Kapitel zehn
I
ch sagte Lebewohl zu meinem Frisör, der sich bei dem Haarschnitt, den er mir am neunundzwanzigsten Dezember noch verpasste, selbst übertraf. Er machte sogar ein Foto von mir und ich gab ihm die Erlaubnis, es auf der Homepage des Salons zu verwenden, aber bitte ohne namentliche Nennung.
Am dreißigsten Dezember stand ich, nachdem ich online einen One-Way-Flug nach London gebucht hatte, mit Tonnen von Gepäck in der Wohnungstür. Der Winter hatte sich entschieden, doch schon wieder zu Ende zu sein, zumindest für ein paar Tage. Also trug ich lediglich die Barbour-Jacke über einem knallgelben T-Shirt. Dazu eine Latzhose, versteht sich.
„Gundi, du wirst mir so fehlen!“, rief Mama und fiel mir um den Hals. Sie umklammerte mich fest und weinte stumm.
„Alles Gute, Gundi! Ich bin mir sicher, dass du deinen Weg gehen wirst.“ Gerade als ich Malte die Hand reichen wollte, zog auch er mich zu sich heran. Wenige Sekunden stand ich an seine stahlharte Brust gepresst da.
Das Taxi stand vor der Tür. Ich hatte darauf bestanden, weil ich keine dramatische Abschiedsszene am Flughafen wollte. Kurz und schmerzlos war mir lieber. Obwohl sich meine Kehle zusammenschnürte und ich hätte weinen können, setzte ich eine coole Miene auf und winkte Mama und Malte zu, die Hand in Hand dastanden und mit der freien Hand zurückwinkten.
Während der Reise dachte ich viel nach. Ich hatte beschlossen, als Erstes meinen Vater aufzusuchen. Elijah hatte ich noch nichts von meiner Reise erzählt, es sollte eine Überraschung sein. Die Woche im Luxus-Hotel wollte ich mir im Frühjahr mit ihm gönnen, bis dahin könnte ich bestimmt bei Elijah unterkommen. Um die Wochen bis
zur Umgestaltung der Buchhandlung zu überbrücken, könnte ich mir Gelegenheitsjobs in London suchen, davon gab es bestimmt jede Menge. Und an der Kasse hatte ich Erfahrung.
Als ich eintrat, stand mein Vater gerade gedankenversunken vor einem der Bücherregale. Der Laden sah noch genauso aus wie zuvor und er war immer noch leer. Es war, als warteten all diese Bücher darauf, endlich entdeckt zu werden.
„Wir könnten ein Café in der Ecke gestalten“, sagte ich, trat einige Schritte näher und lächelte meinen Vater, der mein Eintreten trotz der Glöckchen nicht bemerkt hatte, glücklich an. Er machte große Augen, kam hinter dem Schreibtisch hervor und empfing mich mit einer innigen Umarmung.
„Gundi! Das ist ja eine Überraschung. Das zweite Mal überrascht mich meine Tochter aus heiterem Himmel!“
Als ich ihn näher betrachtete, fiel mir auf, dass seine Augen ein wenig eingesunken waren.
„Ich konnte nicht mehr bis zum Frühjahr warten“, sagte ich an seiner Schulter, stellte mein Gepäck voller Tatendrang im Hinterzimmer ab und ging mit meinem Vater zum Abendessen aus. Wir sprachen viel über seine Pläne für den Buchladen. Die Konkurrenz war groß und wir mussten etwas Besonderes auf die Beine stellen. Papa wusste sehr viel über gute Literatur und er kannte auch mein Lieblingszitat von Lessing. Er bot mir an, bei ihm zu übernachten, doch ich wollte Elijah aufsuchen.
„Es ist gut, dass du gekommen bist, Gundi. Danke.“ Er beglich die Rechnung und steckte die Geldbörse in seine lederne Männer-Handtasche. „Wir werden eine tolle Zeit haben.“
Und während ich ihm zusah, wie er umständlich seine Jacke von der Stuhllehne nahm und anzog, sich anschließend die Tasche umhängte und dabei immer wieder in meine Richtung blickte, als wolle er sicherstellen, dass ich noch da war, bekam ich das Gefühl, dass er
meine Nähe jetzt genauso brauchte wie ich die seine.
Als mein Vater mir ein Taxi bestellen wollte, wurde mir klar, dass ich nicht einmal Elijahs Adresse hatte. Also wählte ich Garys Nummer, die in meinem Handy eingespeichert war. Elijahs Freund schien über meinen Anruf sehr erfreut zu sein und gab mir bereitwillig Auskunft. Er sei sich aber nicht sicher, ob Elijah zu Hause sei.
Trotzdem ließ ich mich zu seiner Wohnung fahren. Eine alte Dame in einem geblümten Mantel trat gerade aus der Tür, sodass ich das Gebäude betreten konnte. Allmählich war ich von der Reise und all den Gedanken in meinem Kopf erschöpft und sehnte mich nach einem Bett oder einer Couch. Der Flur roch auf sonderbare Weise nach altem Öl und blumigem Parfüm. Ich hievte mein Gepäck bis zum zweiten Stock hinauf, wo ich vor einer weißgetünchten Tür stehen blieb, auf welche in geschwungener Schrift die beiden Buchstaben E und B gemalt waren. Neben dem Fußabtreter, auf dem in Rot auf tannengrünem Grund Ho-ho-ho geschrieben stand, lagen kreuz und quer Schuhe. Ein Paar davon gehörte definitiv nicht einem Mann.
Ich lehnte mich für einige Sekunden gegen die Wand. Versuchte, einen klaren Kopf zu behalten und mich zu beruhigen. Wovor hatte ich Angst? Ich liebte Elijah und er liebte mich auch. Oder waren das nur Worte gewesen?
Entschlossen trat ich vor die Tür und klopfte. Einmal, zweimal. Nichts. Dreimal und viermal. Immer noch nichts. Entmutigt sackte ich neben der Tür zusammen, wie Elijah damals, als wir zusammen gefeiert hatten und er zu viel getrunken hatte. Kurz bevor ich das erste Mal seine Lippen auf den meinen gespürt hatte. Ich sehnte mich so sehr nach ihm!
Meine Lider wurden schwer. Da hörte ich Geräusche, die aus der Wohnung drangen. Zwar wohnten viele Parteien in diesem Haus, aber es war eindeutig: jemand musste zu Hause sein. Ich erhob mich. Meine Beine waren bleiern und meine Arme schmerzten. Auch mein Kopf fühlte sich an wie damals, als ich im Sportunterricht vom
Medizinball getroffen worden war. Wieder klopfte ich und tatsächlich raschelte es hinter dem Holz. Dem Holz, dessen wenige Zentimeter mich von Elijah trennten! Von seiner Umarmung, seinem Kuss, seinem vertrauten Atem …
Doch kaum wurde die Tür geöffnet, erstarrte ich. Mein Atem stockte. Vor mir stand nicht Elijah, sondern eine Frau in einem bodenlangen Nachthemd. Ihre Augen waren nur Schlitze, während sie in das Licht des Flurs hinausblickte und das Kinn ein wenig vorschob. Ihr langes, braunes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und ihre Fußnägel waren schwarz lackiert.
Ich rannte. Es war derselbe Instinkt wie damals, als ich vergeblich im Pub gewartet hatte. Es war mir egal, dass ich müde war, dass ich gar nicht wusste, was ich tat oder wo ich hingehen sollte. Ich wollte einfach nur weg. Kurz vor dem ersten Treppenabsatz stolperte ich und ein Blitz fuhr durch meinen rechten Knöchel.
„Hey, halt!“
Es war Elijahs Stimme, die mir von oben hinterherrief. Aber ich wollte sie nicht hören, wollte einfach nur weg von dieser unwirklichen Szene! Ich war wirklich im falschen Film! Ich hatte mir immer nur das ausgemalt, was ich gern gesehen hätte, und dabei die Realität aus dem Auge verloren. Mama hatte recht! Die interessanten Männer waren Schweine! Das hatte ich sogar schon mal im Internet gelesen.
Trotz der Schmerzen im Fußgelenk ging ich weiter, hielt mich am Treppengeländer fest und wollte allein sein. Fluchtartig verließ ich das Gebäude und hielt mich an einem Briefkasten fest, der neben dem Eingang an der Straße stand. Ich steckte meine Finger in den Schlitz an dem glatten, roten Zylinder, der von einer altersschwachen Straßenlaterne beleuchtet wurde, und befühlte mit der anderen Hand meinen Knöchel, als mit einem Krachen die Haustür zuflog. Noch bevor ich mich umdrehte, spürte ich, dass es Elijah war. Er stand dicht hinter mir.
„Gundi! Was machst du hier?“, rief er, und da drehte ich mich um. Er war in einen dunkelblauen Bademantel gehüllt und trug keine Schuhe, seine Augen waren weit aufgerissen und er kam auf mich zu. Ich humpelte weiter, wusste aber, dass er mich bald einholen würde. Auf den drei Treppen, die zum nächsten Hauseingang führten, sank ich zusammen und war nicht mehr als ein elender, hoffnungsloser Haufen, den nicht einmal der Hund, den eine Frau eben an mir vorbei Gassi führte, bemerkte. Ich war unsichtbar für die Welt. War es immer gewesen. Hatte mir etwas vorgemacht und durfte nun erfahren, dass die Welt jenseits des Gundi-Horizontes kalt und fremd war …
„Um Himmels willen, was tust du?“ Elijah rannte. Er rannte ungeschickt, mit seinen X-Beinen und dem üppigen Bauch, der ihm dabei im Weg war. Er setzte sich neben mich auf die Stufe und legte seinen Arm um meine Schulter. Doch ich schob ihn von mir weg. Es war die einzige Reaktion, die ich für richtig hielt. Mein Verstand diktierte mir mein Verhalten, obwohl mein Herz sich danach sehnte, bei einem Kuss mit Elijah zu verschmelzen.
„Wer ist sie?“, flüsterte ich und kniff die Augen zusammen. Tausend Nadeln bohrten sich in meinen Knöchel. Als wolle mein Fuß jede Sekunde abfallen.
„Oh Gott, Gundi. Sie ist meine Schwester!“ Elijah versuchte meinen Arm zu berühren, doch ich wich zurück.
„Klar, und ich bin der Weihnachtsmann!“
„Gundi, was ist denn los? Wieso …“
„Seit wann hast du eine Schwester?“
„Sie ist meine Halbschwester. Irgendwie kamen wir noch nicht auf das Thema und … meine Familie ist mindestens so fehlerhaft wie deine.“ Er zog mich zu sich heran, obwohl ich mich zu wehren versuchte. Seine Finger umschlossen meinen Oberarm und ich spürte seinen Atem dicht neben meinem Gesicht. Er roch nicht nach
Alkohol, sondern einfach nur nach Elijah.
„Mach jetzt keinen Unfug, hörst du?“ Er nahm mein Gesicht in die Hände, deren Innenflächen warm und weich waren. „Alles ist gut.“
Mit diesen Worten näherte er sein Gesicht dem meinen und ich schloss die Augen, um seine Zunge zu spüren, die erst zaghaft und dann immer entschlossener die meine liebkoste.
Elijahs Schwester hieß Maria und war zu Besuch gekommen, um seiner nächsten, großen Ausstellung beiwohnen zu können. Sie war Journalistin und Schriftstellerin und lebte im Norden von England. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater war schwierig.
Da mein Knöchel dick und bunt wurde, begleitete mich Elijah am einunddreißigsten Dezember ins Krankenhaus, wo eine Krankenschwester mit fleischigen Armen einen Gips an meinem Fußgelenk anlegte. Unsere Silvesterparty beschränkte sich auf Kuscheleinheiten auf dem Sofa. Seine Nähe tat mir gut und ich machte mir stille Vorwürfe, da ich ihm nicht vertraut hatte. Wieso war alles in mir stets in höchster Alarmbereitschaft? War es so schwer, sich dem Glück hinzugeben, ohne das Schlimmste zu erwarten? Es schien so. Doch schon nach wenigen Stunden in seiner Nähe war ich mir sicher, es an Elijahs Seite zu lernen.