Kapitel zwölf
D
er erste Tag zu Hause verging so langsam, dass ich die Zeit verfluchte. Um mich ein wenig abzulenken und weil ich schon eine Weile mit dem Gedanken spielte, fuhr ich in die Stadt und kaufte mir ein Handy. Ich würde zumindest mit Witty Wizard Kontakt halten wollen. All of Us
wollte ich den Rücken zuwenden.
Wieder zu Hause angekommen, machte ich mich mit meinem neuen Mobiltelefon vertraut. Draußen fiel ein monotoner Herbstregen. Am Abend gingen Mama, die in ihrem dunkelbraunen Etuikleid hübsch aussah, und Malte aus. Ich mochte es, wenn sie ihre Wimpern dunkelbraun tuschte.
Ich bepinselte die Kanten meiner Schreibtischplatte mit neongelber Farbe, was ihn ein wenig peppiger aussehen ließ. Dann widmete ich mich einem Roman, konnte mich aber nicht konzentrieren. Also fischte ich das Laptop, das Malte mir noch etwas länger überlassen hatte, aus den Untiefen meiner Filztasche und erlag doch noch einmal der Versuchung – ich besuchte All of Us
. Der Handybildschirm war mir zu klein, um damit im Internet zu surfen.
Ray hatte sich wieder gemeldet.
Ich weiß, dass du nicht Sarah Sparks bist! Und das ist völlig in Ordnung.
Mein Kopf begann zu glühen. Ich bekam Angst, er könne zerplatzen, hier und jetzt, mitten in meinem Zimmer. War das möglich?
Ich will die Frau kennenlernen, die mir so viele Nachrichten geschickt hat und die mir so gefällt, wie sie ist! Niemand ist so, wie sie oder er auf den ersten Blick vielleicht erscheint!
Woher wusste Ray, dass Sarah Sparks nicht existierte? Ich verstand gar nichts mehr, alles schien durcheinander zu laufen, nichts ergab
mehr Sinn. Inmitten all der wirren Gedanken, die einander in meinem Kopf jagten, kristallisierte sich nur ein einziger heraus. Eine Gewissheit, die ich plötzlich so klar vor Augen hatte, dass es mir weh tat: Ich war in Ray Colby verliebt und ich wäre ein Narr gewesen, mir selbst vorzumachen, dass es nicht so war.
Unschlüssig, was ich tun sollte, kochte ich mir einen Tee. Anschließend machte ich es mir mit dem Laptop auf meinem Bett bequem. Es war Zeit, mich für ein letztes Mal bei All of Us
einzuloggen, um mich dann für immer von der Online-Gemeinde zu verabschieden. Um Sarah Sparks Lebewohl zu sagen, aber vorher herauszufinden, woher Ray wusste, dass ich nicht Sarah war.
Mit dem Kloß im Hals, der mich immer heimsuchte, wenn ich im Begriff war, mich nach einem Klick auf mein Profilbild mit meinem Passwort einzuloggen, starrte ich auf den Monitor. In den wenigen Tagen, die ich nicht online gewesen war, war mehr passiert als in all den Monaten nach Sarah Sparks Geburt in der virtuellen Welt. Entsetzt begann ich, all die Nachrichten zu lesen, die auf meiner eigenen Seite öffentlich gepostet worden waren. Ungläubig starrte ich auf die Worte. Es konnte nicht wahr sein! Natürlich wusste Ray, dass ich eine Lügnerin war. Die Putzhilfe im Drogerie-Markt hatte damit angefangen.
Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Sarah Sparks
, schrieb sie. Profilbild stimmt auch nicht.
Judith Bronner hatte sich auch zu Wort gemeldet: Findest du nicht, dass es geschmacklos ist, Fotos von einer Toten zu posten?
Sie hatte einige der Fotos erkannt. Das hätte ich mir denken können.
Wer bist du und warum lügst du uns alle an?
, hatte Judith Bronner eine Stunde später ergänzt. Sie schien wütend zu sein.
Ihr meint, dass hier alles fake ist?
, wollte Witty Wizard wissen.
Das ist eine Schande für die sozialen Medien! Solche Profile sollten sofort gesperrt werden!
, empörte sich ein mir unbekannter Benutzer.
Ich saß starr und fassungslos vor dem Bildschirm und las all die Anschuldigungen. Das hier war also ein Shitstorm! Und ich, beziehungsweise Sarah Sparks, für die ich mich ausgegeben hatte, war das Zentrum der Anschuldigungen! Witty Wizard war die Einzige, die mir eine persönliche Nachricht geschickt hatte: Sarah, bist du es? Hoffentlich, denn ich möchte gern deine Freundin bleiben!
Noch während ich las, kamen neue Posts auf meiner Seite dazu.
Wie erbärmlich, wenn man nicht zu sich selbst stehen kann!
, schrieb eine Frau, die ab und zu meine Bilder kommentiert hatte.
Das ist ja ungeheuerlich!
, schrieb eine andere.
Wirklich unmöglich, die Welt hinters Licht zu führen, Sarah Sparks, oder wer immer du bist! Wir sind ab jetzt nicht mehr befreundet!
Was hatte ich nur angestellt und wie konnte Ray nach alldem, was hier im Netz und öffentlich über mich geschrieben wurde, überhaupt noch den Kontakt zu mir suchen? Mein Kopf wurde heiß und der Pfropf in meinem Hals machte das Schlucken unmöglich. Meine Hände waren kalt und unbeweglich, als gehörten sie gar nicht zu meinem Körper. Was war nur geschehen? Und was sollte ich erwidern?
Beschämt klickte ich auf mein Profil und las eine neue Nachricht von Ray:
Lass dich nicht unterkriegen, wie auch immer du in Wirklichkeit heißt. Mein Tipp: Lösche dein Profil und sei du selbst. Meine Handynummer hast du ja. xxx Ray
Ich meldete mich ab, legte das Laptop beiseite und klammerte mich an meiner kalten Tasse Tee fest. Mein Kopf dröhnte und ich hatte
Lust auf etwas Süßes. In der Küche fand ich einige Kekse und setzte mich damit auf unser Cord-Sofa. Die langen dunklen Vorhänge in unserem Wohnzimmer erinnerten mich an Bühnenvorhänge. Inmitten dieser Bühne saß ich, Gundi Funzel, und das Publikum da draußen wartete darauf, dass ich endlich etwas tat. Dass ich lebendig wurde und begann, meine Rolle zu spielen. Denn mein Leben war ein langweiliges Theaterstück gewesen! Das ödeste, das ich mir vorstellen konnte! Was nun?
Mit Sarah Sparks war es schlimmer gekommen, als ich gedacht hatte. Keiner schien sie jetzt noch zu mögen. Obwohl sie hübsch war, schön lackierte Fingernägel hatte und in vorzüglichen Restaurants speiste. Alle im Netz zerrissen sich die Mäuler über sie!
Andererseits hatten mir meine vermeintlichen Freunde das abgenommen, was mich so bedrückt hatte: Sie hatten Ray aufgeklärt, dass es keine Sarah Sparks gab. Trotzdem war Ray Colby noch an mir interessiert. Unwillkürlich musste ich lächeln.
In dem Moment, in dem mir klar wurde, dass Ray auch das an mir sah, was mich wirklich ausmachte und was weitaus mehr Bedeutung in meinem Leben hatte als mein Äußeres, meine Reisen oder meine Hobbys, kamen Mama und Malte nach Hause. Erstaunt befühlte ich meine Wangen, die trocken waren. Die Anspannung in meinem Körper hatte sich gelöst. Sie war geschmolzen wie das hartnäckigste Eis, wenn die Strahlen der Spätwintersonne es streicheln. Die beiden grüßten mich und fragten, ob alles in Ordnung sei. Ich bejahte und schloss mich dann trotzdem in meinem Zimmer ein. Aus meiner Schreibtischschublade holte ich den Umschlag heraus, den mein Vater aus England geschickt hatte. Auf Maltes Schul-Laptop suchte ich nach der Adresse in London, die dort angegeben war. Er wohnte also in einem der Reihenhäuser aus rotem Backstein, unweit des East End. Er saß vielleicht gerade dort an seinem Schreibtisch und arbeitete. Was tat er überhaupt? Es war erstaunlich, wie wenig ich über ihn wusste. Was, wenn ich ihn einfach anrufen würde? Würde er sich für mich interessieren, nach all den Jahren?
Mit einem Kribbeln im Bauch legte ich den Umschlag auf meinen Schreibtisch, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Jetzt war es an der Zeit, zu handeln. Es gab keinen Grund, alles aufzuschieben und abzuwarten, was geschah. Es war so vieles passiert, was ich nicht beeinflusst hatte. Jetzt war der Teil meiner Geschichte an der Reihe, in der ich Regie führen wollte, schließlich war ich schon lange alt genug dafür. Ich zückte mein Handy und schrieb, ohne vorher viel nachzudenken, an Ray. Als tippten meine Finger automatisch das, was mein Kopf ihnen befahl.
Entschuldige bitte, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Ray antwortete.
Du hast ein Handy! Wow! Ich hatte schon Angst, du würdest dich gar nicht mehr melden. Wollte schon einen Flug nach Stuttgart buchen …
Der Gedanke gefiel mir.
Mit zittrigen Fingern schrieb ich: Das, was im Internet steht, ist schlimm. Aber ich habe es nicht böse gemeint.
Rays Text kam wieder im Handumdrehen: Das weiß ich doch. Lass uns nicht über das nachdenken, was war. Wir sollten nach vorne schauen. Wie heißt du in der realen Welt?
Ich zögerte. Dachte daran, dass ich es seiner Großmutter auf dem Abschiedszettel verraten hatte. Aber vielleicht war er in London geblieben und hatte gar nicht mehr mit ihr gesprochen?
Hat deine Großmutter dir das nicht erzählt?
Ich habe nur kurz mit ihr telefoniert. Sie hat sich gewundert, dass du so plötzlich abgereist bist. Und sie nannte dich nur darling girl …
Ich musste lächeln. Und dann schrieb ich es ihm, weil ich wusste, dass es das einzig Richtige war. Selten zuvor hatte ich mich so
erleichtert gefühlt wie nach dem Absenden dieser wenigen Worte:
Mein echter Name ist Gundi Funzel.
Und das erste Mal in meinem Leben war ich stolz auf diesen Namen.