Kapitel fünf
M
eine Gefühle bohrten in mir, wie riesengroße Würmer, die meine Eingeweide zerfressen wollten. Das Schlimmste war, dass ich sie mit niemandem teilen konnte. Da ich nur an drei Tagen in der Woche in der Drogerie arbeitete, verbrachte ich viel Zeit in der Wohnung. Egal, was ich tat, nichts war wichtig genug, um mich davon abzulenken, dass ich versagt hatte. Nichts schien mehr eine Bedeutung zu haben, nicht einmal mehr die Debatte darüber, ob ich die Wohnung neu streichen durfte.
Annes Leben hatte ein jähes Ende gefunden. Keiner wusste, wann es für ihn so weit war, und trotzdem lebte man in den Tag hinein, als spiele es keine Rolle! In mir keimte die Gewissheit, dass jeder Augenblick von Bedeutung war, dass jeder Sonnenuntergang, den wir verpassten, eine schöne Erinnerung weniger war, die wir sammeln konnten, um irgendwann einmal auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können. Eines Nachts beschlich mich das dunkle Gefühl, dass ich gern mit Anne getauscht hätte. Dass sie es war, die ihr Leben hätte weiterführen sollen. Sie war in Berlin aufgeblüht, während ich hier in Stuttgart verwelkte wie eine Blume, die keiner goss. Ich konnte mir gut vorstellen, in einem kalten Sarg zu liegen, im Dunkel und in Ruhe, womöglich würde mein Kopf dann aufhören, mir all die Fragen zu stellen. Zu meiner Beerdigung würde vielleicht sogar ein adrett gekleideter Mann mit zu kurzen Beinen erscheinen, dem eine einzige Träne über die Wange rinnen würde. Gerrit Lenz würde bereuen, dass er seine Familie im Stich gelassen hatte. Er würde sich wünschen, die Zeit zurückdrehen zu können, so wie Mama und ich manchmal die Liebesfilme vier- oder fünfmal zurückspulten, um die schönsten Kuss-Szenen noch einmal anzuschauen. Es machte mir Angst, dass ich solche Gedanken hatte. Obwohl ich meinen Vater nicht kannte und nicht verstehen konnte, hegte ich Gefühle für ihn, die an Liebe grenzten. Das meiste, was ich über ihn wusste, stammte von Oma Linda, die vor fünf Jahren verstorben war. Malte hatte es nicht für nötig gehalten, dass wir zum
Begräbnis an die Ostsee fuhren. „Man muss mit der Vergangenheit abschließen“, sagte er lediglich und verschwand im Schlafzimmer. Für ihn hieß das, dass man über unangenehme Themen einfach nicht sprach. Ich war überzeugt, dass man die Vergangenheit nur dann bewältigen konnte, wenn man sich mit ihr auseinandersetzte, aber mit der Zeit hatte ich die Widerworte aufgegeben.
Den meisten Schaden hatte Malte für mich an jenem Tag angerichtet, an dem ich angeblich den Riss in der Bodenfliese verursachte. Ich war am Abend zuvor einfach mit Anne abgehauen. Sie schwärmte mir von der Jugend-Disko vor, die in einer alten Fabrikhalle stattfand und auf der wir viel Spaß haben würden. Also steckte ich meinen Schlüssel in die Hosentasche und verließ die Wohnung, ohne ein Wort zu sagen. Auf meinem Schreibtisch ließ ich einen Zettel liegen, auf dem stand: Bin mit Anne unterwegs, keine Sorge!
Natürlich wusste ich, dass sich zumindest meine Mutter Sorgen machen würde, aber das musste ich in Kauf nehmen. Anne war überglücklich und etwas verwundert, dass ich auf einmal mitdurfte. Ich log mit hinter dem Rücken überkreuzten Fingern und lächelte ihrer Mutter zu, als sie uns viel Spaß wünschte.
Die Disko bestand aus einem einzigen, weitläufigen Raum, in dessen hinterem Teil sich eine Bar befand, an der ein Jugendlicher mit langen, blau gesträhnten Haaren alkoholfreie Cocktails mixte. Die Musik war so laut, dass sie in meiner Brust hämmerte. Anne begab sich sofort auf das Tanzparkett und bewegte sich gekonnt zu den mir fremden Rhythmen. Sie winkte mir zu, doch ich schüttelte nervös den Kopf. Stattdessen stellte ich mich an den Rand und lehnte mich gegen die kalte Mauer. Ab und zu stieg Kunstnebel auf und die Lichter flackerten wie bei einem Sommergewitter. Die Tanzfläche wurde immer voller. Ein besonders großgewachsener, hagerer Jugendlicher zuckte, als habe ihm jemand einen Elektroschock verpasst. Ein Mädchen, das ein langes, schwarzes Kleid trug, hatte die Augen geschlossen und wogte mit ihrem Körper hin und her, als gleite sie über Wellen.
Während ich zu begreifen versuchte, was an dieser Disko so gut war, musste ich an Tante Linda denken, vielleicht wegen der Lichtblitze und der Gedanken an Wellen. Ich sehnte mich danach, mit ihr zusammen an der Ostseeküste zu sein, nur sie und ich. In dieser Menschenmasse fühlte ich mich einsamer als je zuvor. Anne war von dem Meer aus Menschen verschluckt worden und kam erst viel später zu mir, um nach mir zu sehen. Als ich ihr erklärte, ich wolle nicht tanzen, zuckte sie mit den Schultern und verschwand wieder. Sie schien Freude daran zu haben, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden. Also holte ich mir ein Glas Diät-Cola und lehnte mich wieder an die Steinmauer, um dem Treiben zuzusehen. Wieder begannen meine Gedanken mich fortzutragen. Es war sonderbar, ich konnte schon immer physisch und psychisch an zwei komplett unterschiedlichen Orten sein und es war für mich das Normalste auf der Welt!
Tante Linda nahm meine Hand, während unsere nackten Sohlen den weichen Sand unter sich spürten.
„Ich bin so froh, dass du zu Besuch gekommen bist!“ Sie legte einen Arm um mich. „Du bist ein wunderbares Mädchen.“
Bevor wir ihre Wohnung in einem Komplex aus rotem Backstein erreichten, öffnete der Himmel all seine Schleusen und ein warmer Sommerregen prasselte auf uns hernieder. Oma Linda lachte laut und wollte mir ihre rote Strickjacke über den Kopf legen, doch ich schob ihre Hand beiseite und rannte stattdessen am Strand entlang, um die Tropfen, die sanft auf mir landeten und zärtlich an mir herunterliefen, auf meiner Haut zu spüren. Es war einer jener magischen Augenblicke, die ich niemals vergessen würde, und die ich allesamt in meiner Erinnerung pflegte, damit sie niemals verblassten. Und wenn es wahr ist, dass vor dem Tod ein Film des Lebens mit den bedeutsamen Augenblicken vor dem geistigen Auge abläuft, dann wird es bei mir eine Sequenz geben, in der ich den zärtlichen Sommerregen zusammen mit meiner Großmutter genieße.
„Komm, wir gehen!“, riss Annes helle Stimme mich aus meiner
Träumerei.
Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es schon zehn Uhr war.
„Hat es dir nicht gefallen?“, wollte Anne wissen, während wir zur Bahn liefen. Neben einem Blumenbeet lagen schöne, rötliche Steine, von denen ich mir zwei in die weiten Taschen meiner Stoffhose stopfte, um sie später mit Acryl-Farbe zu bemalen. „Familie“ würde ich mit bunten Buchstaben auf den einen schreiben und „Funzel“ auf den anderen. Malte hieß natürlich nicht Funzel, sondern Möller. Mama hatte seinen Namen bei der Heirat aus mir unerklärlichen Gründen nicht angenommen. Manchmal redete ich mir ein, sie habe aus Solidarität mit mir so entschieden.
„Gundi?“ Anne blickte mich fragend an.
„Ich schätze, ich kann nicht tanzen“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern.
„Das muss man nicht können!“ Anne lächelte mich an. „Ich mag die Kinderdisko, weil ich mich dort entspannen kann. Tanzen in der Disko ist nicht schwer, wir können es mal bei mir zu Hause zusammen üben.“
Ich erwiderte nichts. Vielleicht war das mein Problem, dass ich mich, wenn überhaupt, nur in meinen Gedanken entspannen konnte.
Schon als ich den Schlüssel im Schloss drehte, hörte ich Maltes entschlossene Schritte im Wohnzimmer. Als er mit hochrotem Kopf vor mir aufragte, kam mir der Gedanke, er könne mir eine Ohrfeige verpassen, doch er tat es nicht. Mama stand dicht hinter ihm, als wolle sie sich in seinem nicht vorhandenen Schatten verstecken.
„Wo warst du und wieso hast du nicht gesagt, dass du weggehst?“ Maltes Stimme war laut und kalt. Meine Mutter hatte ihre Schultern hochgezogen, wie immer, wenn sie nervös war.
„Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“ Mama trat einen Schritt nach vorne und legte besänftigend eine Hand um Maltes Arm. „Frau Kling war nicht in der Wohnung, wir konnten nicht einmal sie fragen.“
„Ich war mit Anne in der Disko.“ Ich war erstaunt, wie fest meine Stimme klang.
„Das war nicht in Ordnung. Du hast eine Woche Zimmerarrest“, donnerte Malte und eine Ader an seiner Stirn schwoll ein wenig an, als wolle sie aus ihm herausplatzen. Dabei ballte er beide Hände zu harten Fäusten.
Plötzlich packte mich eine unbändige Wut, die sich seit dem Beginn der Pubertät ab und zu bei mir meldete. „Du hast mir hier nichts zu sagen!“, schrie ich ihm ins Gesicht.
Mutter erbleichte und ließ ihre Hand sinken. In ihren Augen las ich, dass sie Angst hatte. Ihr Lippen wollten Worte formen, doch sie starben, noch bevor sie ihren Mund verlassen konnten.
„Junges Fräulein“, setzte Malte an. „Diesen Ton möchte ich hier nicht hören!“
„Mir ist es langsam egal, was du willst oder nicht!“ Mein Gesicht wurde heiß, als brenne ein Feuer in meinem Kopf. „Ich habe endlich eine Freundin gefunden, und da stellst du
mir keine Steine in den Weg!“ Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und umklammerte die Steine.
Malte schien zu überlegen. Er sagte nichts. Die Zeit stand still. Doch die Wanduhr tickte weiter. Noch war es nicht Zeit für den Kuckuck.
„Ich habe dir hier sehr wohl was zu sagen, junges Fräulein.“
Ich hasste es, wenn Malte mich so anredete, und das wusste er vermutlich ganz genau.
„Du bist nicht mein Vater!“, zischte ich und presste die Steine mit aller Kraft zusammen, um meinen Frust an ihnen auszulassen.
Meine Mutter seufzte verhalten.
„Wenn das mit der Disziplin nicht klappt, junges Fräulein, dann müssen wir uns was anderes überlegen. Deine Aufmüpfigkeit in letzter Zeit sorgt in der Familie für viel Stress.“
Was interessierte mich das? Ich hatte auch genug Stress. In der Schule wurde ich von den anderen Schülern nicht ernst genommen, im Sportunterricht war ich beim Dauerlauf diejenige, die nach zwei Runden in sich zusammensackte und ausgelacht wurde, und meine große Liebe würdigte mich nicht einmal eines Blickes.
„Vielleicht kannst du mit dem Stress einfach nicht gut umgehen“, platzte es aus mir heraus, ohne dass ich es gewollt hätte.
Maltes Blick war von Empörung erfüllt. Er sah mir genau ins Gesicht, aber nicht in die Augen, sondern auf meine Nasenwurzel, als könne er mit seinem Blick mein Hirn durchbohren und meine Aufmüpfigkeit aus ihm heraussezieren. Dann sagte er etwas, das er so bestimmt nicht sagen wollte. Er, Malte Möller, der ohnehin nicht gern sprach und all seine Worte so bedacht wählte, sagte einen einzigen Satz, der mein Hirn zum Überkochen brachte.
„Zum Glück bin ich nicht dein Vater.“
Mit diesen Worten drehte er mir den Rücken zu und ich hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Bedürfnis, ihm einen der Steine an den Schädel zu werfen. Das Verlangen verschwand genauso schnell, wie es gekommen war, doch trotzdem zog ich meine Hand aus der Hosentasche, um den Stein mit aller Wucht auf den Fliesenboden zu donnern. Meine Mutter ging Malte hinterher und ich rannte in mein Zimmer, knallte die Tür zu und warf mich bäuchlings auf mein Bett, wo ich mein Deko-Kissen nass heulte.
An jenem Abend kam meine Mutter nicht mehr zu mir ins Zimmer,
sondern blieb, nachdem ich Gute Nacht gesagt hatte, mit Malte auf dem Sofa sitzen. Sie hielten sich an der Hand und sahen fern, während ich wieder in mein Schlafzimmer schlich und mich betrogen fühlte.