hatte ich ein Buch in dem Regal unter der Kasse versteckt und zog es hervor, wenn keine Kunden da waren und ich mich unbeobachtet fühlte. Die dicke Dana an der Kasse gegenüber lackierte ständig ihre Fingernägel. Sie blickte nur auf, wenn jemand zahlen wollte, mich beachtete sie ohnehin nicht. Die Menschen sahen durch mich hindurch, als sei ich gar nicht anwesend. Aber das war ich gewohnt. Maltes Abweisung hatte mich abgehärtet.
„Hast du das Foto gesehen, das Lea bei All of Us
gepostet hat?“, fragte eine junge Frau mit rauer Stimme. Sie stand mit einer anderen vor dem Regal mit Haarfärbemitteln und sprach sehr laut.
„Nein, noch nicht, aber ich schau nachher gleich mal nach.“
„Sie hat eine neue Frisur, sieht toll aus. Ich finde, sie sieht ein bisschen aus wie Gwyneth Paltrow.“
Wer war Gwyneth Paltrow? Ich vermutete, es müsse sich um eine Schauspielerin handeln. Wir sahen wenig fern. Unsere Fernbedienung war seit Monaten verschollen und jedes Mal, wenn Mama die Glotze abstaubte, murmelte sie, dass wir sie im Grunde genommen gar nicht mehr brauchten. Sie und ich können unsere Liebesfilme auch auf dem Tablet anschauen, Malte korrigierte abends lieber Mathearbeiten oder pflanzte sich mit seinem Laptop auf unser Cord-Sofa. Mama schrieb oft Emails. Sie war fasziniert von der Tatsache, dass ihre Worte binnen Sekunden einen Empfänger erreichen konnten. Unser Familien-Computer stand auf einem hellen Tischchen, das wir auf einem Flohmarkt erstanden hatten, in der
hintersten Ecke des Wohnzimmers. Es war noch einer der dicken Computer, kein moderner Flachbildschirm.
„Und Amanda, die macht richtig Karriere!“, rief die Frau mit der Kettensägen-Stimme und warf eine Packung Färbemittel in ihren Einkaufswagen.
Ich wollte weghören, konnte aber nicht. Diese Frauen lebten in einer anderen Welt. In der, die zählte und in die ich nie einen Fuß setzen könnte. Als habe mir jemand Fesseln angelegt, die mich für immer und ewig in der dunklen Wohnung im Süden der Stadt festhielten. Ich liebte meine Mutter über alles und sie war die beste Mama, die ich mir vorstellen konnte, aber es war nicht die Norm, mit fünfundzwanzig noch mit ihr unter einem Dach zu leben. Ich war wie ein Elefant im Zoo, angekettet und mit begrenztem Aktionsradius. Er starrt auf die Menschen, die dort vor dem Gehege stehen, der wirklichen Welt angehören und ihn genauso anstarren. Der Unterschied war nur, dass ich nicht einmal angestarrt wurde. Höchstens, weil jemand den Kopf über meine nicht vorhandene Frisur schüttelte oder meine Stummelbeine bemerkte – sie hatten gestreikt, als der Rest meines Körpers in die Höhe geschossen war, und betonten meinen zu dicken Hintern. Es gab keine Hose, in der mein Hinterteil vorteilhaft aussah. Egal, wie viel Elastan in dem Stoff verarbeitet war, wo die Taschen saßen oder welche formende Unterwäsche ich ausprobierte. Denn ich las die Werbung in Mamas Zeitschriften, die sich unter dem Sofatisch stapelten, weil ich mich auf eine sonderbare Weise für diese andere Welt, in die ich nie hineingefunden hatte, interessierte. Schubweise versuchte ich, meine Optik ein wenig aufzubessern, aber jeder Versuch scheiterte binnen kürzester Zeit. Also holte ich meine Latzhose aus dem Schrank und pfiff auf all das, was ich niemals sein würde: hübsch, beliebt, erfolgreich und glücklich.
„Also hören Sie, ich stehe hier schon seit mindestens zehn Minuten!“ Die alte Dame, die mich aus wässrig blauen Augen anstarrte, stand direkt vor mir und sprach ein so breites Schwäbisch, wie meine Oma es einst getan hatte. In ihrem Blick brannte die Ungeduld.
Mir blieben zunächst wie immer alle Worte im Hals stecken. Ich räusperte mich und setzte mich ein bisschen aufrechter hin. Dana grinste zu mir herüber und zuckte die Schultern, während sie ihre Finger mit den frisch lackierten, knallroten Nägeln von sich spreizte.
„Tut mir leid“, murmelte ich und zog die Inkontinenzeinlagen über den Scanner.
„Werden Sie jetzt auch noch unverschämt?“ Die Dame beugte sich ein wenig nach vorne.
Ich hielt kurz inne, bevor ich nach dem Vollkornmüsli griff. Blickkontakt hatte ich schon als Kind gemieden, aber jetzt schien er unvermeidbar.
„Das werde ich Ihrem Vorgesetzten melden!“ Die Nasenflügel der Frau blähten sich vor Empörung auf, als mir klar wurde, dass sie der Ansicht war, ich habe mich über ihre Blasenschwäche lustig gemacht.
„Das … war wirklich nicht so gemeint.“ Ich senkte den Blick erneut auf den vertrauten Scanner, der rhythmisch piepste, während ich die Feinstrümpfe, den Tee und die Bio-Kekse auf die andere Seite schob. Danas Blick brannte auf meiner Stirn. Freute es sie, dass ich wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten war?
Als ich das Bio-Schokoladenpulver eingescannt hatte, ruhte mein Blick zunächst auf dem Warentrennstäbchen. Dahinter lag eine Packung Kondome, mehr nicht.
„Geht es noch langsamer?“ Der hagere junge Mann, der hinter der alten Frau stand, strich sich mit einer Hand durch die Haartolle oberhalb seiner Stirn. Obwohl ich es nicht wollte, starrte ich ihn an. Seine hellen Augen, die mit einer feinen schwarzen Kajal-Linie umrandet waren, huschten unruhig hin und her. Ob seine Freundin im Bett auf ihn wartete?
„Junge Frau, auch wenn ich alt bin, habe ich einen Tagesplan. Dürfte
ich jetzt bitte zahlen?“, fragte die alte Dame etwas ruhiger.
„Sie können auch bei mir zahlen!“, rief Dana plötzlich und winkte freundlich lächelnd. Der Mann schnappte seine Kondome vom Band, schüttelte den Kopf und drehte mir den Rücken zu.
„Das macht achtunddreißig Euro und zwanzig Cent.“ Meine eigene Stimme überraschte mich. Sie klang zaghaft, beinahe verängstigt. Meinen dankbaren Blick fing Dana nicht auf, da sie schon mit der nächsten Kundin beschäftigt war.
Die alte Frau holte ihre Geldbörse hervor und kruschtelte umständlich darin herum. Dabei schob sie ihr Kinn nach vorne und senkte den Kopf, als wolle sie in das Fach mit dem Kleingeld hineinschlüpfen. Schließlich leerte sie alle Münzen vor mir aus und ich suchte mir zwanzig Cent heraus.
„Sie sind bestimmt neu hier, nicht wahr?“ Sie musterte mich so eindringlich und wohlwollend, wie es zuletzt die Tante im Kindergarten getan hatte. „Ich wollte Sie vorhin nicht so zurechtweisen“, setzte sie hinzu und versuchte zu lächeln. „Manchmal werde ich etwas ungeduldig. Vielleicht, weil meine Zeit ausgeht.“ Sie zauberte zwei Jutebeutel aus ihrer Handtasche und packte ihre Einkäufe ein. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, alle Worte blieben mir im Hals stecken. Also schluckte ich. Der Kloß war hart und trocken, und es war derselbe Kloß, den ich seit meiner frühen Kindheit mit mir herumtrug. Gedankenversunken sah ich der Frau hinterher, wie sie mit ihren schmalen Schultern und dem krummen Rücken durch die automatische Tür ging, links und rechts beladen, mit ihrem gekräuselten, blau schimmernden Haar. Sie hatte so recht! Unsere Tage waren gezählt. Die Uhr tickte seit der Sekunde, in der wir das Licht der Welt erblickt hatten. Wer wollte da seine Zeit an der Kasse eines Drogeriemarktes vergeuden, nur weil die Kassiererin eine verträumte, langsame Person war?
Noch bevor ich Dana für ihre Hilfe danken konnte, legte der nächste Kunde eine Ladung Windeln und Baby-Feuchttücher auf mein Band. Typ Hausmann, aber sehr attraktiv. Mein Blick war flüchtig, aber
darin geübt, innerhalb kürzester Zeit so viele Details wie möglich festzuhalten. Dieser Mann strahlte Ruhe und ein Selbstbewusstsein aus, um das ich ihn beneidete. Sein Dreitagebart war rötlich braun und seine Baskenmütze saß gekonnt schräg auf dem länglichen Kopf. Mit einem vorsichtigen Lächeln zog ich seine Waren über den Scanner. Er zahlte mit EC-Karte, und als ich sie entgegennahm, berührten sich unsere Finger. Wie ein elektrischer Blitz durchfuhr es mich für den Bruchteil eines Augenblicks. War das die Wirkung einer zärtlichen Berührung? Diese war unbeabsichtigt und bedeutungslos, das war mir wohl bewusst, aber mein Körper war in Alarmbereitschaft. Die einzige körperliche Nähe, an die ich mich erinnern konnte, waren die Zeiten, in denen ich im Schoß meiner Mutter saß, um mich von einem Sturz oder einer Enttäuschung zu erholen. Ihre Umarmung war warm und wohltuend, ihre Nähe ein Nest, in dem ich mich wohlfühlte. Malte hatte mich in meinem Leben kaum berührt. Als sei ich eine giftige Kröte, von der man einen Ausschlag bekommt.
„Danke“, rief ich Dana kurz darauf zu, als sie aufstand und in die Mittagspause verschwinden wollte.
„Wofür?“ Der Ausdruck in ihren Augen war verständnislos. „Der Kunde ist König.“
Ich presste die Lippen zusammen. So war das also. Es war kein Gefallen gewesen, sondern reine Pflichterfüllung dem Einkaufenden gegenüber. Wieder musste ich schlucken. Wieso hatte ich nur gedacht, Dana könnte daran interessiert sein, mir zuliebe etwas zu tun?
Der Nachmittag zog sich in die Länge. Ohne Dana räumte ich in den ruhigen Minuten etwa hundert Schachteln Haarfärbemittel, zwanzig verschiedene Zahnpasten und jede Menge Binden, die am Morgen geliefert worden waren, in die frisch abgestaubten Regale ein. Zwischendurch las ich, vor allem, weil der Wachhund Dana mir nicht gegenübersaß. In meinem Buch fanden sich die Liebenden schließlich, nachdem sie alle Hindernisse überwunden hatten, um
ein gemeinsames Leben zu beginnen. Zugegeben, es war ein wenig kitschig, aber es tat gut, für dreihundert Seiten in eine Person zu schlüpfen, die mehr Glück im Leben hatte als ich.
Um Punkt zwanzig Uhr schloss ich meine Kasse, steckte das Buch in die Brusttasche meiner Latzhose, verabschiedete mich von Miri, einer drahtigen Angestellten mit knallrotem Haar, und machte mich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Über der Stadt lag ein dumpfer Schleier, es würde bestimmt bald wieder Feinstaubalarm geben. Trotzdem atmete ich tief durch, als täte ich es das erste Mal an diesem Tag. Ein Meer aus Menschen hatte sich über die Königstraße ergossen und ein Straßenmusikant spielte eine sehnsüchtige Melodie auf seiner akustischen Gitarre. Ich zog ein paar Münzen aus meiner Hosentasche und ließ sie in seinen Filzhut fallen. Er nickte nur stumm und ließ seine Finger weiter über das glatte Griffbrett gleiten, so sehr war er in der Melodie versunken. Klassische Musik lag mir auch, sie lief oft im Hintergrund, wenn ich Möbel oder Wände bemalte. Meine Mutter sagte, ich sei verrückt, mein Zimmer jedes Jahr mehrmals umzugestalten. Auch wenn ich ihr versicherte, es mache mir Spaß. An einem kalten Herbstnachmittag im letzten Jahr hatte ich sogar vorgeschlagen, die gesamte Wohnung neu zu streichen. Es war eines jener Wochenenden, die Mama in der Küche verbrachte, um eines von Maltes Lieblingsgerichten zu kochen, während mein Stiefvater im Wachkoma auf der Wohnzimmercouch saß. Alles, was er gern aß, war aufwendig und sehr kompliziert zu kochen.
„Ich habe eine Idee“, sagte ich kaum hörbar und knetete meine feuchten Hände nervös vor meinem Bauch. Malte reagierte erst gar nicht, als habe er nicht gehört, dass ich ins Wohnzimmer gekommen war. Sein dichtes, braunes Haar saß perfekt geschnitten auf seinem Kopf, der im Verhältnis zu seinem Körper viel zu klein war. Mama fragte ihn immer, wo so viel Hirn in ihm Platz hätte, und dann lachte Malte nur verlegen und tätschelte sie am Hinterkopf. So, wie er mich am Tag meiner Abiturfeier tätschelte, nachdem ich mit meinem 1,1‑Durchschnitt eine Sonderbelobigung des Rektors erhalten hatte. „Mach was draus, Gundi“, hatte Malte gesagt und mir die Hand auf
die Schulter gelegt, nur ganz kurz, aber mit viel Druck, als wolle er sicherstellen, dass ich seine Worte ernst nahm. Hatte ich sie ernst genommen?
An diesem Tag drehte sich Malte nicht einmal zu mir um. Wenn er mich nicht bemerken wollte, tat er es einfach nicht. Also räusperte ich mich und trat so in seine Nähe, dass er mich auch in seinem komatösen Zustand hätte sehen müssen. Immer noch keine Reaktion. Erst als Mama lächelnd aus der Küche trat, um zu verkünden, dass wir in einer Viertelstunde essen konnten, drehte Malte den Kopf ein wenig zur Seite.
„Ich habe eine Idee, Malte“, wiederholte ich. Immer, wenn ich den Mund aufmachte, taumelten die Worte aus ihm heraus, als haben sie noch nicht laufen gelernt.
Malte wandte seinen Körper in meine Richtung und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei steckte er seine Hände unter die Achseln und sah aus, als habe er sich selbst eine Zwangsjacke angelegt. „Ich höre!“
Wenn Malte sprach, verstummte meine Mutter. Als müssten alle den weisen Worten lauschen, die der Oberlehrer nun von sich geben würde. Wieder kämpfte ich gegen den Kloß in meinem Hals an.
„Neulich habe ich mit Mama gesprochen und vorgeschlagen, ich könnte die Wohnung neu streichen.“ Der Kloß wuchs unweigerlich. Dass Malte zunächst nicht reagierte, machte die Situation nicht einfacher. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als einige ermunternde Worte meiner Mutter, aber sie stand nur da, in ihrer grauen Schürze und den Filzpantoffeln, als habe sie nichts zu melden. Die Uhr an der Wand tickte laut. Bald würde der Kuckuck aus ihr herausspringen.
„Ich bin dagegen“, sagte Malte schließlich und zog seine Zwangsjacke noch ein Stück enger. Mehr sagte er nicht. Ich kämpfe gegen die Tränen an und gegen dieses Gefühl, das an Hass grenzte und mich zu zerfressen drohte. Mit hängenden Schultern verkroch ich mich in
mein Zimmer. Als meine Mutter mich zum Abendessen holen wollte, blieb ich stur. Nachdem sie die Küche aufgeräumt hatte, brachte sie mir einen Teller mit Braten und selbstgemachtem Kartoffelbrei aufs Zimmer.
„Er glaubt, dass es im Herbst ungünstig ist“, sagte Mama und legte eine Hand auf meinen Arm. „Man kann nicht gut lüften.“
Sie setzte sich neben mich aufs Bett, während ich mein Abendessen in mich hineinschaufelte, obwohl es wie immer köstlich schmeckte.
„Außerdem glaubt er nicht, dass ihr denselben Geschmack habt“, fuhr sie fort und sah mich mitleidig an.
„Es war nur ein Vorschlag“, sagte ich noch mit vollem Mund, zog meinen Arm zu mir und bereute es, jemals gefragt zu haben.