Kapitel neun
U m 19:56 Uhr stand ich vor der Tür des White Horse und kaute an meinen Fingernägeln, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte. Hatte Ray einen Tisch für uns reserviert? Sollte ich draußen warten oder schon einmal drinnen Platz nehmen, so tun, als wäre ich mit Maltes Laptop beschäftigt? Es fiel mir schwer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Alles in meinem Kopf verschwamm zu einem Brei aus Unsicherheit, Angst und Hoffnung.
Da schob eine Bedienung mit einem auffälligen Nasenring die Tür von innen auf. „Möchtest du nicht hereinkommen?“, fragte sie lächelnd. Ihr Atem roch nach Pfefferminz-Kaugummi und ich starrte unwillkürlich in ihren tiefen, üppigen Ausschnitt, den sie mir unter die Nase streckte, als sei er etwas, das man unbedingt vorzeigen musste. Oberhalb ihrer rechten Brust krabbelte eine Spinne – in Form eines Tattoos.
Ray hatte gesagt, er würde zwischen acht und halb neun eintreffen. Das genaue zeitliche Ende der Vernissage war nicht vorhersagbar. Also bedankte ich mich bei der Bedienung – wofür eigentlich? – und betrat den Pub. Ein Mann, der sehr hoch und dünn gewachsen war und einen kahlen Kopf hatte, wischte gerade mit einem Lappen über den dunklen Holztresen und blickte kurz auf, als ich auf einen Tisch in der hintersten Ecke, genau unter Rays Bild, zusteuerte.
„Darf ich dir was bringen?“ Die Nasenringfrau lächelte mich an und entblößte einen kleinen Glitzerstein an ihrem linken oberen Schneidezahn. Wie die Leute auf die Idee kamen, ihr Gesicht so zu verunstalten? Aber vermutlich fragten sich andere auch, wer in einer Latzhose herumlaufen wollte.
„Nein, danke, ich warte noch auf jemanden.“ Ich lächelte zurück. So langsam beherrschte ich das Lächeln auf ein inneres Kommando, das ich mir jedes Mal mit Nachdruck geben musste. Lächle, es macht dich attraktiv, freundlich, offen. Nimm Kontakt zu anderen Menschen auf, auch wenn sie dir völlig unbekannt sind. Sei wenigstens ein bisschen wie Sarah Sparks.
Die Bedienung nickte und begab sich hinter den Tresen, wo sie begann, Gläser in Vorrichtungen zu hängen, die an der Decke angebracht waren. Mir wurde bewusst, dass ich nie zuvor in einer Kneipe gewesen war. Ich war in Restaurants gewesen, aber nicht in solch einer Einrichtung, in der es womöglich das oberste Ziel war, so viel Alkohol zu sich zu nehmen, dass man sich unbekümmert fühlte.
Vielleicht hätte ich doch ein Bier bestellen sollen. Was Ray wohl trank? Wieso nur hatte ich mich nicht gut auf dieses Date vorbereitet? Die Ratschläge im Internet waren mir allesamt lächerlich vorgekommen. Das, was ich gerade im Begriff war zu tun, kam, wie ich gelernt hatte – denn so manche Aussage blieb wie Kaugummi im Gedächtnis hängen, ob ich es nun wollte oder nicht – einem Blind Date sehr nah. Schließlich kannte ich Ray kaum. Es war ein Aufeinanderprallen zweier Welten, die zuvor nur voneinander getrennt und Kilometer weit entfernt existiert hatten. Das Internet war ein Wunderwerk! Ray wusste mehr von mir als ich über ihn und ich hoffte inständig, dass er auch so redselig war wie seine Großmutter. Er würde mir Fragen stellen, wir würden uns auf Anhieb gut verstehen, ich wäre gezwungen zu erklären, warum ich mich als Sarah Sparks ausgegeben hatte und ich würde ihn um Verzeihung bitten. Er würde Verständnis haben, wir würden zu seiner Großmutter aufs Land fahren, am nächsten Morgen nach einem ausgiebigen Morgenspaziergang gemeinsam frühstücken, ich würde wenige Tage später wieder abreisen, unser Kontakt würde niemals abreißen, er würde mich in Stuttgart besuchen kommen und ich würde ihn meiner Mutter vorstellen. Bei einem gemeinsamen Kinobesuch in der Innenstadt würde er mich in der hintersten Reihe küssen. Die Vorstellung von einem ersten Kuss im Kino fand ich aus mir unerklärlichen Gründen aufregend. Aber eigentlich war das Kino Nebensache, allein der Gedanke daran, Rays Lippen würden die meinen zärtlich berühren, war erregend. Er würde mir zeigen, wie das mit dem Küssen vor sich ging. Besser als jedes YouTube-Video, und es wäre so einfach wie ein Kinderspiel. Ich könnte dabei mein Gehirn ausschalten. Und dann, viele Jahre später und nachdem wir geheiratet hatten, würden wir uns wohlklingende Namen für unsere Kinder aussuchen.
„Möchtest du jetzt vielleicht etwas trinken?“ Die Bedienung stand wieder vor mir und riss mich aus meinen absurden Gedanken.
„Ja, bitte ein Bier.“
„Was für eines möchtest du denn?“
„Was für welche habt ihr denn?“
Die Frau lächelte und nannte mir eine Liste von etwa zwanzig verschiedenen Bieren, von denen keines mir etwas sagte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das englische Bier mochte. Maltes Lieblingsmarke, Dinkelacker, schmeckte mir ganz gut, aber davon hatte nichts in meinem London-Reiseführer gestanden. Ich überließ es der etwas verdutzten Frau, meinen Drink auszusuchen. Sie kam mit einem Lager-Bier zurück. Unruhig, denn es war schon nach halb neun, nippte ich an meinem Getränk. Der Schaum lag weich auf meiner Oberlippe.
Mein Blick ruhte in der Mitte des Raumes. Da ging die Tür auf. Unwillkürlich zog sich mein Magen zusammen, aber es war nur eine Männergruppe, die laut redend und lachend an zwei zusammengerückten Tischen an der gegenüberliegenden Wand Platz nahm. Mit hochgezogenen Schultern und einem sanften Ziehen im Nacken saß ich auf meinem harten Stuhl und nahm drei Schlucke aus meinem Bierglas. Das herbe Gold rann meinen Rachen hinunter und ich beobachtete mich wieder einmal von außen. Hier saß ich, für meine Begriffe aufgetakelt, verkleidet für ein besonderes Event, das mein Leben verändern sollte. War ich die ganze Zeit zu naiv gewesen?
Wieder ging die Tür auf und zwei Frauen mittleren Alters traten ein. Sie waren beide adrett gekleidet, unterhielten sich ohne Unterlass, setzten sich an den Tisch neben dem meinen und sprachen über ein Nagelstudio in London, das anscheinend neu eröffnet hatte.
Ich schluckte. Die Zeit rann dahin wie zähflüssiger Sirup und ich begann daran zu zweifeln, dass Ray jemals auftauchen würde. Sollte ich ihm schreiben? Würde er sich nicht von selbst melden, wenn er Verspätung hätte? Vielleicht sollte ich das Laptop anmachen und nachsehen …
Ich nahm drei weitere Schlucke. In meinem Magen breitete sich eine wohlige Wärme aus.
Ein drittes Mal ging die Tür auf und es trat ein etwas untersetzter Mann ein, der eine Baskenmütze mit Karomuster und eine schwarze Lederjacke trug. Mit langsamen Schritten näherte er sich der Raummitte, blickte für wenige Sekunden in meine Richtung, nahm sich schließlich eine Tageszeitung aus dem Halter neben dem Eingang und setzte sich an einen Tisch direkt am Fenster.
Also widmete ich mich wieder meinem Bier.
„Ganz allein heute?“ Der schlaksige Bartender, der eben noch den Tresen geputzt hatte, stand dicht neben mir und legte mir eine Hand auf die Schulter, zog einen der vier freien Stühle heraus und gesellte sich zu mir. Ich leerte mein Bierglas.
„Eine wunderschöne Frau, und dann so einsam?“ Er lachte und entblößte eine Reihe gelber Zähne. Seine Augen wirkten wie kleine Stecknadeln in seinem schmalen Gesicht. Ich hatte wirklich keine Lust auf Smalltalk, schon gar nicht mit diesem Typen! Und was, wenn jetzt Ray reinkäme? Dass mich dieser Bartender für wunderschön hielt, nahm ich ihm keine Sekunde ab. Schon im Internet hatte ich gelesen, dass häufige Komplimente von männlicher Seite zur Taktik bei ersten Dates zählten. Also war ich gewappnet. Außerdem hatte ich mit diesem Mann gar kein Date!
„Ich möchte bitte einfach nur in Ruhe mein Bier trinken.“ Selbstsicher blickte ich ihm in die winzigen Augen.
„Oha! Auch noch schnippisch, die Dame.“ Er erhob sich, bemerkte, dass mein Glas leer war und fragte, ob er mir wenigstens ein zweites Bier bringen könne, was ich bejahte. Dann verschwand er ebenso schnell, wie er gekommen war.
Das war einfach gewesen. Vielleicht war ich besser beim Männer-Vergraulen als beim Flirten. Als der Hagere wenig später mit meinem Bier zurückkam, schenkte er mir nur ein kaltes Lächeln. Ich konzentrierte mich darauf, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, was mir, soweit ich das von innen heraus beurteilen konnte, gut gelang.
Während ich mich immer wieder tröstend an meinem zweiten Bier festhielt, holte ich das Laptop aus der Filztasche und meldete mich bei All of Us an. Keine Nachrichten. Ich überprüfte noch einmal die WLAN-Verbindung des Pubs. Er meldete sich nicht. Nichts. Einfach nur nichts.
Zaghafte Tränen drängten sich in meine Augenwinkel, doch ich kämpfte tapfer gegen sie an. Nicht jetzt. Nicht hier, in aller Öffentlichkeit. Für einen Augenblick schoss mir durch den Kopf, dass ich in einem Liebesfilm jetzt desillusioniert aus der Kneipe rennen würde, um mich in die Themse zu stürzen. Im letzten Moment würde Ray auftauchen und mich retten. Und den Rest der Geschichte hatte ich ja schon erwähnt. Oder aber ich würde mich, nachdem Ray mich versetzt hatte, betrinken und dem glatzköpfigen Bartender nach Feierabend in die Arme werfen. Aber ich war Gundi Funzel. Ich würde nichts von alledem tun. Ich würde ganz einfach vor Schmerz und Trauer eingehen wie eine Blume, die niemand mehr gießt, würde zusammenschrumpeln und verdorren, eine alte Jungfer werden. Denn nach dieser Enttäuschung, und das wusste ich sofort, würde ich der Männerwelt endgültig den Rücken zuwenden!
Ich war eine langweilige Person. Es geschah natürlich nichts von alledem, was ich mir in meinem Kopf ausmalte, genauso wenig, wie mein Leben all die glücklichen Wendungen nehmen würde, die ich mir so sehr erhofft hatte. Außer, dass ich, die keinen Alkohol gewohnt war, meinen zweiten Drink eilig hinunterschüttete und anschließend mit Entsetzen feststellte, dass es bereits viertel vor zehn war. Wie lange sollte ich warten? Sollte ich Ray doch eine Nachricht schicken? In meiner Brust meldete sich der Stolz. Ich, Gundi Funzel, die die lange Reise nach England angetreten hatte, um diesen mysteriösen Maler kennenzulernen, war mir zu schade, um ihm jetzt noch hinterherzurennen! Ich war ihm genug entgegengekommen! Hatte mich ihm online offenbart, Zeit bei seiner Großmutter verbracht, hatte lange genug in diesem Pub auf ihn gewartet, es reichte! Er hielt es nicht einmal für nötig, sich bei mir für seine eventuelle Verspätung zu entschuldigen!
Entschlossen trat ich an den Tresen, um meine zwei Bier zu bezahlen. Ich wankte, als seien meine Beine plötzlich elastisch, und mein Kopf war schwer wie Blei. Wütend verließ ich die Kneipe, ging mit langen, wenn auch unsicheren Schritten zur nächsten Tube-Station und fuhr zum Bahnhof, um in den Zug in Richtung Rays Heimatdorf zu steigen. Ich hatte es satt, ein für alle Mal! Mich zum Narren zu machen! Wofür? Es wäre besser gewesen, wenn ich in Stuttgart geblieben wäre!
Nachdem der Zug die Innenstadt verlassen hatte, lief die nächtliche Landschaft wie ein schwarzes Trauerband an mir vorbei. Die Häuser, die verwischten Lichter der fremden Fenster, hinter denen sich andere, mir unbekannte Schicksale abspielten, die tristen, menschenleeren Bahnsteige, die vereinzelten Bäume und schließlich die schweigenden Felder. Ich stieg aus. Ich war allein. Die Lampe über dem Ortsschild flackerte und einige Motten flogen zitternd und unruhig ihre Kreise. In dem Bahnhofshäuschen brannte ein dumpfes Licht, aber es war keine Menschenseele zu erkennen. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so verlassen und hintergangen gefühlt. Die Nacht und ich. Die Wut und ich. Die Enttäuschung bohrte sich wie ein Dolch in meine Eingeweide.
Mit gesenktem Haupt trat ich den Fußmarsch zu Liz’ Haus an. In meinem Kopf herrschte eine sonderbare Stille, als habe jemand den Innenraum meines Schädels mit Watte ausgestopft. Dazu kam diese beklemmende Angst, dass ich im Leben immer alles falsch machen würde. Dass ich dazu verdammt war, nicht den normalen Weg gehen zu können. Alles, was sich gut anfühlte, endete im Desaster. Es gab kein Happy End. Nur in den Filmen, die ich mit Mama anschaute. Und in manchen meiner Bücher.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, sondern war von einem Zustand erfüllt, den ich nie zuvor erlebt hatte. Wie von Geisterhand getrieben legte ich die Strecke zu dem Landhaus zurück. Mir war kalt und ich musste in meinem Selbstmitleid an meine Mutter denken. Ein einziges Mal hatte ich sie erlebt, wie sie als Scherbenhaufen vor mir lag. Das war nach ihrem vierzigsten Geburtstag gewesen. Vielleicht war etwas an der Weisheit dran, dass Frauen in diesem Alter eine unsichtbare Grenze übertraten, hinter der sie sich immer weiter vom Frausein entfernten und zu etwas mutierten, vor dem sie sich fürchteten. Was sollte dann aus mir werden? Ich war noch nicht einmal zur Frau mutiert! Steckte sozusagen mitten in der Metamorphose, die sich aber schwieriger gestaltete als gedacht. Jedenfalls hörte ich eines Abends, dass meine Mutter am Küchentisch saß und weinte. Sie schluchzte, wie die Heldinnen aus unseren liebsten Filmen, wenn sie vom Liebesglück verlassen oder betrogen worden waren. Sie verscheuchte mich zunächst beinahe, als ich den Raum betrat und mich zu ihr setzte, als sei es ihr peinlich. Malte war auf einem Lehrerausflug und sie sagte mir, sie fühle sich so allein. Ihr ganzes bisheriges Leben türme sich vor ihr auf wie ein Trümmerhaufen. Was sie bloß mit ihrem Leben tun solle? Mit ihrem Leben, in dessen Mitte sie nun angekommen sei. Wenn es gut lief. Auf all ihre Fragen hatte ich keine einzige Antwort, aber ich wusste, dass ich ihr Nähe schenken konnte, also nahm ich sie in den Arm und drückte sie so fest an mich wie ich nur konnte. Sie weinte noch eine Weile, durchnässte die Schulter meiner Strickjacke, sah mich dann auf ihre wunderbare Weise an und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Selbstmitleid ist etwas Schreckliches, Gundi. Versinke niemals in Selbstmitleid.“
In Gedanken an jenen Abend ging ich weiter, immer schneller, um die Kälte aus meinem Körper zu verscheuchen. Ja, ich tat mir leid! Auch wenn es nicht lobenswert war. Manchmal fühlte man eben Dinge, die man nicht fühlen wollte. Sie drängten sich in einen hinein und es würde eine Weile dauern, diesen Schmerz wieder aus mir herauszubekommen. Aber ich würde den Kampf aufnehmen!
Als ich an Liz’ Haus ankam, kraulte ich Toby, der mir mit der Zunge über den Handrücken fuhr, gewährte mir mit dem Hausschlüssel, den Liz mir zur Sicherheit schon gestern überlassen hatte, Eintritt und ging die mit Teppich belegten Stufen zu meinem Gästezimmer hinauf. Dort bekam ich auf einmal einen unbändigen Durst und trank drei Gläser Leitungswasser aus. Fast mechanisch wechselte ich aus meiner Kleidung in meine Latzhose, ein weißes T-Shirt und meine bequemen Turnschuhe, und begann meine Sachen zu packen.
Es war fast zwei Uhr morgens, als ich abreisebereit war. Zu meiner Erleichterung war von Liz keine Spur, sie musste ausnahmsweise in ihrem Zimmer eingeschlafen sein. Ich hätte keine Lust gehabt, ihr die Situation erklären zu müssen, ihren perfekten Enkel in ein unschönes Licht zu rücken. Erschöpft legte ich den Schlüssel neben einen Zettel auf den Küchentisch.
Danke für alles, Liz! Deine Gundi.
Ich rief mir ein Taxi, die Nummer hatte ich aus dem Reiseführer. Nervös, denn ich hatte Angst, Liz könne wach werden, saß ich auf der Bank vor dem Haus, als sich die Lichter eines Autos in der Nacht wie Augen eines Monsters näherten. Erst jetzt bemerkte ich, dass mir warme Tränen die Wangen hinunterrannen. Sie liefen ohne Unterlass, wie ein Wasserfall, der von immer neuem Wasser genährt wird.
Der Fahrer trug eine Pfeife im Mundwinkel. Er stieg aus, grüßte mich und hob mein Gepäck in den Kofferraum. „Alles in Ordnung, Lady?“
Ich nickte stumm und wischte mir das salzige Nass mit den Handrücken vom Gesicht. Wir fuhren zum Bahnhof, wo ich für die kurze Fahrt viel zu viel Trinkgeld gab und mich auf eine Bank auf dem Bahnsteig setzte.
„Die Züge fahren hier nicht oft, Lady. Sie setzen sich besser drinnen hin“, meinte der Mann und winkte mir zum Abschied, setzte sich wieder in sein Taxi, zog die Autotür zu und begann seine Pfeife zu rauchen. Langsam erhob ich mich und merkte, dass ich sehr müde war. Meine Beine waren schwer und mein Kopf schmerzte mit jeder Minute mehr.
Die Beleuchtung in dem Raum war schwach. Aus einem Automaten neben den Toiletten holte ich mir einen Schokoladenriegel, setzte mich auf eine Holzbank neben dem Ticketschalter, packte den Snack langsam aus und verzehrte ihn. Süß zerlief er auf meiner Zunge. Der Geschmack mischte sich mit dem Salz meiner Tränen, die wieder ohne mein Zutun in Strömen über mein Gesicht flossen. Der Anblick musste schrecklich sein, aber zum Glück gab es niemanden hier, der ihn ertragen musste.
In der Halle des kleinen Bahnhofes war es angenehm, ich fror nicht mehr. Also legte ich Maltes Koffer und mich selbst über die gesamte Länge auf die Bank. Mein Kopf ruhte auf meinem Gepäck. Der Zeiger der Bahnhofsuhr stand auf zwei Uhr. Am liebsten hätte ich meine Mutter angerufen, aber auf den ersten Blick entdeckte ich nirgendwo ein Telefon. Außerdem wusste ich, dass sie schon lange im Bett war. Sie würde sich solche Sorgen machen.
Noch bevor ich mir ausmalen konnte, was mit einer einsamen jungen Frau geschehen könnte, die mitten in der Nacht in England in der Halle eines ländlichen Bahnhofs lag, entführte mich der Schlaf in eine kurze Nacht voller unruhiger Träume.