Kapitel acht
A m dreiundzwanzigsten Dezember half ich meiner Mutter, den Weihnachtsbaum, den Malte neben dem Computertisch aufgestellt hatte, zu dekorieren. Zunächst arrangierte Malte, wie jedes Jahr und mit mathematischer Genauigkeit, die Lichterkette. Dabei ging er in bedächtigen Kreisen um den Baum herum und war erst dann zufrieden, wenn die Lichtpunkte in regelmäßigen Abständen aufleuchteten. Schweigsam verteilten wir rote und weiße Christbaumkugeln und Stroh-Deko zwischen den Zweigen, und ich hätte gern das Schweigen gebrochen, wusste aber, dass ich mir die Überraschung bis zum Festessen aufheben wollte. Es würde Mama innere Ruhe schenken, denn mein Plan war handfest, was untypisch für mich war. Vielleicht nahm sie es mir auch übel, dass ich meinen Vater in London aufgesucht hatte. Es war nicht zu übersehen, dass all das, was ich ihr erzählt hatte, in ihr arbeitete und dass sie noch Zeit brauchte, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Sie hatte keine einzige Frage zu Papa gestellt. Nicht einmal, wie es ihm ging. Oder ob er verheiratet war? Wie sein Geschäft lief? Mir wären tausend Fragen eingefallen und ich hätte sie auch aus mir herausgelassen.
„Und wenn Timo und Amanda hier sind, bist du bitte freundlich zu ihr“, sagte Mama, als der Baum fast fertig war. Sie hob die Augenbrauen leicht an und ich wusste, dass diese Worte an mich gerichtet waren.
„Ich war immer freundlich zu ihr.“
„Du hast nie ein Wort mir ihr geredet.“ Sie hielt in ihrer Bewegung inne und ein Strohengel schaukelte ungeduldig an ihrem Finger. „Du hast sie immer nur angesehen, als sei sie von einem anderen Stern.“
Ich ließ Mamas Worte sacken.
Wenig später verabschiedete sich Malte, weil er noch eine Stunde ins Fitnessstudio gehen wollte, damit er sich bei Mamas Gutsle auch in Zukunft nicht zurückhalten müsse. Kaum war er weg, klingelte es an der Tür und bald darauf stand mein Bruder, mit dem ich seit meinem letzten Geburtstag keinerlei Kontakt gehabt hatte, im Wohnzimmer, gefolgt von seiner Verlobten, deren Bauch sich unter ihrem Stretch-Rock verdächtig wölbte. Auch Mamas Blick wanderte unweigerlich in die Richtung, aber keiner traute sich, etwas zu sagen.
Der nächste Tag war Heiligabend. Während wir alle in unbequemen Schuhen über den eisigen Asphalt zur Kirche staksten, lauschte ich dem familientypischen, sonderbaren Schweigen. Mama und Malte gingen Hand in Hand voran, dicht gefolgt von Amanda und Timo, während ich mit Frau Kling, die sich sehr für meine Englandreise interessierte und gar nicht aufhören konnte, Fragen zu stellen, etwas langsamer hinterherging.
Während des Gottesdienstes beobachtete ich, wie Mama nach dem Vaterunser beim stillen Gebet Tränen in die Augen schossen. Malte nahm ihre Hand. Ich senkte mein Haupt, schloss die Augen und versuchte, mich auf mein Inneres zu konzentrieren, war aber viel zu aufgeregt.
So feierlich der Anlass auch sein mochte, für mich war etwa seit meinem vierzehnten Lebensjahr nichts Festliches mehr an der Geschenkeschlacht am Abend. Inzwischen waren wir alle erwachsen, aber wir schafften es immer noch nicht, dass alle einer Person beim Geschenkeauspacken zusahen. Jedes Jahr war es ein heilloses Chaos und ich wünschte mir, es könne anders sein. Timo turtelte mit Amanda, die eine Kette mit einem bombastischen Anhänger von ihm bekommen hatte und sie sich sogleich um den Hals legte, Mama probierte Malte die Wollsocken an, die sie für ihn gestrickt hatte, am Weihnachtsbaum glitzerten friedlich die Lichter und ich hielt mein Handy, auf dem eben zwei Nachrichten von Elijah und Papa angekommen waren, zwischen den Händen. Ich hätte gern einen Videoanruf gestartet, eine glückliche, wenn auch virtuelle Zusammenkunft der Großfamilie vorgegaukelt, aber ich wusste, dass solch eine Harmonie höchstens im Himmel real sein könnte.
Mama freute sich über eine London-Tasse, die ich für sie mitgebracht hatte, und Malte gefiel das Union-Jack-Schweißband, das er sogleich über das Handgelenkt streifte. Es passte zu seinem Trainingsanzug. Timo hatte zwei Biografien von Politikern und ein Buch über Management-Strategien bekommen. Einen langweiligeren Lesestoff hätte ich mir nicht vorstellen können. Und ich saß da und reckte vergeblich den Hals nach einem Geschenk – aber nichts da. Das konnte doch nicht wahr sein! Wurde ich so bestraft, indem ich einfach nichts bekam? In meinem Hals wurde es enger und der wohlvertraute Kloß, der mich schon lange nicht mehr heimgesucht hatte, begann sich zu entwickeln.
Mamas Kartoffelsalat schmeckte köstlich. Dazu gab es, wie jedes Jahr, Saitenwürstchen und Senf. Im Hintergrund lief ausnahmsweise nicht Mamas Schlager-Hitparade, sondern eine klassische Weihnachts-CD, die Malte aufgelegt hatte.
Plötzlich erklang ein glockenhelles Klimpern. Moment mal, ich war noch gar nicht so weit! Beziehungsweise, mir war seit der Bescherung die Lust vergangen, auch nur ein Wort zu sagen. Es war Timo, der sich erhob. Es war das erste Mal, dass ich ihn aufgeregt erlebte. Mit den Fingern fummelte er an seinem Hosenbund herum und er hatte dieselben Nervositäts-Flecken im Gesicht, wie Mama sie immer bekam.
„Nun, da wir alle hier zusammen sind, möchte ich etwas verkünden.“ Er nahm Amandas Hand und sie erhob sich ebenfalls. Sie hatte also nicht nur zugenommen.
„Amanda und ich werden bald heiraten“, verkündete mein Bruder und sah Amanda verliebt an. „Früher als geplant, da sich, ebenfalls früher als geplant, etwas angekündigt hat.“ Mit diesen Worten legte er seine Hand auf den Unterbauch seiner Verlobten, deren Augen glückselig strahlten.
Malte war der Erste, der auf die Neuigkeit, die man wohl unter den freudigen einordnen konnte, reagierte. Er erhob sich und sein Glas und prostete in die Runde: „Auf den ersten Enkel!“
Wir alle standen auf und gratulierten dem Paar. Mama entschuldigte sich für einen Augenblick und verschwand in der Küche. Sie tat mir leid. Alles, was um sie herum eine statische, sichere Form gehabt hatte, schien für sie auseinanderzufallen. Dabei war es nur die Zeit, die Veränderungen mit sich brachte.
Als Mama zurück ins Wohnzimmer kam, saßen alle wieder auf ihren Stühlen. Jetzt oder nie , dachte ich. Reiß dich zusammen.
Malte schmatzte. Timo redete mit unserer Mutter über eine Baby-Willkommens-Party und ich wünschte mir, ich hätte mich vorbereitet. Aber das war gar nicht mein Metier.
„Ich habe auch etwas zu sagen“, begann ich. Es war nicht einmal nötig, mit der Gabel gegen das Glas zu klopfen. Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, wurde es auf einmal totenstill im Raum. Ich erhob mich erneut. Man hörte das Atmen jeder einzelnen Person, und zum Glück sprang bald darauf der Kuckuck aus der Uhr, um die peinliche Stille zu durchschneiden.
„Nun, da der Kuckuck ausgesprochen hat, möchte ich verkünden, dass es auch bei mir große Neuigkeiten gibt.“
„Du bist doch nicht etwa auch schwanger?“ Mamas Gesicht wurde kreideweiß.
Aber ich ließ mich von ihr nicht aus dem Konzept bringen, obwohl mich ihre Äußerung aufregte. Elijah und ich hatten kein einziges Mal ein Kondom benutzt. Das wusste aber nur ich. Wer dachte schon mitten im Gefecht an so etwas Praktisches? Also ich bestimmt nicht. Außerdem hätten wir sieben- oder achtmal am Tag zum Automaten rennen müssen. Doch halt, bei uns im Drogeriemarkt hatte es Großpackungen gegeben … Zu spät.
„Es geht um Elijah und mich“, sagte ich mit fester Stimme.
„Wer ist Elijah?“ Timo sah mich herausfordern an. „Hat die kleine Gundi etwa einen Freund?“
Ich blitzte ihn böse an. „Elijah lebt in London, wie diejenigen von euch, die sich für mein Leben interessieren, sicher wissen.“
Amanda warf meinem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Noch vor Neujahr werde ich zu ihm ziehen“, fuhr ich fort und nahm einen großen Schluck Sekt aus meinem Glas. „Er hat einen neuen Job in einer Buchhandlung. Um genauer zu sein, im Buchladen meines Vaters.“
Es war, als haben alle um mich herum aufgehört zu atmen.
„Du kennst deinen Vater?“ Timo begann nervös, an seinen Fingern zu zupfen.
„Kannst du vielleicht mal ruhig sein, damit Gundi ausreden kann?“ Es war Mama, die sich zu Worte gemeldet hatte. Sie lächelte mich an.
„Wie dem auch sei, er wird in dem Buchladen arbeiten und ich habe dort auch eine Stelle. Ich werde den Laden umgestalten. Damit ein bisschen Farbe und Pepp reinkommen und später dann hoffentlich auch mehr Kunden“, schloss ich und trank mein Glas leer.
Er herrschte betretenes Schweigen.
„Und an dieser Stelle möchte ich mich bei dir bedanken, Malte.“ Ich nickte meinem Stiefvater anerkennend zu. „Ich weiß, es war nicht immer einfach zwischen uns, aber du hast in all den Jahren viel für mich getan. Jetzt werde ich auf eigenen Beinen stehen und du und Mama könnt mit meinem Zimmer machen, was ihr wollt.“
Auf Maltes Gesicht zeigte sich ein verunglücktes Lächeln.
„Das war alles. Ich bin fertig.“ Mit diesen Worten setzte ich mich und füllte mein Sektglas wieder auf. Gerade als ich mir einen Nachschlag Kartoffelsalat holen wollte, stand Mama auf. Sie griff in ihre Hosentasche und holte einen Umschlag hervor, den sie mir entgegenhielt.
„Wir haben auch noch eine Überraschung. Und sie passt ganz gut zu dem, was du uns gerade erzählt hast, Gundi“, sagte sie, zog mich vom Stuhl und umarmte mich. Ich spürte, wie ihr gutes Herz vehement gegen ihren knochigen Brustkorb hämmerte. Und ich wusste, dass wir einander niemals lange böse sein konnten.
Aus dem Umschlag holte ich einen Gutschein, den Mama und Malte am Computer gestaltet hatten. Er zeigte die Umrisse von Deutschland und England, mit einem roten Pfeil aus Herzen, der von Süddeutschland nach London führte. Und darauf stand: Gutschein für eine Reise nach London und eine Woche Übernachtung in einem Luxus-Hotel. Für zwei Personen.