Der Kontext oder die Angst vor zwischenmenschlichen Konsequenzen wegen fehlender psychologischer Sicherheit bringen uns dazu, uns anders zu verhalten, als wir wollen. Während wir uns im Alltag in oberflächlichen Liebenswürdigkeiten verlieren, gehen wir uns nicht selten tierisch auf die Nerven. Doch unsere Zusammenarbeit bietet unerschöpfliches Konfliktpotenzial. Um ihm aus dem Weg zu gehen, müssen wir unserem inneren Business-Chamäleon also jede Menge zu tun geben. So sind wir ganz besonders nett und höflich zueinander. Beispiele gibt es viele. Hier ist eine kleine Auswahl:
Ein Kollege führt endlose Monologe im Remote-Meeting, aber niemand unterbricht. Wir sind lieber still und leise genervt als laut und deutlich unhöflich.
Die Kollegin glaubt, es sei eine gute Idee, ihren Döner im Büro zu essen. Statt sie darauf aufmerksam zu machen, dass das unappetitlich ist, halten alle den Mund und sich die Nase zu.
Die Führungskraft grätscht in die Projektarbeit rein. Statt sie darauf hinzuweisen, wo die Verantwortung liegt, akzeptieren alle zähneknirschend ihre Übergriffigkeit.
Aber eines haben alle Situationen gemeinsam. Sie rauben uns den Nerv, kosten uns Zeit und machen uns unproduktiv. In dem Versuch, höflich zu sein und nicht anzuecken, geben wir einzelnen die Macht über alle. Wir ärgern uns innerlich und verlieren den Fokus. Aber es bleibt nicht nur beim kurzfristigen Konzentrationsschwund. Es folgen Gespräche mit denen, die auf unserer Seite sind. Wir verarbeiten das Ereignis und unseren Ärger in der Gemeinschaft. Es kostet Zeit, wenn wir tolerieren, statt zu intervenieren. Und diese Zeit summiert sich schnell zu einem massiven Produktivitätsverlust. Und das Schlimmste: Am Ende wissen alle, was Sache ist, nur die nicht, die es wirklich etwas angeht.
Ich bin kein Fan von Höflichkeit. Natürlich ist es wichtig, dass wir aufeinander eingehen, uns wahrnehmen und aufmerksam sind, denn das ist die Grundvoraussetzung für ein gutes Miteinander. Aber das ist Menschlichkeit. Menschlich verhalten wir uns, aufgrund unserer Gefühle und Bedürfnisse. (Falsche) Höflichkeit hingegen hat etwas Erlerntes und Aufgesetztes. Wir zwingen uns aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und auferlegter Spielregeln dazu oder haben schlichtweg Angst, dass uns Konsequenzen drohen, wenn wir nicht mitspielen. Wir machen uns klein, dulden zu viel und schlucken alles runter. Aber damit werden wir nicht uns, sondern im besten Fall nur anderen gerecht. Außerdem tragen wir damit jeden Tag dazu bei, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, anstatt dafür zu kämpfen, dass sie so werden, wie wir sie gerne hätten. Forstschritt passiert nur, wenn wir den Mund aufmachen. Irgendwer muss den Kreislauf falscher Höflichkeit und Anpassung also durchbrechen. Meist ist nämlich genau das der Moment, in dem es überhaupt erst möglich wird, dass sich etwas ändert. Wir brauchen deshalb Menschen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, damit wir uns gemeinsam weiterentwickeln können.
Für eine vertrauensvolle Zukunft der Arbeit brauchen wir ein Umfeld, in dem wir ganz wir selbst sein können. Das schließt ein, dass wir getrost auch einmal unhöflich sein dürfen, ohne Angst haben zu müssen, gleich ausgestoßen zu werden. Und wenn ich ganz ich selbst sein darf, muss ich keine gesellschaftlichen Konventionen erfüllen. Aber können wir jetzt alle rücksichtslos unser Handeln damit rechtfertigen, dass wir nun mal so sind, wie wir sind? Nicht ganz, denn andere zu verletzen, darf nicht das Resultat sein. Doch antrainierte Nettigkeiten abzulegen, ist sehr befreiend. Ich unterbreche zum Beispiel in Meetings hart und deutlich, wenn jemand zu lange redet oder der Fokus abhandenkommt. Ich bin dabei unhöflich, aber menschlich. Das Gute daran ist, dass alle wissen, woran sie sind. Das sorgt für Vertrauen und spart Zeit.