Kapitel drei
D
raußen fegte ein tosender Wind die Blätter durch den Garten. Wütend peitschte er gegen mein Fenster, während ich vor meinem Kleiderschrank stand, mit einem dicken Borstenpinsel in der Hand und drei Farbeimern, die ich auf einer Plastikplane neben mir aufgestellt hatte. Der Schrank würde bunt werden, sehr bunt und ein wenig dunkler als geplant. Zunächst wollte ich ihn schwarz anstreichen und anschließend rote, gelbe und lilafarbene Akzente in Form von Blitzen setzen. Umstreichen konnte ich ihn jederzeit, falls mir das Ergebnis nicht gefallen sollte.
Meine Mutter hatte das Thema Ray seit einer Woche nicht mehr erwähnt. Was hatte ich auch sonst erwartet? Da ich nun arbeitslos war, saß ich vormittags oft stundenlang vor dem Computer und war auf All of Us
unterwegs. Hauptsächlich, um mit Ray zu kommunizieren. Er fragte erneut nach, wann ich ihn besuchen käme. Der Herbst und die Vorweihnachtszeit seien wunderbar, ich solle unbedingt noch dieses Jahr in den Flieger steigen. Sein Bitten ständig zu ignorieren, war auch keine Lösung, deshalb entschied ich mich, Witty Wizard, die ich inzwischen ins Herz geschlossen hatte, und das nicht nur wegen all der goldigen Fotos mit ihrem Mischlingswelpen, die sie am laufenden Band postete, um Rat zu fragen. Fünf Minuten, nachdem ich ihr eine persönliche Nachricht geschickt hatte, kam ihre Antwort:
Klar fliegst du nach England! Was zögerst du da noch? Vielleicht ist das die Liebe deines Lebens!
Und nun? Witty Wizard gehörte zu meiner Generation und schien ein fröhliches Wesen zu haben. War sie nicht eine zuverlässigere Ratgeberin als meine Mutter, die sich der modernen Welt gegenüber weitestgehend verschloss? War sie schuld daran, dass ich so geworden war? Ich verwarf diesen beängstigenden Gedanken, denn ich wollte meinen Frust nicht an meiner Mutter auslassen. Sie, die
ihr Dasein um ihre Kinder kreisen ließ, verdiente es am wenigsten!
Vielleicht hast du recht, danke
, schrieb ich zurück.
Ich habe bestimmt recht, Sarah! Und schick mir dann bitte sofort ein Foto von euch beiden!!!
Als ich diese Zeilen las, wünschte ich mir, sie hätte Gundi und nicht Sarah geschrieben. Denn egal, was ich tat, ich war und blieb immer diejenige, die ich nun einmal war.
Gerade als ich den Pinsel für den ersten Farbblitz ansetzen wollte, klopfte es an meiner Zimmertür, die ich von innen verschlossen hatte. Als ich den Störenfried ignorierte, klopfte er ein wenig vehementer und drückte die Klinke nach unten. Ich drehte mich zur Tür um. „Wer ist da?“
Nichts. Vermutlich war es meine Mutter, die eines jener tränenreichen Gespräche mit mir suchte, die ich so satthatte.
„Ich bin es, Malte.“
Der sonore Bass! Ich zuckte zusammen. Was sollte ich tun? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mein Stiefvater in den letzten fünfundzwanzig Jahren freundlichen Kontakt zu mir aufgenommen hätte, noch dazu, wenn ich mich in meinem Zimmer verschanzt hatte, um meine Ruhe zu haben!
„Ich bin beschäftigt!“, rief ich und malte einen feurigen Blitz über die gesamte Breite der Schranktür. Zack, er hatte Wucht!
„Es ist wichtig.“ Malte machte nicht den Anschein, als wolle er aufgeben. „Es geht um Ray.“
Seufzend legte ich den Pinsel zur Seite und ließ ihn herein. Was hatte ich für eine andere Wahl? Mit seinem muskulösen Oberkörper und dem viel zu kleinen Kopf betrat er mein Zimmer, warf einen prüfenden Blick in Richtung des Kleiderschrankes, kippte das
Fenster über meinem Schreibtisch und hockte sich wortlos im Schneidersitz auf den Teppichboden. Verunsichert wischte ich meine schweißnassen Hände an den Hosenbeinen meiner Latzhose ab und setzte mich in sicherem Abstand auf meinen Schreibtischstuhl.
„Ich habe ein wenig mitgehört, als du mit deiner Mutter geredet hast. Das hast du sicherlich bemerkt.“ Malte räusperte sich und sah mich direkt an.
Kein einziges Wort wollte aus meinem Mund kommen.
„Und dann gibt es natürlich den Verlauf auf dem Computer, den du nie gelöscht hast.“
Spionierte er mir nach? Der Kloß formte sich in ungeahnter Eile und ich hatte das Gefühl, mein Hals sei zusammengeschnürt.
„Wie dem auch sei, ich wollte dir nur sagen, dass ich dich verstehe.“ Wieder räusperte er sich. Er hatte eine schöne Stimme, die weich und warm war. „Mein Vater hat mich nie verstanden. Meine Mutter auch kaum. Du kannst das nicht wissen, aber ich war ein sehr schüchterner Junge. Meine Eltern wollten immer, dass ich mich zeige, aber ich war nie der Typ dafür.“
Ich blickte Malte erstaunt an und hörte aufmerksam zu. Er sah mich zwar an, aber sein Blick schien durch mich hindurchzugehen, um irgendwo in der Vergangenheit zu ruhen.
„Deswegen verstehe ich dich, wenn du dich als Sarah Sparks neu erfindest. Ich finde die Idee sogar sehr schlau!“ Er stieß geräuschvoll Luft durch die Nase aus, als wolle er ein Lachen ersticken. Verwundert betrachtete ich meinem Stiefvater, der gar nicht aufhören wollte zu reden.
„Du wirst nie so sein wie die.“ Er deutete auf einen Stapel von Mamas Zeitschriften, der neben meinem Schreibtisch auf dem Boden stand. „Aber warum solltest du auch? Der Bäcker kann Brötchen backen,
der Ingenieur versteht den komplizierten Mechanismus einer Maschine, der Poet kann mit Worten zaubern und der Mathelehrer kann im Idealfall Wissen vermitteln. Jeder sollte das tun, was er am besten kann und am liebsten macht.“
Ich hatte Malte noch nie zuvor so viele zusammenhängende Sätze am Stück sagen hören.
„Dann hat Mama recht“, hörte ich mich sagen. „Man kann nicht aus der eigenen Haut schlüpfen.“
„Wahrscheinlich hat diese Aussage einen wahren Kern.“ Malte presste die Lippen zusammen. „Aber es gibt von jeder Farbe sehr viele verschiedene Schattierungen. Das solltest du am besten wissen.“
Er hatte recht. Die Bandbreite, in der ich mich aufgrund meines Charakters bewegen konnte, war zwar eingeschränkt, aber nicht so sehr, wie ich bisher gedacht hatte.
„Danke“, flüsterte ich und versuchte zu lächeln. Malte erhob sich und wollte gehen, doch ich stellte mich ihm in den Weg. „Du findest also nicht, dass es abscheulich ist, dass ich gelogen und anderen etwas vorgegaukelt habe?“
Er schüttelte den Kopf. „Wie schon gesagt: Es ist verständlich, aber vielleicht ist es an der Zeit, dass du zu dem stehst, was dich ausmacht.“
Nachdem Malte mein Zimmer verlassen hatte, legte ich mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Was war es, das ich am besten konnte und am liebsten tat? Wieso schämte ich mich für das, was mich ausmachte? Und warum nur hatte ich dieses Spiel im Internet überhaupt angefangen? Es war ein Zeitvertreib gewesen, der mir kaum etwas gebracht hatte. Außer die Bekanntschaft mit Ray und Witty Wizard. Ich musste Ray in der wirklichen Welt kennenlernen! Alles in mir schrie danach. Egal, was passieren würde! Mich im Vorfeld zu outen, war unvorstellbar und hätte sein Interesse an mir
womöglich gedämpft, deswegen entschied ich mich, mich stattdessen ein wenig aufzupeppen. Wie Ray aussah, wusste ich ja bereits, und ich hätte ihn unter Tausenden Menschen erkannt, da sich sein Profilbild inzwischen auf meiner Netzhaut eingebrannt hatte.
Zum hundertsten Mal durchblätterte ich Mamas Frauenmagazine, um zu verinnerlichen, was ein gelungenes, modisches Outfit ausmachte. Anschließend nahm ich die Stadtbahn und schlenderte die Königstraße entlang, während mein Blick die Schaufenster scannte. Nie im Leben wäre mir zuvor eingefallen, so etwas zu tun! Doch ich war jetzt sozusagen Zeitmillionärin und konnte mich in aller Ruhe auf meine Reise nach Südengland vorbereiten.
Während die Fachverkäuferin, deren Augenbrauen mindestens fünf Zentimeter zu weit oben auf ihre Stirn gemalt waren, meine Maße nahm, wünschte ich mir, ich hätte in meinem Leben Sport gemacht, um zumindest Größe 40 tragen zu können, und fragte mich zugleich, wie es aussähe, wenn die Verkäuferin ihre echten Augenbrauen wachsen ließe und vier gleichzeitig besäße!
„Dann probieren Sie doch einmal dieses Modell“, rief die Dame mit den sonderbaren Brauen und brachte eine schwarze Hose, deren Stoff ein wenig schimmerte. Sie schloss eine Umkleidekabine für mich auf und ich war froh, dass ich mich dort einsperren konnte, damit niemand meine verwaschene, weiße Unterhose sehen würde. Es war unmöglich, den Knopf in das dafür vorgesehene Loch zu bringen, egal, wie sehr ich meinen Bauch einzog. Zudem spannten die Nähte an meinen Schenkeln so sehr, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mich in dieser Hose zu bewegen.
„Haben Sie vielleicht auch ein Modell, das nicht so eng anliegt?“, fragte ich zögernd.
Die Dame brachte mir dieselbe Hose in der nächsten Größe. Der Verschluss ging zu, wenngleich meine schweinchenrosafarbenen Hautwülste an den Seiten und vorne unschön über den Bund quollen. Es drückte nichts, aber als ich mich in dem riesigen Spiegel
betrachtete und umdrehte, sah ich, wie die Hose über meinem Gesäß spannte und dessen Form sichtbar machte.
„Darf ich sehen?“, fragte die Fachfrau und ich trat zaghaft aus der Kabine.
Meine Zweifel wischte sie sofort beiseite, das gehöre so. Der Stoff sei leicht formend, was meiner Figur zugutekomme. Ich wusste nicht, ob ich diesen Ausreden Glauben schenken sollte.
„Haben Sie auch Röcke?“
Der Kleiderkauf war anstrengend und teuer gewesen. Müde sank ich auf mein Bett, das von sechs Tüten umgeben war. Darin lagen eine gemusterte Bluse, ein senffarbener Pullover, ein Paar schwarzer Kunstlederpumps mit niedrigen Absätzen, die ich nach meiner Englandreise sofort an Bedürftige spenden würde, einige einfarbige, dezente T-Shirts und ein langer schwarzer Rock, der sich vorteilhaft um meinen Po schmiegte und dessen wahre Gestalt verschleierte.
Am nächsten Morgen hatte ich bereits um neun Uhr einen Termin beim Frisör. Dabei hatte ich bewusst nicht den Salon gewählt, den meine Mutter seit vielen Jahren aufsuchte, sondern einen in der Stadtmitte, der einen modernen Eindruck machte und in dem, wie ich nach tagelanger Beobachtung festgestellt hatte, junge Frauen ein und aus gingen. In den letzten Jahren hatte ich mich selten um meine Haare gekümmert, was sich, wie ich beim Blick in den Spiegel feststellen musste, nun deutlich zeigte. Die Spitzen waren strohig und ausgefranst. Ab und zu hatte ich den Frisör meiner Mutter gebeten, die kaputten Enden zu kürzen, ansonsten hatte ich mein Haar, das ohnehin sehr langsam wuchs, nicht beachtet. Die vielen Gelegenheiten, bei denen ich mich in den vergangenen Tagen selbst im Spiegel betrachtete hatte, waren mir peinlich. Aber vielleicht gehörte es zum Frausein dazu und ich hatte es nur nie gewusst, hätte mich sonst an meine Optik gewöhnt, sie akzeptieren gelernt oder gar verbessert?
„Was hast du heute im Sinn?“, fragte der Frisör, der zu meinem
Erstaunen ein Mann war, aber knallrot angemalte Lippen und langes, schwarzes Haar hatte. Entsetzt riss ich mich zusammen und spielte mit dem Gedanken, um eine andere Person zu bitten, die mir das Haar schamponieren und richten würde, entschied mich aber dann dagegen, da es vermutlich einer Beleidigung gleichkäme. Die geschlechtsverwirrte Person musterte mich und verzog die schmalen Lippen zu einem einladenden Grinsen. Da ich zunächst unschlüssig war, riet er mir zu goldblonden Strähnchen, die meine Haarfarbe zum Leuchten bringen würden. Mir kam diese Prozedur zu kompliziert vor, aber er hatte insofern recht, dass meine Haarfarbe nicht existent war. Es sah aus, als habe sich über die Jahre eine hauchdünne Staubschicht auf mein Haupt gelegt. Also stimmte ich den Strähnchen zu, bereute es aber über eine Stunde später, als der Mann – oder die Frau? – immer noch damit beschäftigt war, meine Haare zu bepinseln und in silberne Folie einzulegen. Unterzogen sich normale Frauen oft solch einer Prozedur?
Als es zum Schnitt kam, tat ich mich wesentlich leichter. Mein Haar war gesträhnt, frisch gewaschen, sah im nassen Zustand kaum anders aus als zuvor und duftete angenehm nach Kokosnuss. Selbstbewusst richtete ich den Oberkörper auf und zog die Schultern nach hinten und unten. „Ich möchte bitte eine Frisur wie Gwyneth Paltrow.“