Kapitel eins
M
eine Mutter war schlichtweg dagegen. Sie wollte, dass ich mit ihr zusammen Weihnachtseinkäufe machte, dass wir Maltes Cousine in Berlin besuchten, zusammen einen Stollen backten und im Schlossgarten Schlittschuhlaufen gingen, das habe sie schon immer einmal versuchen wollen. Ich fragte mich, warum ihr der Gedanke erst jetzt kam, nach so vielen Jahren, die sie in Stuttgart gelebt hatte. Sie bot mir allerlei Aktivitäten an, nur um mich von dem Gedanken fernzuhalten, Ray noch einmal einen Besuch abzustatten. Doch dazu war ich ohnehin noch nicht bereit. Es in Erwägung zu ziehen, hatte ich zugelassen, aber ich hielt mich in der Kommunikation mit ihm ein wenig zurück, auch wenn es mir schwerfiel. Ich hatte Angst, verletzt zu werden, mir etwas vorzustellen, das es so nicht gab. Jetzt war er am Zug. Die Malte-Vernunft-Tour war gar nicht so schlecht. Er hatte mir geraten, Ray ein wenig zappeln zu lassen.
Nebenher bewarb ich mich auf Stellenanzeigen im Internet, meistens als Sekretärin oder Empfangsdame, denn mit meiner neuen Frisur traute ich mir das zu, und außerdem konnte ich mir vorstellen, am Telefon Gefallen daran zu finden, in einer international tätigen Firma Englisch reden zu können. Die Sprache gefiel mir.
Immer wieder arbeitete ich halbe Tage an irgendwelchen Kassen als Aushilfskraft, denn im Trubel der Vorweihnachtszeit waren solche Stellen überall ausgeschrieben. Auf meinem Konto sparte ich für all das, was noch vor mir lag. Für das, was ich mir in meinem Leben vornehmen wollte. Es war nur nicht einfach, einen klaren Plan zu haben. Auch wenn das Bild meiner Zukunft noch schleierhaft war, ich wusste, dass es mit einer Veränderung verbunden sein musste. Zu Hause zu sitzen, war keine Option mehr für mich. Viel zu lange hatte ich damit nichts erreicht.
Der Kontakt zu Fremden gestaltete sich nicht mehr ganz so schwierig wie früher angenommen. Selbst hinter der skurrilsten Fassade
verbarg sich oft ein zugänglicher Mensch. So wie bei Malte. An einem Novembernachmittag, an dem es unaufhörlich aus einem trübgrauen Himmel regnete, durchzuckte mich das Gefühl, dass ich Malte zwar nie besonders mögen würde, dass er aber im Großen und Ganzen ein gutartiger Mensch war. Ich hatte keinen Grund, ihm für irgendetwas böse zu sein. Er lümmelte in seinem Trainingsanzug auf dem Cord-Sofa und trank einen Kaffee, als ich gerade den Recycling-Müll aus der Küche hinaustragen wollte.
„Und wann geht die Reise los?“ Er sah mich neugierig an. Das Haar an seinen Schläfen war grau geworden, als habe es jemand mit Asche bestäubt.
„Ich weiß es noch nicht.“
„Meinst du nicht, du solltest nicht allzu lange warten?“ Er hob die Augenbrauen und kippte den Kopf leicht zur Seite.
„Ich glaube, ich brauche jetzt ein bisschen Ruhe.“
„Meinst du, er wird auf dich warten? Vielleicht hast du ihn jetzt lange genug auf die Folter gespannt.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Auch die Liebe ist nicht ewig geduldig“, sagte Malte und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse.
„Aber du verstehst, dass ich noch einmal zu ihm reisen möchte?“
„Voll und ganz.“ Er lächelte und ich wusste, dass er mit Mama reden würde.
Die Wochen vergingen, sie waren eine Kette sich schnell aneinanderreihender, fast identischer Tage. Ich arbeitete sporadisch. Den Rest der Zeit las ich, kaufte mir zwei normale Jeanshosen, die meiner Figur schmeichelten, ging mit meiner Mutter einkaufen und begann einen Pilates-Kurs, den mir eine ältere Dame,
die zusammen mit mir an der Kasse in einem Krimskrams-Laden aushalf, empfohlen hatte. Anfang Dezember beschloss ich, mich das erste Mal, seit ich den Shitstorm entdeckt hatte, bei All of Us
anzumelden. Dieses Mal sollte es wirklich ein Abschied von der Online-Plattform sein. Bei meinem letzten Vorhaben hatte mich das, was über Sarah Sparks geschrieben worden war, aus der Bahn geworfen.
Die Meldungen zu meiner falschen Identität hatten nicht aufgehört, aber sie waren weniger geworden. Ich schickte Witty Wizard in einer privaten Nachricht meine Handynummer und beschloss, mich von der virtuellen Welt zu verabschieden. Sarah Sparks wollte ich nicht mehr sein und Gundi Funzel wollte lieber in der realen Welt ihre Rolle finden.
Bin ich in Stuttgart willkommen?
Es war Ray, der mir aufs Handy textete. Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. In Mamas und Maltes enge Wohnung konnte ich ihn wohl kaum einladen!
Wir sollten reden
, schrieb er kurz darauf. Er klang ernster als sonst.
Gib mir ein bisschen Zeit. Ich muss erst einmal wissen, was ich will.
Was schrieb ich da? Wieso spannte ich ihn weiter auf die Folter, wenn ich nichts sehnlicher wollte, als mit ihm zusammen Hand in Hand über den Stuttgarter Weihnachtsmarkt zu gehen? Dort fuhr der Weihnachtsmann auf den Dächern der Stände mit seinem Rentierschlitten und vom Rathausturm ergoss sich ein Schleier aus Lichtern bis hinunter auf den Marktplatz. Es würde fast so romantisch sein wie ein erster Kuss in der hintersten Reihe eines Kinosaales.
Ich buche einfach einen Flug. Wenn du dann Zeit für mich hast, freue ich mich
, textete Ray weiter.
Seine Worte machten mich nervös. Ich wollte nicht diejenige sein,
die sich passiv überrumpeln ließ. Jetzt, da ich auf dem Weg war, mich selbst zu finden, wollte ich in Ruhe planen können, was passieren sollte. Die hektische Reise im Herbst hatte mir nicht gutgetan.
Ich werde mit meiner Mutter und meinem Stiefvater reden.
Kaum hatte ich diesen Satz abgeschickt, wurde mir klar, dass es eine unglückliche Situation war, dass ich kein eigenes Zuhause hatte. Ich zog einen Block aus der Schublade meines Schreibtisches und zückte einen Kugelschreiber. To Do List
. Ich lächelte, nur für mich selbst. In meiner Brust kribbelte eine zu lange unterdrückte Vorfreude. Es war an der Zeit. Und ich war das erste Mal in meinem Leben motiviert.
1. Eigene Wohnung suchen.
2. Garderobe überdenken. Kleiderschrank ausmisten.
3. Meinen talentierten Frisör aufsuchen und ihm sagen, dass ich sehr mit seiner Arbeit zufrieden bin. Nächsten Termin vereinbaren.
4. Zu einer Schminkberatung gehen und das Nötigste dafür einkaufen, damit mein Gesicht etwas lebendiger aussieht.
5. Mit Mama und Malte besprechen, ob es in Ordnung wäre, wenn Ray noch vor Weihnachten zu Besuch kommt. Er kann auf dem Sofa im Wohnzimmer übernachten, oder er wohnt in einem Hotel. Wäre vermutlich die bessere Lösung, damit ihn Malte nicht bei seinen nächtlichen Klogängen überrascht. Ach, was denke ich! Natürlich übernachtet Ray in einem Hotel. In dem Fall werde ich das Zimmer für ihn buchen. Ich dachte nur, weil ich auch bei Liz übernachten durfte.
6. Herausfinden, ob es möglich ist, Sarah Sparks’ Profil bei All of Us
zu löschen. Es tut mir so leid, Anne! Es wäre nur so schön, wenn du noch am Leben wärst. Ich wollte dich nicht verletzen! Bitte verzeih mir.
7. Einen neuen Job finden, denn das Gehocke an der Kasse kann nicht meine berufliche Zukunft sein!
Gerade als ich am Stift zu kauen begann und überlegte, was ich meiner Liste noch hinzufügen könnte, klopfte es an meiner Tür. Malte kam herein. Er kam von der Arbeit und trug ein gestreiftes langärmliges Hemd, das er sorgfältig in den Bund seiner Stoffhose gesteckt hatte. Alle Bügelfalten waren perfekt. So perfekt, wie nur Mama sie hinbekam.
„Darf ich hereinkommen?“ Er tat einige Schritte in die Mitte meines Zimmers und betrachtete meinen Kleiderschrank. „Etwas duster, aber nicht schlecht.“ Er kniff die Augen zusammen. „Du hast wirklich ein Gefühl für Farben und Formen.“
„Danke.“ Ich senkte beschämt den Blick. Es war das erste Mal, dass er mir ein Kompliment gemacht hatte.
„Ich hätte da eine Gelegenheit für dich, Gundi.“
Interessiert hob ich den Kopf.
„Meine Schule gestaltet gerade den Aufenthaltsraum, das Lehrerzimmer und die Cafeteria neu. Da dachte ich mir, dass da vielleicht auch die Wände dazugehören.“ Malte lächelte mich an. „Ich könnte ein Wort für dich einlegen.“
Am nächsten Tag saß ich in demselben Outfit, in dem ich in dem Pub vergeblich auf Ray gewartet hatte, vor dem Rektor der Schule. Er war ein hochgewachsener, knochiger Mann mit weiblich hervorstechenden Wangenknochen, der im Sitzen so groß war wie manch einer im Stehen. Während er mir erklärte, wie die Schule die Innenräume freundlicher gestalten wolle, spielte er die ganze Zeit mit seinem Füllfederhalter, den er zwischen Daumen und Mittelfinger hielt und hin und her wippte.
„Darf ich fragen, welche beruflichen Qualifikationen Sie haben, Frau Funzel?“
Der Füller wippte noch ein wenig schneller und mein Gegenüber heftete seinen ernsten Blick auf mich. Darauf war ich nicht vorbereitet, war davon ausgegangen, dass Malte mir den Weg schon geebnet hatte.
„Ich habe das nicht gelernt.“ Instinktiv wollte ich meine Hände zum Mund bewegen und an meinen Fingernägeln kauen, wies mich aber selbst zurecht. Der Rektor hob die Augenbrauen ein wenig an. Seine knorrigen, langen Finger spielten nun alle mit seinem edlen Schreibutensil. Der ganze Mann war so dünn, dass ich ihm am liebsten eine Tafel Schokolade angeboten hätte.
„Aber ich habe viel Übung. Ich streiche dauernd etwas an. Spiele gern mit den Farben.“ Ich blickte ihn entschlossen an, wollte diesen Job haben. „Wir könnten mit einem Raum beginnen, und wenn es Ihnen nicht gefällt, dann sage ich auf Wiedersehen.“
„Und die Wand?“
„Die streiche ich wieder weiß. Umsonst, versteht sich.“
So kamen wir ins Geschäft. Am nächsten Montag stand ich in einem Lehrerzimmer, dessen Mobiliar in die Mitte des Raumes gerückt und mit Folie abgedeckt war, und starrte auf eine große, langweilige Fläche Wand. Der Anstrich war sandfarben und von der Zeit gezeichnet. Überall waren Flecken und an manchen Stellen war zu sehen, dass jemand dilettantisch versucht hatte, Unreinheiten mit dem Pinsel auszubessern. Leider mit einem Farbton, der dem Original nur ähnelte.
Zu Hause hatte ich stundenlang Pläne gezeichnet. Zusammen mit dem Rektor und einigen Lehrern entschieden wir uns am Freitagnachmittag schließlich für den Entwurf, der auch mir am besten gefiel. Die Wand wurde weiß, aber in Brusthöhe verliefen waagrechte Streifen in Braun- und Orangetönen. Sie waren unterschiedlich dick und in verschiedenen Abständen verteilt, das Streifenband war etwa vierzig Zentimeter dick. Es passte hervorragend zu dem dunklen Holz der Tische im Lehrerzimmer. Ich
schlug vor, die beiden Sofas in hellorange beziehen zu lassen. Der Rektor nahm es zur Kenntnis und tippte etwas in sein Handy.
Drei Tage später war ich fertig und wurde von einer Lehrertraube umgeben, die meine Arbeit aufrichtig lobte. „Jetzt komme ich noch lieber zum Kaffee in diesen Raum!“ – „Wunderbar, das sieht so einladend und friedlich aus!“ – „Hat was von den siebziger Jahren, aber es ist sehr hübsch geworden!“
Ich schickte Ray Fotos von meinem Werk auf sein Handy. Er freute sich mit mir und berichtete, auch er habe mit seiner Kunst Erfolg. In einer Woche stand die nächste Vernissage in London an. Er müsse abwarten, bevor er seinen Flug nach Stuttgart buchen könne. Enttäuscht ließ ich mein Handy sinken und fragte mich, ob ich ihn jemals zu Gesicht bekommen würde. Und dann verdrängte ich den Gedanken, weil ich gelernt hatte, dass ich das, wenn es sein musste, auch schaffen konnte.
Fast einen Monat lang war ich an der Schule beschäftigt. Oft fuhr ich morgens zusammen mit Malte mit der Stadtbahn und wir unterhielten uns über die Tagespolitik, einige der Lehrer und darüber, dass man froh sein konnte, wenn man einen Job hatte, der einem Spaß machte. Auf eine sonderbare Weise fühlte ich mich mit Malte verbunden.
Der Aufenthaltsraum für die Schüler wurde mein Meisterwerk! Meine Jeans-Latzhose bekam Flecken in Neon-Gelb und Neon-Orange, die nicht einmal Mamas Waschkunst beseitigen konnte. Die Wände wurden ein vor Leben sprühender Wirrwarr aus Pfeilen, Blitzen, Sternen und dreidimensional anmutenden Würfeln. Die Schüler grölten vor Begeisterung, als das Zimmer nach einer Woche harter Arbeit eingeweiht wurde. Ich stand inmitten der Menge und trank ein Glas Sekt, während der Rektor mir aus der hinteren Ecke anerkennende Blicke zuwarf. Ich war stolz auf mich.
Die Cafeteria bekam drei einfarbige Wände. Nur an der Seite, an der die Durchreiche war, verzierte ich das Loch in der Wand mit Brezeln, Cupcakes und Milchpäckchen. Es war nicht einfach, diese Bilder an
die Wand zu zaubern, aber nach vielen Übungsentwürfen auf dem Papier gelang es mir erstaunlich gut.
Etwa eine Woche nach Beendigung meiner Auftragsarbeiten kam die Nachricht von Ray, er könne mich dieses Jahr nicht mehr besuchen kommen. Liz hatte eine schwere Lungenentzündung und lag im Krankenhaus in London.