Kapitel zehn
J ede Nacht verbrachte ich mindestens anderthalb Stunden auf All of Us , was zur Folge hatte, dass ich tagsüber so müde war, dass ich gegen fünfzehn Uhr im Sitzen hätte einschlafen können.
„Bist du krank?“, wollte die dicke Dana eines Tages wissen, als ich wieder einmal vornüber gebeugt in meinem Drogeriemarkt-Stuhl saß und die Buchstaben in meinem versteckten Buch zu verschwimmen begannen.
„Nein, mir geht es gut.“ Ich zog die Schultern nach hinten, auch wenn ich es nicht mochte, wenn mein T-Shirt auf meiner Brust spannte. Dana widmete sich wieder ihren Fingernägeln, die sie gelb lackierte.
In der Nacht vor Maltes Geburtstagsfeier postete ich ein Foto von einer Hand, die frisch von der Maniküre kam. Dabei handelte es sich natürlich nicht um meine, denn meine Finger waren unansehnlich, sondern um eine aus einer Werbung für French Manicure im Internet. Diese Hand war mit langen, schmalen Fingern gesegnet und von makelloser, glatter Haut überzogen. Meine inzwischen beste Online-Freundin, die sich selbst den Nickname Witty Wizard gegeben hatte, kommentierte alles, was ich postete, innerhalb weniger Stunden. Sie musste ein Alarmsystem haben, das sie sofort informierte, wenn Sarah Sparks bei All of Us aktiv war. Oder aber sie loggte sich niemals aus.
Was für schöne Hände, Sarah! , schrieb Witty Wizard und setzte drei Smileys dahinter. Solche Hände hätte ich auch gern!
Am liebsten hätte ich zurückgeschrieben: Ich auch! Aber das hätte den Sinn meiner Verwandlung nicht erfüllt. Immerhin schienen schöne Hände ein Anknüpfungspunkt für neue Freundschaften zu sein, von denen ich inzwischen 86 hatte, darunter sieben Männer. Man konnte sich über All of Us auch private Nachrichten senden, aber von dieser Funktion hatte ich noch keinen Gebrauch gemacht, schließlich wollte ich die Samen der Sarah Sparks so weit wie nur möglich streuen.
Ich stöberte in Witty Wizards Profil. Sie arbeitete bei einer Grafik-Design-Firma als Texterin und war seit drei Jahren mit einem Mann liiert, der meist mit einem Dreitagebart auf den Fotos auftauchte. Mit einem breiten Lächeln und einer Pranke, die er auf Witty Wizards Schulter gelegt hatte, die im bürgerlichen Leben Leonie Schneider hieß, denn ihr Name war in Klammern angegeben. Leonie war ein großer Harry Potter Fan, daher der Kosename. Ich ging davon aus, dass sie im echten Leben über keinerlei Zauberkräfte verfügte.
Gerade als ich eine Jugenderinnerung mit Anne posten wollte, hörte ich etwas, als reibe jemand mit der Hand über einen rauen Stoff. Es war mir vertraut! Wenn Malte mit seinen Hausschlappen über den Boden schlurfte, entstand genau dieses Geräusch. Schnell meldete ich mich ab und begann den Computer herunterzufahren. Noch bevor der Kloß in meinem Hals seine volle Größe erreichen konnte, stand Malte in der Wohnzimmertür und der Bildschirm leuchtete immer noch. Seine Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen und er sah ungläubig in meine Richtung, als sei er sich nicht sicher, ob er träumte. Seine kurze Pyjamahose spannte über seinen muskulösen Oberschenkeln und sein Haar lag wie ein zerzaustes Vogelnest auf seinem kleinen Haupt.
„Gundi, was machst du da?“ Er trat einige Schritte nach vorne, blickte von mir auf den Computer und anschließend wieder in mein Gesicht. Musste ich mich vor ihm rechtfertigen?
„Ich schreibe eine Bewerbung“, log ich. „Aber es soll eine Überraschung für Mama werden“, fügte ich sogleich hinzu, um der nächtlichen Aktion Glaubwürdigkeit zu schenken.
Malte musterte mich eindringlich. „Es wird auch Zeit, dass du dir einen vernünftigen Job suchst.“
Kam ich so leicht davon? Malte drehte sich von mir weg und ging wieder in sein Schlafzimmer, als sei er nie wirklich wach gewesen und die Szene nur ein unwirklicher Traumfetzen. Rasch schaltete ich den Computer aus und ging in mein Zimmer, wo ich bis um halb fünf wach lag, weil ich über Maltes Satz nachdachte.
Mama ging am Morgen von Maltes Fünfzigstem zum Frisör, um sich die Haare färben und föhnen zu lassen. Den ganzen Freitag hatte sie damit verbracht, eine ohnehin schon makellos aufgeräumte und saubere Wohnung in Ordnung zu bringen und zu putzen und einige Telefonate zu erledigen, darunter die Kuchenbestellung beim besten Konditor der Stadt.
Im Wohnzimmer waren Stühle aufgestellt, wie ich es zuletzt im Kindergarten gesehen hatte, als wir im allmorgendlichen Stuhlkreis unsere Erlebnisse vom Vortag in der Runde geteilt hatten. Damals kam mir schon die Kindergartengruppe zu groß vor, und nun wagte ich mich als Sarah Sparks in die Welt hinaus. Der Unterschied war, dass keiner mich dabei anstarrte.
„Gundi, kannst du bitte dafür sorgen, dass heute Abend die Gläser der Gäste immer voll sind?“ Mama lief wie ein Ziehauf-Männchen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Ihr Haar wirkte ungewöhnlich hart, als habe man es zu einer Masse verklebt, die bei jedem Schritt unnatürlich wippte.
„Möchtest du dich nicht auch noch umziehen?“, fragte sie kurz darauf. Mama trug einen Jeansrock, der ihre dünnen, aber wohlgeformten Beine zur Geltung brachte. Auf alten Bildern kam mir meine Mutter attraktiv vor und ich konnte mir gut vorstellten, dass ein Gerrit sich in sie verlieben konnte. Nur der Oberkörper meiner Mutter wirkte mit der knochigen Brust kaum fraulich. Ich hätte gern ein wenig von meiner Brustmasse an sie abgegeben.
Es klingelte. Ich blickte auf die Uhr an der Wand, aus der der Kuckuck immer sprang, als habe er nichts Besseres zu tun. Ich wäre lieber weggeflogen als die Stunden zu zählen. Aber er war ja in seinem Häuschen eingesperrt. Noch war es zu früh für die Geladenen, auf der Einladung hatte ab achtzehn Uhr gestanden. Meine Mutter stürmte so schnell zur Wohnungstür, dass sie beinahe über den Rand des Teppichs im Vorraum stolperte.
„Timo, mein Schatz!“ Sie schlang die Arme überschwänglich um Timos Oberkörper, der im roten Poloshirt steckte und ein wenig an Umfang zugenommen hatte. Hinter ihm trat eine Frau durch die Tür, von der ich nicht einmal gewusst hatte. Sie trug eine auffallende Handtasche aus Krokodilleder und schwarze Stiefel mit Pfennigabsätzen, die bis zu ihren Knien reichten. Unter ihrer Bluse stachen zwei ungewöhnlich spitze Brüste hervor, deren Form ich einem schlecht sitzenden Büstenhalter zusprach. Ihr langes Haar hatte beinahe die Farbe meiner verhassten Vespermöhrchen von damals und ihre Lippen waren tiefrot geschminkt. Sie wurde mir als Amanda vorgestellt und schien es sich zum Ziel gesetzt zu haben, den Berührungskontakt zu meinem Bruder den ganzen Abend lang aufrecht zu erhalten. Egal, wo sich Timo befand, sie klebte an ihm. Entweder hielt sie seine Hand oder platzierte sie im Sitzen auf seinem Oberschenkel, legte ihren gebräunten Arm um seinen Körper oder lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Mich würdigte sie kaum eines Blickes.
Kurz vor achtzehn Uhr ging ich in mein Zimmer, um meine Garderobe zu wechseln, auch wenn ich am liebsten meine Latzhose angelassen hätte. Ganz davon abgesehen, dass ich Malte zu Ehren nichts tun wollte, was mir unbehaglich war. In einer lose geschnittenen Stoffhose und einem gelben, weiten T-Shirt betrat ich den Raum. Die Einheit aus Timo und Amanda saß im Stuhlkreis, meine Mutter rührte in ihrem Fleischtopf und Malte rückte seine Krawatte zurecht.
Wenige Minuten später versammelte sich das gesamte Kollegium des Gymnasiums sowie der Kirchenchor in unserer Wohnung, deren Wände sich nach außen zu biegen begannen. Manche nahmen auf den Stühlen Platz, andere standen an die Wand gelehnt oder gingen auf den Balkon, viele pressten ihre Körper in die kleine Küche und das Stimmengewirr war stetig und unablässig wie das Summen einer Bienenschar. Es wurde sehr warm in unserer Wohnung, obwohl meine Mutter alle Fenster gekippt hatte. Der laue Spätsommer ließ nicht einmal eine erfrischende Brise in den Raum.
Ich stand in der Nähe der Küchentür und wunderte mich über die vielen Gäste. War Malte ein beliebter Mensch und nur mir gegenüber ein Ekel? Oder lag es an meiner Einstellung zu ihm? Verhielt es sich damit so wie mit den Farben, die jeder Mensch anders wahrnahm? Seit ich im Grundschulalter angefangen hatte zu malen, fragte ich mich, was es mit den vielen verschiedenen Farben auf sich hatte und wieso Farbfotos aussagekräftiger waren als ihre Vorfahren in Schwarz und Weiß. Irgendwann begann ich, den Farben Charaktereigenschaften zuzuschreiben und sie in einem interessanten Zusammenspiel bei meinen Zeichnungen und später beim Bemalen von Möbeln und Wänden einzusetzen. So war Orange für mich freundlich, Blau kalt, Grün hinterhältig, Rot voller Temperament und Gelb ein wenig zurückhaltend. Weiß und Schwarz, die, wenn man es genau nahm, gar keine Farben waren, dienten dazu, den Farbtönen ihre Schattierungen zu geben. Weiß machte sie offener und fröhlicher, während Schwarz sie drückender und trauriger machten.
Als ich merkte, wie unterschiedlich Menschen Farben kombinierten und auffassten, wurde mir klar, dass jeder seine eigene Sicht der Farben hatte. Nicht nur, dass er sie anders empfand, er sah sie auch anders, was nicht messbar war, weil wir uns nie in die Augen einer anderen Person hineinversetzen konnten. Und wenn man sie bat, das Rot einer Blume mit Farben zu malen, würde sie genau das Rot zusammenmischen, das sie sah. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, mit den Augen eines anderen zu sehen. Ich trainierte meine Augen für die Farben dieser Welt und wusste bald, dass ich mehr Schattierungen sah als die meisten Menschen. Und so sah jeder den anderen Menschen auf seine subjektive Weise. Als ich mit vierzehn die Wände meines Schlafzimmers schwarz strich, war meine Mutter entsetzt und Malte ließ eine Firma kommen, die den Anstrich entfernte. Gundi Funzel liebte es, den Farben Schwarz beizumischen, doch Sarah Sparks würde sie lehren, ab und zu auch zu Weiß zu greifen.
„Sie sind also Gundi, ja?“ Ein Mann mit sehr wuscheligem Haar, dessen Sektglas ich soeben nachgefüllt hatte, prostete mir zu. Er mochte in Maltes Alter sein und trug ein dunkelblaues Hemd. Ich bejahte und wollte eine neue Flasche Sekt aus dem Kühlschrank holen, als er weitersprach: „Ich habe schon viel von Ihnen gehört!“
Ich schluckte und wollte lieber nicht wissen, was Malte über mich erzählte.
„Sie haben ein Glanzabitur gemacht, habe ich gehört“, fuhr der Wuschelkopf fort und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, sein spitzer Adamsapfel hüpfte. Es war erstaunlich, dass ich immer mit meinem Abitur in Verbindung gebracht wurde, als sei es das Letzte gewesen, was ich geleistet hatte.
„Und wo arbeiten Sie zurzeit?“ Der Mann trank sein Glas aus.
„In einem Drogeriemarkt.“
Daraufhin erwiderte er nichts, sondern erzwang ein zaghaftes Lächeln, bei dem seine Ohren sich ein wenig nach oben bewegten, als zöge sie jemand an unsichtbaren Schnüren.
„Entschuldigen Sie mich bitte“, stammelte ich und widmete mich wieder meinem Getränkedienst, den ich bis kurz nach Mitternacht gewissenhaft durchführte, bis die Gäste sich allmählich verabschiedeten. Auf dem Tisch lagen zahlreiche Umschläge, Geschenke und Weinflaschen um den Computer herum. Malte stand davor und bedankte sich für meine Hilfe. Dann trank er noch ein Bier mit Timo und Amanda, die ein wenig viel Wein abbekommen hatte und unkontrolliert kicherte, wann immer mein Bruder einen Witz zu machen versuchte. Lustig war er noch nie gewesen. Ich half meiner Mutter die Küche aufzuräumen und sagte allen Gute Nacht. Meinen Wecker stellte ich auf zwei Stunden später als gewohnt, bis dahin würden alle schlafen.
Um zwei Uhr schlich ich mich an den Computer, grub die Tastatur unter den Geschenken aus und loggte mich ein. Es gab einige Reaktionen auf Sarah Sparks’ geplanten Strandurlaub, den alle toll fanden, neueste Ernährungstipps von der Power-Food-Frau und zu jedem meiner Beiträge Likes von Witty Wizard. Ich war seit etwa einem Monat in der virtuellen Welt unterwegs und hatte trotzdem das Gefühl, dass ich niemanden kannte. Dass mich niemand kannte, war nicht verwunderlich, aber für einen Augenblick begann ich daran zu zweifeln, dass mein Vorhaben sinnvoll war. Ich hatte virtuelle Freunde, die das kommentierten, was ich vermeintlich erlebte und tat, aber was sagten all diese Dinge über mich oder Sarah aus?
Ich entschied mich also, noch persönlicher zu werden. In der Hoffnung, Anne würde es mir nicht übelnehmen, stellte ich ein altes Schulfoto von ihr auf meine Seite bei All of Us und schrieb darunter: Immer noch meine beste Freundin, meine liebe Anne. Anschließend teilte ich weitere Erinnerungsfotos von Anne und mir in meiner neuen, virtuellen Welt, in der alles möglich war. Dazu erzählte ich noch mehr Geschichten aus unserer Teenagerzeit. Dabei war ich stets auf der Hut, nur so persönlich zu schreiben, dass ich mir selbst nicht zu nahe trat. Trotzdem war die Entwicklung sonderbar: Ein Teil von mir schlüpfte in Sarah Sparks Hülle, ganz vorsichtig und stückchenweise, während meine intimsten Gedanken Gundi Funzels Privateigentum blieben. Annes Gegenwart auf meinem Online-Profil machte sie zwar nicht lebendig, aber immerhin standen meine Gefühle für sie dort schwarz auf weiß, auf einem flimmernden Bildschirm und für alle sichtbar, die sich für Sarah Sparks interessierten. Gleichzeitig war es das erste Mal, dass ich sie zum Ausdruck brachte, und ich wünschte mir, ich hätte es vor vielen, vielen Jahren schon getan. Nicht in der virtuellen Welt, sondern in der echten.
Gerade als ich mich ausloggen wollte, erschien eine kleine rote Eins auf dem Bildschirm. Eine persönliche Nachricht! Die erste, die ich bekam, und das um diese Uhrzeit! Ich klickte auf die Eins und las die wenigen Worte: Sie hat den Blick der Mona Lisa .
Ich klickte auf Annes Fotos und erkannte tatsächlich jenen Silberblick, der die Betrachter der Mona Lisa so verzauberte. Zwar hatte Anne im Gegensatz zur Mona Lisa Augenbrauen, aber die Anmerkung war berechtigt, sie musste auch einen Silberblick gehabt haben. Ich ging zu der persönlichen Nachricht zurück und antwortete: Das ist wahr! Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben.
Der Schreiber tippte. Jetzt erst las ich seinen Namen: Ray Colby. Er klang englisch, doch er schrieb auf Deutsch. Du, bitte du!
Ich lächelte. Gut, dann danke ich dir, dass du es gemerkt hast!
Als nächstes schickte mir Ray Colby eine Freundschaftsanfrage. Bei all den Verknüpfungen, die ich bei All of Us erschaffen hatte, hatte ich schon lange den Überblick darüber verloren, wer über wen auf welche andere Person aufmerksam geworden war. Als ich Rays Anfrage annahm und auf sein Profil ging, sah ich, dass auch er mit Witty Wizard befreundet war. Er war achtundzwanzig Jahre alt, gab als Beruf Maler an und lebte in England. Als ich sein Profilbild vergrößerte, blickte ich in das ovale Gesicht eines sehr gutaussehenden Mannes mit vollem, dunklen Haar, das im Kontrast zu seinen tiefblauen Augen stand. Er lächelte mich mit schmalen Lippen an und hatte den Kopf leicht zur Seite gebeugt. Sein Hemdkragen war weiß und im Hintergrund konnte man Blätter erahnen.
Immer noch wach? , fragte Ray in einer persönlichen Nachricht.
Ja, noch , textete ich zurück.
Rays Antwort kam wenige Sekunden später: Ich kann nicht schlafen, bis mein Gemälde fertig ist. Aber ich weiß nicht, welche Farben ich benutzen soll .
Ich stellte mir vor, wie der junge Mann vor seiner Leinwand saß und nebenher mit mir chattete. Ein Kitzeln breitete sich in meinem Bauch aus.
Bis ich mir bewusst machte, dass er nicht mit mir, sondern mit Sarah Sparks kommunizierte. Also schrieb ich: Ich muss jetzt aber ins Bett. Habe morgen einen wichtigen Termin.
Alles klar, dann wünsch ich dir süße Träume!
Wie in Trance meldete ich mich ab und fuhr den Computer herunter. Ray Colby, was für ein schöner Name! Was für ein attraktiver Mann! Noch dazu ein Maler! Wo sonst hätte ich ihn kennenlernen können? Ich küsste den inzwischen dunklen Bildschirm, schob Maltes Geschenke wieder über die Tastatur und legte mich in mein Bett, in dem ich lange Zeit nicht in den Schlaf fand, weil ich mir überlegte, was Ray Colby malen mochte.