Rasch überflog Ruedi Keller den Zettel, den er aus dem vereinbarten Versteck unter dem Fensterladen beim Briefkasten hervorgeholt hatte. In fünf Minuten würden sie von der Familie Conrad zum Chlausbesuch erwartet; auf Pünktlichkeit legten die Privatbankiers bestimmt großen Wert. Den Zettel hatte gewiss die Mutter Mechthild Conrad vorbereitet und wie abgemacht draußen neben der Haustüre deponiert. Der Chlaus würde den Zettel in sein goldenes Buch legen und dann der Familie die Leviten lesen. Dafür gab es in solchen Kreisen in der Regel eine großzügige Entschädigung. Den normierten Tarif der Stadtzürcher St. Nikolausgesellschaft, der schon im Voraus online beglichen wurde, rundete man hier am Züriberg gerne mit zwei hübschen blauen Hundertern auf, die man dem Chlaus und seinem Gehilfen am Ende der Visite diskret in einem Couvert zustecken würde. Ruedi Keller war schon mehrmals in solchen Villen zu Gast gewesen und musste annehmen, dass ihn drinnen im Wohnzimmer ein paar schwierige Kinder und eine Handvoll nicht minder anspruchsvoller Erwachsener erwarten würden. Er stapfte auf und ab, um seine klammen Füße etwas aufzuwärmen. Unter seinen Schuhen knirschte der Schnee. Sein Schmutzli Livio Gmür nutzte die verbleibenden Minuten, um eine Zigarette zu rauchen. Er starrte in den Sternenhimmel, der das weitläufige Anwesen überspannte wie ein Glitzervorhang das Chapiteau in einem Kinderzirkus.
Keller hatte die Einleitung der Conrads quergelesen. Sie triefte von Floskeln – die beiden Buben Jakob und Matteo seien ›aufgeweckt‹ und ›lebensfroh‹, was nichts anderes bedeutete, als dass es sich um ausgebuffte Nervensägen handelte, denen nur mit drastischer Strenge und viel Ritalin beizukommen war. In der Schule gäben sie sich »große Mühe«, murmelte Keller halblaut vor sich hin, während Schmutzli Gmür soeben eine Sternschnuppe entdeckt hatte und seinerseits ein halblautes »Oh!« ausstieß. Keller quälte sich weiter durch die Schulleistungen der Söhne und erreichte endlich die Freizeitaktivitäten, die ebenso verklausuliert waren und an Arbeitszeugnisse erinnerten, in denen zwischen den Zeilen mehr steht als in den Buchstabenreihen selbst. »Zeigt in der Geigenstunde ein wachsendes Interesse«, las der Nikolaus laut vor und schüttelte den Kopf. Ein Käuzchen rief, schwarz und mächtig ragten die alten Buchen zum Himmel. Bis auf eine schwache Funzel vor der Haustüre brannten keine Lichter im Garten des Anwesens. Die Zigarette von Schmutzli Gmür glühte noch einmal auf, bevor er sie in den Garten spickte, wo sie mit einem kleinen Funkenschweif im Schnee versank.
Beim nächsten Satz auf der Bonus-Malus-Liste von Mutter Conrad lief es Ruedi Keller eiskalt den Rücken hinunter. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt, hätte den Auftrag abgesagt. Doch das ging nicht, ihr Auftritt war bereits bezahlt worden. Der Kodex der Chlausgesellschaft schrieb außerdem vor, auch bei schwierigen Familienverhältnissen bestehe ein Anrecht auf eine würdevolle Visite. Und hier musste der Haussegen so schief hängen, wie sich der Turm zu Pisa auf den Postkarten präsentiert. »Leider ist unser Matteo noch immer ein kleiner Bettnässer«, las Keller ungläubig vom Zettel ab, der in seiner schweißfeuchten Hand bereits ein paar Rümpfe abbekommen hatte. »Um Gottes Willen!«, murmelte er. Was geht in einer Mutter vor, die ihren neunjährigen Sohn vor dem versammelten Familienclan derart bloßstellen will? Niemals würde ein Nikolaus vom Schlag eines Ruedi Keller, pensionierter Pöstler und seit bald dreißig Jahren engagierter Chlaus, einem Kind gegenüber eine solche Ungeheuerlichkeit begehen.
Einfach ignorieren, lautete die Devise, verletzende Statements werden strikt überlesen. Besonders bei Kindern, klar – aber auch bei Erwachsenen? Keller geriet ins Strudeln, als er die Notizen zu Vater Johannes – Nickname Jo – Conrad, zur Schwiegermutter Anna Wegelin und zur Gemahlin Mechthild anschaute. Auch hier gab es reichlich Plattitüden; etwa das Lob an Johannes für dessen Aufstieg zum Vizechef seiner geliebten Privatbank und zum schönen fünften Rang im Halbmarathon um den Greifensee. Die Stichworte zur Ehefrau und zur Schwiegermutter fielen gar mager aus und erschöpften sich in der formidablen Betreuung der Hausangestellten, im kreativen Schaffen im neu angemieteten Schmuckatelier und im erfolgreich absolvierten Schlussexamen zur Yogalehrerin. Aber zu Johannes Conrad gab es einen Eintrag, der Ruedi Keller stutzig machte: »Unser Jo frisst leider immer noch gern über den Hag. Es wäre schön, er könnte vermehrt schätzen, was er in seinem Daheim hat.«
Was soll das, durchfuhr es Keller, während sein Gehilfe energisch mit dem rechten Zeigefinger aufs linke Handgelenk tippte, weil der abgemachte Besuchstermin immer näher rückte. Schmutzli Gmür packte den Sack, der laut Agreement auch hinter dem Briefkasten versteckt worden war und die Geschenke für die Familie beinhaltete. Er war groß und mordsschwer; die Zeiten, in denen der Nikolaus eine Handvoll Mandarinen und Lebkuchen, Nüsse und Schokolade mitgebracht hatte, waren vorbei. Heute wurden Snowboards und iPhones, Sneakers und Hoodies verschenkt, obschon keine drei Wochen später eine weitere Großbescherung unter dem Weihnachtsbaum liegen würde. Ruedi Keller und Livio Gmür bedauerten diese Entwicklung, stoppen konnten sie sie nicht. Oft sprachen sie auf ihren nächtlichen Fahrten zu den Familien und Firmen, die den Nikolaus bestellt hatten, über die Konsumwut, den Materialismus, die Oberflächlichkeit der Kundschaft. Und auch über die Botschaften an die Kinder und Erwachsenen, die auf den vielen Zetteln standen, die sie vor ihren Besuchen draußen in der Kälte zu studieren hatten. »Diese Zettel geben mehr preis über den Verfasser als über die Person, die gemeint ist«, dachte Keller bei sich. Einmal im Jahr durften Eltern in eine andere Rolle schlüpfen und ihre Brut wie von oben herab unter die Lupe nehmen. Was sie nach dieser Reflexion zu Papier brachten und dem Chlaus zukommen ließen, waren nichts als Projektionen des eigenen Glücks, das man selbst irgendwie verpasst hatte.
»Frisst leider immer noch gern über den Hag«, wiederholte Keller an Gmür gerichtet und fragte diesen: »Das bedeutet doch, dass der Typ fremdgeht, oder?«
Livio Gmür nickte, zupfte seinen schwarzen Theaterbart zurecht und hievte den Sack mit beiden Händen auf seine rechte Schulter. »Gehen wir!«, sagte er zu Keller, der den Zettel der Conrads in Gedanken noch einmal durchging, bevor er ihn in sein großes goldenes Buch legte und dort mit seinen weißen Glacéhandschuhen glattstrich.
»Ja, soll ich das wirklich sagen?«, wollte er von seinem Schmutzli wissen. »Soll ich den Hausherrn vor allen anderen dafür kritisieren, dass er über den Hag frisst?«
»Die Kinder müssen wir vor den Erwachsenen in Schutz nehmen«, sagte Schmutzli Gmür bestimmt. »Aber die Erwachsenen müssen sich selbst um ihren Schutz kümmern. Los jetzt, sonst kommen wir zu spät.«
Kaum hatte Ruedi Keller die Klingel gedrückt, gingen im Hausflur die Lichter an und eine elegant gekleidete, attraktive Mittvierzigerin öffnete die Tür. Sie trug einen knielangen Rock mit beige-blauem Schottenmuster, einen hellbraunen, ärmellosen Rollkragenpulli und schwarze Schuhe mit Absätzen. Unter der schönen Deckenlampe aus dem Jugendstil glänzten ihre schulterlangen Haare in einem satten Kastanienbraun. Frau Conrad besaß eine glamouröse Ausstrahlung und erinnerte Ruedi Keller sofort an die frühere amerikanische First Lady Jackie Kennedy. Vielleicht ist ihm das aber bloß deshalb in den Sinn gekommen, dachte Keller, weil deren Gate John F. bekanntlich auch fremdgegangen war? Wie auch immer; Keller ergriff Frau Conrads Hand, die sie ihm bereits vor einer Weile entgegengestreckt hatte, und sagte dann mit typischer, tiefer Samichlausstimme:
»Guten Abend, Frau Conrad, wir kommen aus dem tiefen, tiefen Wald und haben etwas mitgebracht.«
»Guten Abend, Samichlaus. Schön, dass Sie und der Schmutzli den weiten Weg bis zu uns gefunden haben. Kommen Sie herein.«
Als Reaktion auf Kellers abgesenkte Chlausstimme hob Mechthild Conrad ihr eigenes Stimmchen um mindestens eine Oktave und verfiel in einen gekünstelt anmutenden Singsang, wie man ihn von frischgebackenen Eltern kennt, die vermeintlich kindgerecht säuselnd mit ihren Säuglingen kommunizieren wollen. Oder von Hundebesitzern, die betont langsam und deutlich zu ihren Vierbeinern sprechen und dann tatsächlich glauben, die Kreatur würde irgendetwas vom Inhalt ihrer Botschaft verstehen.
»Jakob, Matteo, kommt, kommt! Der Nikolaus ist da! Und der Schmutzli auch. Sie haben einen großen Sack mit Geschenken dabei. Kommt schon, und gebt ihm die Hand!«
Ruedi Keller stutze und merkte, dass die langsame, säuselnde Sprechweise der Mrs. Kennedy nicht etwa eine Reaktion auf seine theatralische Bassstimme gewesen war. Nein, die gute Frau war ziemlich angesäuselt, konstatierte Keller. Da war Alkohol im Spiel; deutlich hatte er zwischen den Worten ein Lallen gehört. Auch fiel ihm jetzt auf, dass ihre Wangen gerötet waren und ihre Augenlider etwas schwer wirkten.
»Jakob und Matteo, jetzt kommt schon!«, lallte Mutter Conrad nochmals in Richtung Wohnzimmer, wo die Türe einen Spalt weit geöffnet war. Keine Reaktion.
Also forderte sie den Besuch mit einer Handbewegung auf, ihr in die Stube zu folgen. Sie öffnete die große Flügeltüre, hinter der sich eine ausladende Sofalandschaft auftat, die den Eindruck erweckte, die Firma De Sede würde demnächst genau hier ihr neues Schaulager eröffnen. Den Wänden entlang zogen sich Einzelsessel, Zweier-, Dreier- und Vierersofas aus flaschengrünem Leder. Eine raffinierte Kombination aus Stehlampen und Deckenleuchten traten gemeinsam den Beweis an, dass ein Beleuchtungskonzept in die Hände von Profis gehörte. Und sogar das Feuer, das im Kamin brannte, war wie aus dem Katalog – es loderte und verschenkte züngelnde Flammen, ohne dabei allzu forsch zu knistern. Ruhig saßen die Familienmitglieder in den Lederpolstern. Bestimmt würden sie sich innerlich sammeln und auf den Chlausbesuch vorbereiten, dachte Keller. Bis er erkannte, dass alle mit ihren Smartphones zugange waren. Die Söhne Jakob und Matteo blickten genauso auf die Bildschirme wie Vater Johannes und Schwiegermutter Anna. Diese hatte zudem ihren Dackel Mephisto auf dem Schoß, dem sie mit der linken Hand den Kopf kraulte, falls sie nicht gerade beide Hände zum Tippen von Nachrichten brauchte.
»So, lieber Samichlaus, hier ist meine Familie. Es sind alle schon ganz neugierig zu hören, was du zu berichten hast.«
Mechthild Conrad hatte so laut und deutlich, wie es ihr Rausch zuließ, in Richtung der Sofaberge gesprochen. Doch dort rührte sich nichts. Kein Kopf hob sich, alle acht Augenpaare blieben an den Handys haften. Die Mutter merkte, dass sie andere Saiten aufziehen musste. Sie stöckelte zum Kamin, auf dessen Sims eine Blumenvase von der Größe einer Milchkanne stand. Mit spitzen Fingern riss sie die dunkelroten Rosen aus dem Wasser, schmiss sie auf ein Glastischchen und schmetterte die Vase mit voller Wucht auf den gefliesten Boden bei den Sofas, wo sie mit einem lauten Knall zerbarst und dann als Sprühregen an Glasscherben auf den Boden prasselte.
Nun hatte Mama Kennedy die volle Aufmerksamkeit der Familie auf sicher. Jakob und Matteo, zwei Blondschöpfe mit Seitenscheitel, edlen Carhartt-Jeans und Kapuzenpullis, rissen die Augen auf und ließen ihre iPhones fallen. Jakob quengelte etwas wie »fast einen Herzinfarkt bekommen«, während Matteo »Holy Shit, geht’s noch?!« stammelte. Vater Conrad, der wohl erst gerade in seiner Bank Feierabend gemacht hatte und noch die Anzughose und das weiße Hemd trug, hatte das Handy ebenfalls weggelegt und besah sich kopfschüttelnd die Stelle, wo die Vase eingeschlagen hatte. Der schlanke Mittfünfziger mit dem noch immer vollen Haar und dem markigen Kinn murmelte Floskeln wie »schade um das gute Stück« und »ein Fall für die Hausratversicherung«. Dann klatschte er zweimal in die Hände und rief nach dem Dienstmädchen Magdalena, das »die Sauerei aufputzen« solle. Auch Schwiegermutter Anna Wegelin, die sich für diesen Abend extra eine Strickjacke mit rot-weiß-grünen Weihnachtsmotiven über ihren hellblauen Hosenanzug gestreift hatte, war erschrocken. Sie fuhr sich über ihre graublau gefärbten Haare und schüttelte seufzend den Kopf. Noch mehr erschrocken war ihr Dackel Mephisto. Mit einem Jaulen war er in die Luft gesprungen und unter einen Sessel geflüchtet. Oma Wegelin wusste aber, dass ihre Tochter zu impulsivem Verhalten neigte. Also blieb sie ganz Dame, schwieg und zeigte ihre Verachtung nur mit ihrem eiskalten Blick, in dem mehr Herablassung steckte als ein Zürcher Verkehrspolizist aufbringen könnte, wenn er eine Parksünderin in flagranti erwischt hat. Schließlich richtete sich Wegelin doch noch in ihrem Sessel auf und gab einen kurzen Kommentar ab: »Das fängt ja mal gut an!«
»Ja, fangen wir an«, nahm Mechthild Conrad den Faden auf. Zuvor hatte sie von einem Drink, den sie offenbar auf dem Kaminsims platziert hatte, einen großen Schluck genommen. Ihr Lallen und Schwanken wurden noch etwas ausgeprägter. Immer mehr tauschte sie die Aura der unvergesslichen Jackie Kennedy gegen jene der heftigen Trinkerin Amy Winehouse ein, dachte Ruedi Keller bei sich.
»Jetzt begrüßen wir einmal alle den Nikolaus und den Schmutzli, die den langen Weg durch die kalte Nacht bis zu uns gefunden haben. Los, los, meine Buben, gebt ihm die Hand!«
Murrend und im Schneckentempo, als hätten sie sich zu einem Kindergeburtstag verirrt, dessen Buffet nur aus Salaten und Rohkost bestand, bewegten sich Jakob und Matteo in Richtung des Besuchs. Während Jakob, der Ältere, genervt zur Decke starrte, blickte der kleine Matteo stur zu Boden. Das änderte sich nicht, als die beiden dem Chlaus nacheinander die Hände reichten und sie so rasch wie möglich wieder zurückzogen. Nachdem die Kinder ins Sofaland zurückgetrottet waren, raffte sich Vater Jo dazu auf, den Nikolaus mit einem jovialen »Ja, Sali Chlaus« zu begrüßen. Kräftig schüttelte er Kellers Hand und klopfte ihm ebenso kräftig auf die Schulter. Oma Wegelin lockte ihren Mephisto aus seinem Versteck hervor. Als sie den Dackel wieder bei sich hatte, hob sie ihn auf und nahm ihn an die Brust. Das Tier schnaufte noch schwer, als sie mit ihm beim Chlaus angelangt war. Sie reichte Keller kurz und etwas umständlich die linke Hand, weil sie mit der rechten ihren Mephisto festhalten musste.
Doch als der Dackel direkt vor dem merkwürdigen Mann mit dem roten Mantel, dem weißen Bart, der Kapuze und dem langen Stab zu stehen kam, geriet er in Panik. Er ließ ein unfreundliches Knurren vernehmen und begann zu zappeln. Auch der Schmutzli mit seiner tief bis zu den Augen gezogenen Kapuze und dem schwarzen Bart schien dem Hund Angst einzujagen. Auf jeden Fall hielt es Mephisto plötzlich nicht mehr an Wegelins Busen aus. Japsend und kläffend befreite er sich aus den massigen Armen seiner Herrin und sprang zu Boden. Er landete direkt vor dem großen Jutesack, den der Schmutzli vor sich hingelegt hatte. Blitzschnell steckte er seine Nase in die Öffnung; gerade so, als gehörte er zum britischen Königshof und ginge in den schottischen Wäldern mit den Royales auf Fuchsjagd. Im Nu war Mephisto im Innern des Sacks verschwunden und beschnupperte blitzschnell dessen Inhalt. Synchron zu seiner Schnüffelei hob und senkte sich der Sack ruckartig von einem Ende zum anderen. Noch bevor der Schmutzli intervenieren konnte, schoss Mephisto wieder aus dem Sack heraus. In der Schnauze trug er ein kleineres, längliches Paket, das mit rotem Papier eingewickelt und mit einer goldenen Schleife verziert war. An einem dünnen Goldfaden baumelte ein Geschenketikett, auf dem mit roter Tinte Für Johannes geschrieben stand.
Wendig kurvte Mephisto durch die Sofalandschaft und stürmte durch die geöffnete Flügeltüre zum Wohnzimmer hinaus. Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Chlausgesellschaft gefasst hatte und die Verfolgung aufnehmen konnte. Während die beiden Buben stoisch aus der Wäsche schauten und nur ein müdes Grinsen zeigten, brach Vater Jo in schallendes Gelächter aus. Mutter Mechthild hätte dem Dackel nur zu gern nachgestellt, sie fletschte bereits die Zähne und reckte angriffslustig die Arme in die Luft. Zu mehr aber war sie nicht fähig, sie brachte keinen Fuß vor den andern – offensichtlich lähmte sie der Alkohol. Ruedi Keller kam mit seinem roten Wams als Hundefänger nicht infrage. Also blieben nur der Schmutzli und die Schwiegermama übrig. Doch mit seinem sperrigen Mantel und dem lästigen Bart konnte Schmutzli Gmür auch nicht lossprinten wie ein Usain Bolt. Rentnerin Wegelin wiederum verspürte Rheuma in den Gliedern und Arthrose in den Knien und konnte sich auch nur gemächlich auf die Fährte des Hundes machen. Begleitet wurde die Szenerie von den Lachsalven, die der Hausherr noch immer ausstieß, weil er die Situation so absurd fand. Hier gebe es nichts zu lachen, schnaufte Gemahlin Winehouse wutentbrannt. Dann begann sie lauthals ihren Partner zu beschimpfen, was diesen nur noch mehr erheiterte. Die beiden Buben witterten ihre Chance, setzten sich wieder in die Polster und hielten sich sogleich ihre Handys vor die Augen.
Als der Schmutzli und die Schwiegermama die Flügeltüre erreicht hatten, war der Dackel wie vom Erdboden verschwunden. Da die Haustüre geschlossen war, konnte er wenigstens nicht nach draußen entwischt sein. Schmutzli Gmür bemerkte, dass die Türe zum Keller einen Spalt weit offen stand und schlüpfte durch die Öffnung, gefolgt von Oma Wegelin.
Kaum waren die beiden im Keller angelangt, hörten sie ein Knurren aus der Waschküche. Auch die Türe zu diesem Raum stand offen, und tatsächlich hockte Mephisto dort in der Ecke hinter dem Tumbler auf dem lindgrünen Betonboden und schien etwas zu verspeisen. Neben seinen Pfoten verstreut lagen Schnipsel des roten Geschenkpapiers, das er zerfetzt hatte; es sah aus, als hätte ein enttäuschter Kunde vor einem Kiosk eine Handvoll Lottoscheine mit lauter Nieten in der Luft zerrissen und zu Boden geworfen. Mephisto kaute und kaute. Zwischen seinen Stockzähnen lugte kurz ein kleines Stück Etwas hervor, dann verschwand auch dieses im Mahlwerk des Hundegebisses. Ein dünner Speichelfaden tropfte ihm von den Lefzen. Er kaute ein letztes Mal und schluckte alles hinunter. Dann begann er schwanzwedelnd zu hecheln.
»Mephisto, komm daher! Komm, komm!«, rief Anna Wegelin ihrem Vierbeiner zu. Der Hund stellte den Kopf schräg, glotzte sie treu aus seinen braunen Augen an und zottelte gemächlich zu ihr. Wegelin hielt ihn am Halsband fest, sodass Schmutzli Gmür den Rest des Pakets behändigen konnte. Es handelte sich um mehrere Tafeln exquisitester Schokolade, wie Gmür aus den übrig gebliebenen Stücken und den Teilen der Verpackung schließen konnte. Mehrere Tafeln Schoggi hatte sich Mephisto vollständig einverleibt, von manchen hatte er ein paar Reihen abgebissen. Anna Wegelin tätschelte den Bauch ihres Lieblings und meinte, man könne nun wieder hochgehen. Zum Schmutzli gewandt sagte sie:
»Geben Sie mir doch den Rest der Schokolade. Und gehen Sie ruhig hoch, ich bringe das hier rasch in Ordnung.«
Gmür nickte, reichte ihr die Schokoladenreste und verließ die Waschküche. Wegelin hatte derweil einen Kehrwischer und eine Schaufel gefunden und pützelte die Papierfetzen und Schoggistücke mit weit ausholenden Armbewegungen zusammen. Als sie mit Mephisto die Kellertreppe wieder hochgestiegen war, blieb sie etwas atemlos bei der Türe zum Wohnzimmer stehen. Nach einer Verschnaufpause griff sie zum Türknopf der Glasscheibe, die das Kaminfeuer abschirmte. Sie öffnete das Törchen und schüttete den Haufen an Papierschnipseln und Schokoladenbruch, den sie in der Kehrichtschaufel balancierte, mit einer kräftigen Vorhand-Bewegung in die Flammen. Das Feuer prasselte kurz auf, es gab ein Knistern, Funken stoben. Schmutzli Gmür, der wieder beim Chlaus stand, sah das Glimmen und wäre am liebsten für eine Zigarette nach draußen verschwunden. Stattdessen musste er die Schwiegermama dabei beobachten, wie sie das Kamintörchen wieder schloss, ihren Mephisto packte und erneut fest an die Brust drückte. Als sie zur wartenden Chlausgemeinschaft geschlendert kam, überschüttete sie ihren Mephisto mit Koseworten: »Du schlimmer, schlimmer Schlingel, du schlimmer!«
»Wir hatten jetzt eine unvorhergesehene kleine Bescherung für unseren Vierbeiner, für die wir uns entschuldigen. Nun sollen aber endlich die Kinder und die Erwachsenen drankommen.«
Ruedi Keller sprach ruhig und mit sonorer Stimme zum Conrad-Clan. Er hatte sich inzwischen mit den turbulenten Verhältnissen arrangiert, indem er begonnen hatte, das Ganze aus gesunder Distanz leicht von oben herab zu betrachten. Die Einlage der Wegelin mit ihrem Dackel hatte ihn an Szenen aus dem Buch Wir alle spielen Theater von Erving Goffman erinnert, das er als Jugendlicher verschlungen hatte. Darin beschreibt der amerikanische Soziologe die Conditio Humana als eine einzige Abfolge von Aufschneidertum, Flunkerei und Ranküne. Jeder Mensch sei stets und ständig darum bemüht, vor und hinter den Kulissen Eindruck zu schinden. Und lief hier nicht exakt ein solches pompöses Schauspiel ab? Eine Familie mit viel Geld aber wenig Empathie bemüht sich krampfhaft um einen heimeligen Chlausabend. In seiner Rolle als Chlaus sah sich Keller als Trigger und Projektionsfläche in einem. Er lieferte mit seinem Besuch ja überhaupt erst den Auslöser für all diese Begegnungen. Und zweitens würde er mit seiner Art, die von Mutter Winehouse verfassten Stichworte zu jedem Familienmitglied in die Runde zu tragen, maßgeblich die Stimmung prägen. »Der Sohn ein Bettnässer, der Partner ein Seitenspringer« – nein, dachte Keller, niemals würde er der Hausherrin den Gefallen tun, am Samichlaustag im Plenum genau das vorzubringen, worüber man sonst das ganze Jahr über lieber schwieg. Eine Jahresbilanz mit Generalabrechnung und Mandarinenduft – nein, das konnte es nicht sein. Dafür war er nicht zuständig, fand Keller; sollten sich die Conrads doch in eine Familientherapie begeben. Geld dafür wäre bestimmt vorhanden. Und an Themen fehlte es auch nicht, wie der Chlaus feststellen musste, als er seinen Blick wieder über die Sofadünen schweifen ließ. Jakob und Matteo waren erneut an den Handys. Auch Vater Casanova hielt seins einsatzbereit in den Händen, womöglich erwartete er ein Tinder-Date.
»Lieber Jakob, der Chlaus ist nicht auf Insta oder TikTok. Und er hat auch keine Serie auf Netflix oder Spotify, lieber Matteo. Er ist jetzt einfach da bei euch, und das solltet ihr genießen. Also legt doch das Handy weg, so wie es auch euer Papa macht.«
Das angesprochene männliche Conrad-Trio hob kurz die Köpfe, starrte zum Chlaus hinüber und legte dann mit nahezu synchronen Bewegungen die drei Smartphones aufs grüne Leder – gerade so, als würden die drei Musketiere von Alexandre Dumas nach einem beendeten Angriff ihre drei Schwerter wieder in die Gürtel stecken. Sie waren jetzt so wach und aufmerksam, wie es wohl maximal möglich war, dachte Keller. Auch Anna Wegelin und Mephisto machten einen präsenten Eindruck, wobei das Hundchen noch ein bisschen aufgeregt schien und etwas gar hastig schnaufte. Als er Richtung Kamin schielte, sah der Chlaus, dass auch Lady Winehouse im Empfangsmodus zu sein schien. Sie lehnte mit locker verschränkten Beinen an den Kaminsims, starrte etwas groggy ins Nichts und hatte ihre rechte Hand sanft um ihren Longdrink gelegt.
»Ich beginne mit den Kindern. Zuerst mit Jakob, dem Älteren.«
Keller schlug das goldene Buch auf und blätterte feierlich bis zu jener Stelle, an welcher er Mutter Conrads Spickzettel verstaut hatte.
»Der Samichlaus ist zufrieden mit dir. Du bist aufgeweckt und lebensfroh, das macht mir Freude.«
Mehr Positives über Jakob konnte Keller in den Aufzeichnungen von Mrs. Cocktail beim besten Willen nicht finden. Also würde er sich auf sein Improvisationstalent verlassen, das ihm in ähnlichen Momenten schon so oft von Nutzen gewesen war.
»Du bist aber jemand, der nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere. Du teilst vieles mit deinem Bruder und hast einen schönen Kontakt zu deinen Freunden und zu den Kollegen in der Schule.«
»Das ist überhaupt nicht wahr!«, krähte eine Stimme mitten in die Parade hinein. Sie kam vom Kamin her und gehörte zu Mama Winehouse-Kennedy, die sich mit geröteten Wangen und aufgerissenen Augen einen Schritt vom Feuer entfernt hatte. Nun stand sie leicht schwankend auf dem weißen Schaffellteppich vor dem Kamin und echauffierte sich sichtlich. Ihre Arme hatte sie grimmig vor sich verschränkt, die Hände waren zu Fäusten geballt.
»Was der Chlaus sagt, das stimmt hinten und vorne nicht. Jakob ist total unsozial, und Freunde hat er gar keine, nicht einmal Kollegen in der Klasse. Weil er sich für nichts anderes interessiert als für sein Scheißhandy mit den furchtbar stupiden Games. Mit seinem Bruder etwas teilen? Ha, höchstens eine Tracht Prügel. Aber was steht da denn sonst noch im Buch, Samichlaus?«
Keller hatte es die Sprache verschlagen. Er schluckte leer, senkte den Blick, blätterte theatralisch im Buch vor und zurück. Dann hob er die Augen und warf der Winehouse am Kamin einen bösen Blick zu, was diese in ihrem Furor nicht einmal bemerkte. Nach einer Weile hatte er sich wieder gefasst und versuchte einfach, die Einträge ab Blatt zu lesen, ohne sich Gedanken zum Inhalt zu machen.
»Unser Jakob ist jetzt in der sechsten Klasse. Im Frühling gehst du an die Gymiprüfung, was ja für dein Weiterkommen an der Schule und überhaupt für dein ganzes Leben ganz, ganz wichtig ist.«
Brüsk stoppte Keller seinen Versuch, ab Blatt zu lesen, wieder. Es folgte ein Passus, den er so niemals vorbringen konnte. Da stand doch schwarz auf weiß, Jakob habe den Ernst der Lage noch nicht erkannt, sei faul und lerne viel zu wenig. Er müsse sich nicht wundern, wenn er sein Leben verpfuschen würde, was er sich dann selbst zuzuschreiben habe und wofür seine Eltern nichts könnten. Keller atmete einmal tief ein und hörbar wieder aus.
»Jetzt geht unser Jakob in die sechste Klasse. Im Frühling hast du die Aufnahmeprüfung fürs Gymi. Da musst du sicher noch etwas fleißig sein, gell; aber der Chlaus wünscht dir viel Glück. Und kommt jetzt zum kleinen Bruder Matteo.«
Schon hatte die Winehouse am Kamin Luft geholt, um zu protestieren. Aber das ging nicht mehr, weil sie einsehen musste, dass es doch der Chlaus war, der hier das Protokoll vorgab. Außerdem war Schmutzli Gmür diskret Schritt für Schritt in ihre Nähe gerückt und stand jetzt direkt neben ihr, um sie im Falle weiterer Ausrutscher im Zaum zu halten. So machte es das Duo Keller-Gmür immer, wenn es bei schwieriger Kundschaft zu Besuch war.
»Matteo, du bist auch ein aufgewecktes, lebensfrohes Kind, das den Eltern viel Freude macht.«
Weil Schmutzli Gmür merkte, dass die Hausmutter Luft holte und etwas erwidern wollte, stupste er sie diskret, aber kräftig genug mit dem Ellbogen an. Zähneknirschend ergab sich Frau Conrad und spülte ihren Ärger mit einem Schluck vom Sims hinunter.
»Matteo ist in der Geigenstunde, wo er schöne Fortschritte macht. Wobei er schon noch etwas mehr üben könnte.«
Die Mutter hielt sich im Zaum, der Rest der Familie blieb ebenfalls ruhig. Einzig Hündchen Mephisto hatte beim Atmen noch einen Zacken zugelegt und hechelte jetzt mit der Zunge ein und aus, als wäre sie das Sekundenpendel einer Kuckucksuhr, der man aus Versehen zu leistungsstarke Batterien eingelegt hatte. Seine Augen waren weit aufgesperrt, sein Fell glänzte schweißnass.
»Jetzt ist unsere liebe Mama Mechthild an der Reihe.«
Kellers Versuch, das heikle Thema des Bettnässens zu ignorieren, scheiterte. Wie von der Tarantel gestochen schoss Lady Cocktail in die Höhe und brüllte den Nikolaus regelrecht an.
»Und dass wir fast jeden Morgen Berge an Bettwäsche zu waschen haben? Das sagt der liebe Nikolaus nicht, hä? Hat er das vielleicht vergessen, obschon es doch im Buch stehen muss!«
»Der Nikolaus hat nichts vergessen«, holte Keller zur Antwort aus. »Aber er sagt nur Sachen, die für uns alle wichtig sind. Die Bettwäsche gehört nicht dazu. Sie wird ja sicher nicht von der Mama Conrad von Hand gewaschen, oder? Es ist die Waschmaschine, die sie wäscht, nicht wahr? Und zwar durch das Dienstmädchen Magdalena, stimmt’s? Die Mama Conrad muss also überhaupt nicht selber Hand anlegen. Und hat dafür aber ganz viel Zeit, sich um ihren lieben Matteo zu kümmern, damit es diesem gut geht …«
Das hatte gesessen. Resigniert begab sich die Winehouse zurück an den Kaminsims, griff zum Longdrink, nahm einen großen Schluck und ließ das Glas mit Schwung wieder aufs Holzboard knallen. So als spielte sie in einem Westernfilm mit, in dem die Cowboys im Saloon ihre Whiskys ex kippen und die Gläser dann auf den Tresen schmettern.
»Dann komme ich jetzt zu Mama Conrad. Auch sie hat dem Chlaus viel Freude gemacht im letzten Jahr. Sie hat ihre Yogaausbildung abgeschlossen und ihr neues Schmuckatelier bezogen …«
»… das ich ihr für teures Geld gekauft und eingerichtet habe«, sagte Jo Conrad wie aus der Pistole geschossen.
»Ach ja, wie großzügig«, wieherte die Gemahlin. »Aber das hast du nur gemacht, weil ich dir auf die Schliche gekommen bin mit deinen Tinder-Flirts und du ein schlechtes Gewissen hattest.«
»Du bist mir nicht auf die Schliche gekommen, ich habe dir freiwillig davon erzählt. Und was kann ich dafür, wenn bei uns im Bett nichts mehr läuft, bloß weil du Menopause und ständig Migräne hast.«
Zwischen den Eheleuten entfachte sich ein wüster Disput. Dem Gatten wurde um die Ohren geschlagen, er zeige als Ü-Fünfziger eine so affige Männlichkeit, dass man glauben könne, er würde noch pubertieren. Er brauche junge Frauen, um sein Ego aufzublasen, das ansonsten etwa so klein sei wie sein bemitleidenswertes bestes Stück. Er bilde sich ein, mit seinem vielen Geld könne er es sich erlauben, die Gefühle seiner Nächsten einfach zu ignorieren. »Und du selbst hast überhaupt keine Gefühle«, schrie Mechthild Conrad und schmetterte ihrem Mann das leere Longdrinkglas vor die Füße. Johannes Conrad wich aus, es knallte und stob, die Glasscherben rieselten über die Fliesen wie draußen der Schnee auf die Thujahecke. »Du hast dafür überhaupt keinen Sinn für Geld«, begann Jo Casanova seine Verteidigung. Sie habe sich immer von ihm aushalten lassen, habe jede Kreditkarte schamlos überzogen und das Haushaltskonto geplündert wie Präsident Zuma die Staatskasse Südafrikas. Außerdem sei sie ja nur neidisch auf seinen gesunden Körper und seine gute sportliche Form, wogegen sie sich mit ihrem Alkohol völlig zugrunde richte. »Dass ich fremdgehe ist deine Schuld«, bellte Jo Conrad seiner Frau ins Gesicht. Diese setzte zur Retourkutsche an: »Und wessen Schuld bitte ist es, dass unsere zwei Buben einen Vater haben, der sich keinen Deut um sie kümmert? Weil er entweder in der Bank, am Joggen oder im Kraftraum ist? Oder weil er gerade ein Tinder-Date hat und irgendwo in einem schummrigen Hotel absteigt? Ist das vielleicht auch meine Schuld, hä; so wie …«
Weiter kam Mechthild Conrad nicht. Noch während des Streits mit ihrem Mann hatte Dackel Mephisto begonnen leise zu jaulen. Ihn hatten Zuckungen am ganzen Leib erfasst, wie Frauchen Wegelin bestürzt festgestellt hatte. Seine Lefzen hatten eine blaue Färbung angenommen, auch die Haut wirkte bläulich. Oma Wegelin hatte ihre Hand auf Mephistos Bauch gelegt und irritiert festgestellt, dass der Schweiß auf dessen Fell eiskalt war. Mitten im Wortgewitter der Eheleute hatte sich der Dackel losgerissen und lag nun wimmernd zu Füßen seines Frauchens. Gerade als Lady Winehouse einen weiteren Schrotschuss an Beschimpfungen in Richtung ihres Mannes abfeuern wollte, erbrach sich Mephisto mit einem japsenden Würgegeräusch.
In hohem Bogen ergoss sich ein grünbrauner Strahl mit Magenflüssigkeit auf die hellbeigen Fliesen. Augenblicklich roch es in der Sofalandschaft nach Galle und Vergorenem. Die Buben zogen reflexartig die Beine hoch, um ihre weißen Sneakers nicht zu bekleckern. Ihre streitenden Eltern wurden still und blickten auf das Häufchen Elend zu ihren Füßen, das einst ein stolzer Dackel gewesen war. Gelähmt wie die Gletschermumie Ötzi starrte Oma Wegelin auf ihren Liebling und stammelte Unverständliches vor sich hin. Jetzt schleifte der Hund mit seinen Krallen über den Keramikboden, was ein unangenehmes Geräusch erzeugte, fast wie wenn die Lehrerin ihren Kreidestift im falschen Winkel über die Wandtafel führt und dabei diesen grässlichen Kreischton erzeugt. Mephisto lag nun bäuchlings da, alle viere von sich gestreckt. Er schnappte nach Luft und wimmerte. Da ergoss sich ein zweiter, gleichfarbiger Strahl aus seinem Hinterteil auf die Keramikfliesen. Nun roch es nicht nur nach Galle, sondern auch nach Kot und Urin. Jakob und Matteo hopsten noch eine Stufe tiefer in die Polster, während sich Oma Wegelin keuchend aus dem Sessel hievte. Gerade wollte sie ihren Mephisto greifen und hochheben, da fing das Hündchen kläglich an, sich am Boden zu winden. Es rollte sich in den eigenen Exkrementen, paddelte mit den Beinen wie beim Schwimmen – und hatte damit seine letzte Wegstrecke hinter sich gebracht. Mephisto vollbrachte noch ein finales Zucken und Zappeln, dann war er augenscheinlich tot.
Betroffen schauten die Anwesenden zu Boden auf die leblose Kreatur. Oma Wegelin schluchzte und legte kurz ihre Hand auf den Hundekopf. Als sie merkte, dass er kalt und ohne Spannung war, schaute sie allen reihum in die Augen und nickte vielsagend. »Mein lieber Mephisto«, heulte sie, »mein lieber, lieber Mephisto.« Ihre Tochter kam zu ihr und reichte ihr mit einer aufmunternden Geste ein Taschentuch. Jakob hatte das Handy hervorgeholt und schoss Fotos vom toten Dackel. Matteo schaute grimmig zu Boden; so, wie jemand schaut, wenn die eigene Familie gegen den Willen des Betroffenen intime Details aus dessen Leben preisgegeben hat. Der Hausherr aber machte sich Sorgen um den schönen unversiegelten Keramikboden, weshalb er nach hinten ging, um Magdalena zu rufen.
Nun merkte Ruedi Keller, dass er das Steuer wieder an sich reißen musste.
»Stopp, Herr Conrad. Magdalena hat noch genug Zeit, sich um die Spuren des armen toten Hundes zu kümmern. Ich bin schon seit fast dreißig Jahren Chlaus, aber so etwas ist mir noch nie passiert, nicht annähernd. Wir lassen bei Mephisto alles so liegen, wie es ist; ich muss die Haftungsfrage abklären. Der Hund hat sich aus unserem Schmutzlisack etwas geschnappt, futtert das weg und stirbt dann – ja, wer trägt jetzt die Verantwortung dafür? Unsere Chlausgesellschaft hat für ihre Mitglieder eine Haftpflichtversicherung, aber ob die hier gilt? Solange wir das nicht wissen, müssen wir alles so belassen, wie es ist. Und den Vorfall wohl auch dokumentieren.«
Ruedi Keller beauftrage den Schmutzli, den Hund und den Ort des Unglücks ausgiebig zu fotografieren. Dann solle er die Hotline der Chlausgesellschaft kontaktieren. Sicher wüssten sie dort, was zu tun sei.
Die Conrads gehorchten. Die Erwachsenen setzten sich wieder in die Polster zu den zwei Buben, die erneut am Gamen waren. Hatten die Eheleute kurz zuvor noch einen orkanartigen Streit geführt, waren Jo und Mechthild jetzt niedergedrückt und still. Wieder einmal hatten sie sich gegenseitig bis aufs Fleisch verletzt, was ihnen auch in Anwesenheit anderer immer wieder passierte. Schwiegermutter Wegelin hatte ihre Stirn auf die Handflächen gestützt, war in sich gekehrt und schüttelte schluchzend den Kopf hin und her.
Weil er lieber ungestört telefonieren wollte, war Schmutzli Gmür in den Garten verschwunden. Dort holte er augenblicklich seine Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Seine Hand zitterte, als er das Feuerzeug zum Tabak führte und sich der Glimmstängel mit einem spröden Rascheln entfachte. Er nahm einen tiefen Zug, starrte in die dunkle Nacht. Am gegenüberliegenden Rand des Anwesens ragte Immergrün in den taubenblauen Himmel. Es war vom Gärtner in eckige und runde Formen gebracht worden, die Gmür an übergroßes Duplospielzeug erinnerten. Er blies den Rauch aus der Lunge, nahm sofort einen neuen Zug. Was sollte er bloß tun? Aus einem peinlichen Robin-Hood-Gefühl heraus hatte er heimlich eine der Schokoladentafeln, die Mephisto gepackt hatte, eingesteckt. Sie war noch völlig intakt gewesen, also hatte er sich gesagt, es wäre doch ein Jammer, die gute Schokolade einfach bei den stinkreichen Leuten zu lassen. Unsereins könnte sich so eine ja gar nicht leisten. Also hatte er sie in die Tasche seines Mantels gleiten lassen, wo er ihren Kartoneinband spürte. Was, wenn Frau Conrad, die wohl alle Geschenke organisiert hatte, irgendwie dahinterkam, dass eine Tafel fehlte? Oder wenn die Oma ihn dabei beobachtet hatte, wie er die Tafel hatte verschwinden lassen? Ein Schmutzli, der Geschenke klaute, konnte sich seine weitere Karriere abschminken wie der Chlaus seine roten Backen vor dem Garderobenspiegel am Feierabend.
Gmür rauchte zu Ende und verscheuchte diese Gedanken, indem er sein Handy hervorholte und die eingegangenen Meldungen auf WhatsApp überflog. Dann wählte er die Nummer der Nikolausgesellschaft, wo er eine vertraute Stimme hörte, kaum hatte es zweimal geklingelt.
»St. Nikolausgesellschaft Stadt Zürich, Mirella Brun, Sie wünschen?«
»Mirella, gut bist du dran. Hier ist der Livio, Gmür, grüß dich.«
»Grüß dich Livio. Wo brennt’s denn?«
»Ich bin mit dem Ruedi unterwegs, jetzt grad am Züriberg bei Familie Conrad, unser letzter Einsatz für heute. Solltest du in der Dispo sehen, gell. Jetzt ist uns etwas passiert, das könnten wir glatt für eine neue Werbung der Mobiliar-Versicherung einreichen. Die mit diesen lustigen Schadenskizzen, weißt du.«
»Ja, ich kenne diese Werbungen, klar. Also, erzähl!«
Gmür berichtete, was passiert war. Mirella hörte zu und schluckte ein paar Mal leer.
»Jetzt ist die Stimmung in der ganzen Villa natürlich total im Keller. Und ich und Ruedi müssen wissen, was wir tun sollen. Nicht, dass da noch ein blöder Versicherungsfall draus wird oder eine Klage kommt wegen Schadenersatz.«
Aufgeregt nestelte der Schmutzli eine nächste Zigarette aus der Packung. Ein kühler Luftzug strich über das Anwesen und brachte eine Plastikplane zum Rascheln, die eine üppige Gartenmöbellounge abdeckte. Mit der rechten Schulter drückte er das Telefon ans Ohr, damit er sein Feuerzeug halten und mit der anderen Hand einen Windfang formen konnte.
»Wow, mein lieber Livio, das ist ja echt eine Story. Ich denke, bis jetzt habt ihr alles richtig gemacht. Todesfall während eines Chlausbesuchs – das hatten wir glaub noch nie. Aber bei sonstigen Sachbeschädigungen oder Unfällen machen wir immer ein Protokoll und schicken nach Möglichkeit eine Fachperson vorbei. Das werden wir hier nicht anders handhaben. Ich kenne einen Tierarzt, der wohnt ganz in der Nähe der Conrads und ist bei uns Gönnermitglied. Er heißt Konrad Zbinden, ich rufe ihn an und bitte ihn, bei euch vorbeizuschauen, falls er das spontan kann.«
»Ja, das wär sehr gut, danke dir.«
»Wenn es klappt mit Zbinden, dann melde ich mich nicht mehr. Falls wir weitersuchen müssen, hörst du nochmals von mir.«
Als Mirella Brun aufgehängt hatte, wurde es plötzlich still um Schmutzli Gmür. Die Erlebnisse bei den Conrads hatten ihn doch etwas mitgenommen, merkte er jetzt. Durch die hohen Fenster konnte er von draußen mitverfolgen, was im Wohnzimmer vor sich ging. Das Kaminfeuer loderte immer noch, die Lampen verströmten Behaglichkeit, die Familie saß scheinbar harmonisch im Kreis; einzig der tote Dackel störte das Bild. Er verspürte Ekel gegenüber dieser stinkreichen Familie und dem ganzen egozentrischen Gehabe. Aber zugleich waren da auch Trauer und Mitleid angesichts der verpfuschten Existenzen, vor allem gegenüber den zwei Kindern. Gmür hatte selbst eine Tochter im Teenageralter und wusste, wie süchtig machend das Handy für Kinder und Jugendliche war. Umso wichtiger war es, Eltern zu haben, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen und Halt geben konnten. Hier wuchsen die Kinder zwar in einem goldenen Käfig auf und mussten materiell auf nichts verzichten: Aber der Preis dafür war hoch. Alles Emotionale und Zwischenmenschliche war regelrecht am Verkümmern. Und wie die Mutter vor der ganzen Runde betont hatte, Jakob sei asozial und habe überhaupt keine Freunde, tat ihm jetzt noch weh.
Eine WhatsApp-Nachricht holte ihn wieder aus seinen Grübeleien heraus. Auf dem Display seines Handys leuchtete grünlich eine Mitteilung von Mirella Brun auf. Veterinär Zbinden sei zu Hause und habe die Anfrage angenommen. Er treffe in wenigen Minuten vor Ort ein. Bitte alles so belassen, wie es sei.
Erleichtert schnaufte Schmutzli Gmür auf und ging wieder nach drinnen.
»Die Chlausgesellschaft meint, wir sollten vorsichtig sein. Sie schicken uns einen Tierarzt vorbei. Konrad Zbinden heißt er. Sollte in wenigen Minuten da sein.«
Was sein Schmutzli ihm mitzuteilen hatte, beruhigte Ruedi Keller. Auch ihm war es sehr unwohl, seitdem der Dackel verstorben war. Keinesfalls wollte er den Vorfall bagatellisieren und das Hündchen einfach so entsorgen. Und es brauchte jetzt eine Fachperson, um die richtigen Schritte vorzunehmen. »Sehr gut, Livio, vielen Dank«, sagte Keller zu seinem Schmutzli und lächelte aufmunternd.
Im Wohnzimmer der Conrads herrschte jetzt eine betretene Stille. Das Feuer war abgebrannt, niemand hatte je ein Stück Holz nachgelegt. Ob der Hausherr das sonst wohl selbst macht, überlegte Ruedi Keller; oder muss sich Magdalena darum kümmern? Außer dem Ticken der kostbaren Vitra-Wanduhr aus den sechziger Jahren, die über dem Kamin hing, und dem gelegentlichen Klirren der Eiswürfel in Madame Winehouses Glas, war es ruhig. Die Kinder waren am Handy, die Winehouse ebenfalls. Der Hausherr versuchte sich im Sofa zu entspannen. Er hängte tief nach hinten gebeugt in den Kissen, hatte die Hände hinter dem Nacken verschränkt und starrte an die Decke. Aus der Küche hörte man Besteck klirren; vermutlich würde Magdalena oder sonst wer einen Apéro vorbereiten. ›Apéro riche‹, dachte Ruedi Keller mit einem Anflug von Sarkasmus. Er war sich sicher, dass dieser Begriff genau für Anlässe dieser Art erfunden worden war.
Da schoss Mama Winehouse aus ihrem Sessel hoch und begann zu schreien: »Oh mein Gott, oh mein Gott!« Sie hatte sich in der Küche einen neuen Longdrink gemixt, den sie gut zur Hälfte bereits wieder weggekippt hatte. »Oh mein Gott, ich habe gegoogelt«, ereiferte sie sich und schwenkte ihr Handy hin und her. »Hunde können tatsächlich an Schokolade sterben. Es gibt da einen Stoff im Kakao, der heißt …« Sie stockte, hielt sich ihr Handy näher vor die Augen und entzifferte mühevoll den gesuchten Fachbegriff: »The-o-bro-min! – Kakao hat dieses Theo…dings drin, und das ist für Hunde absolut unverträglich. Je dunkler die Schokolade ist, desto mehr Kakao und Theo…dings enthält sie. Und das kann tatsächlich zum Tod führen.«
»Mein armer Mephisto ist an einer Überdosis Schokolade verendet«, mischte sich Oma Wegelin ein. Mit einem Ruck stand sie auf und verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör. »Jetzt, wo wir die Ursache kennen, können wir Mephisto endlich aus dieser unwürdigen Lage befreien. Ich kann es nicht mehr mitansehen, wie er hier in seinem Erbrochenen und in seiner eigenen Kacke liegt. Lieber nehme ich ihn jetzt an mich und bringe ihn zur Kadaverstelle.«
Schon wollte sich Anna Wegelin zum Hündchen hinunterbücken, da intervenierte der Samichlaus energisch:
»Auf keinen Fall, Frau Wegelin. Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, ob es wirklich die Schokolade gewesen ist, die Ihren Dackel über den Jordan geschickt hat. Ein Tierarzt ist unterwegs, er wird das mit Bestimmtheit rasch feststellen können. Er sollte jeden Moment da sein.«
Vergeblich bemühte sich Anna Wegelin noch einige Male, den Chlaus umzustimmen und ihren Hund sofort wegschaffen zu können. Auch das Argument, die Exkremente würden doch grausam stinken und obendrein den hellen Fliesenboden ruinieren, verfing nicht. Nicht einmal bei Johannes Conrad, dem es inzwischen auch nicht mehr ganz wohl war angesichts des toten Tieres. Hatte er bei Mephistos drolligem Sackspurt und Schokoladenraub noch Tränen gelacht, war er jetzt nachdenklich geworden. Sollte Mephisto nicht wegen der Schokolade verstorben sein, weshalb dann? Er hatte das Vieh nie gemocht und sich vehement zur Wehr gesetzt, als seine Frau ihm vor drei Jahren mitgeteilt hatte, ihre Mutter würde mitsamt Mephisto bei ihnen einziehen. Jo Conrad hatte weder die Oma noch den Dackel unter seinem Dach aufnehmen wollen, doch Widerstand war zwecklos gewesen. Seine Gattin hatte einfach das Killerargument eingebracht: »Bist du nicht willig, lasse ich deine Tinder-Geschichten auffliegen und reiche die Scheidung ein.« Seither hatte Jo Conrad seine Schwiegermutter und deren Hund schon oft zum Mond gewünscht. Aber jetzt, wo das Tier tot war, ergriff ihn doch so etwas wie Mitgefühl, was ihm sonst fremd war. Für seine Ehefrau aber hatte er, das merkte der Casanova gerade jetzt, als er sie vom Sofa aus beobachtete, wirklich keine Gefühle mehr übrig. Sie blieben verheiratet, um seinen guten Ruf als Privatbankier zu wahren. Eine Scheidung hätte sich über Jahre hingezogen und wäre auch für die Kinder zum Desaster geworden. Aber sobald Jakob und Matteo aus dem Gröbsten heraus wären, dachte Jo Conrad, würde er …
»Der arme, arme Mephisto ist verendet, nur weil ich Jo mit einem Pack Bitterschokolade eine Freude machen wollte.«
Mama Winehouse hatte weiter gegoogelt und sich im Schnelldurchlauf alles Mögliche über Schokoladenvergiftungen bei Hunden angeeignet.
»Dabei hat der Lump das gar nicht verdient; also nicht Mephisto, klar, sondern Jo, meine ich, die Schokolade hätte ich besser …«
In diesem Augenblick klingelte es an der Türe. Magdalena öffnete und führte den Veterinär Konrad Zbinden ins Wohnzimmer. Er trug einen silbergrauen Anzug, ein weißes Hemd mit einer weinroten Krawatte und geflochtene schwarze Lederschuhe. Sein lockiges Haar war ebenfalls silbergrau und stand ihm wirr vom Kopf ab, was ihn wie Albert Einstein aussehen ließ, bloß fehlte der Schnauzer. Er hatte eine Ledertasche dabei, die er neben Mephisto auf den Boden legte. Während er kurz angebunden die Familienmitglieder und Chlaus und Schmutzli begrüßte, stülpte er sich Gummihandschuhe über. Er befühlte den Bauch des Tieres, besah sich dessen Augen, hob eine Pfote an. Seine Arbeit vollzog er schweigend und bedächtig; niemand in der Runde wagte es, ihn zu unterbrechen und Fragen zu stellen. Er holte zwei leere Reagenzgläschen aus seiner Tasche, öffnete die Verschlüsse und spachtelte mit zwei Holzstäbchen je eine Probe der Kotze und der Kacke in die Gläschen. Bevor er die Behälter wieder schloss, roch er kurz an jeder Probe, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Nachdem er die Reagenzgläser wieder verstaut hatte, richtete er sich vor den Anwesenden auf und begann, die Handschuhe abzustreifen. Mit jedem Finger, den er von der Latexhülle befreite, richtete er seinen Blick abwechselnd auf den Chlaus, den Schmutzli, die Wegelin und die Conrads. Und er brauchte kaum mehr als zehn Worte, um nicht nur reihum den Latex von seinen Fingern zu zupfen, sondern auch seinen medizinischen Befund mitzuteilen:
»Der Hund ist an akuter Vergiftung verendet, vermutlich Arsen.«
In der Stube wurde es totenstill. Das Ticken der Designeruhr am Kamin schien sich zu synchronisieren mit dem Herzklopfen, das die Familienmitglieder bis zum Halse verspürten. Mephisto war vergiftet worden. Von wem? Das Gift musste jemand der Schokolade beigemischt haben, etwas anderes hatte das Hundchen in der fraglichen Zeit nicht gefressen. Das schön verschnürte Bündel mit Schokoladentafeln war ein Geschenk der Hausherrin an ihren Gatten gewesen. Also hatte Mechthild Conrad ihren Mann Johannes …
Alle im Raum dachten dasselbe und starrten wie auf Kommando Mama Winehouse an. Die Frau des Hauses spürte die vorwurfsvollen Blicke auf ihrem Körper wie die Nadelstiche, die sie jeweils mittwochs von ihrem Akupunkteur verpasst erhält. Noch schwerer wogen die unausgesprochenen Anschuldigungen, die in der Luft lagen und sich mit dem Odeur der Pfütze vermischten, in der Mephisto ruhte. In den Sofareihen wurde getuschelt. Die Buben legten ihre Handys weg, ohne dass es ein Erwachsener gefordert hätte. Jo Conrad aber war kreidebleich im Gesicht, schüttelte den Kopf, seufzte und biss sich auf die Lippen. Dann raffte sich Mechthild Conrad auf und versicherte unter Schluchzen:
»Ich habe nichts getan, sicher nicht. Niemals würde ich Jo vergiften, was fällt euch ein! Ich liebe ihn so sehr, liebe ihn viel zu fest, das ist ja mein Problem. Und jetzt brauche ich einen Drink …«
Sie stürmte heulend und mit klappernden Absätzen der Küche zu, von wo man bald die Kühlschranktüre aufgehen und die Eiswürfel aus der Formschale poltern hörte. Die Soda zischte, ein Korken ploppte, ein Löffel wurde gerührt. Dann war die Winehouse wieder da und hielt sich an einem neuen Longdrink fest, der noch longer war als die beiden vorherigen.
Zum Glück behielt Veterinär Zbinden einen kühlen Kopf. Als Mediziner analysierte er Vorfälle nach deren Logik und ließ Emotionen weitgehend beiseite. Nachdem Mechthild Conrad auf einem Einzelsessel Platz genommen hatte und alle gebannt lauschten, holte er zu einem Befund über die möglichen Ursachen von Mephistos Ableben aus.
»Liebe Frau Conrad, beruhigen Sie sich. Bevor wir nicht genauere Analysen gemacht haben, wissen wir den Grund für den Gifttod des Hundes nicht, können also nur spekulieren. Was aber sicher ist: Die Schokolade alleine hat den guten Kerl nicht umgebracht. Zwar hat er eine große Menge zu sich genommen, es waren ja mehrere Tafeln im Paket drin. Also hat er reichlich Theobromin gefuttert, das für ihn toxisch ist. Es ist ein Alkaloid aus der Gruppe der Methylxanthine und bekommt dem Tier gar nicht. Als Faustregel kann man sagen, dass ein Hund bei 40 Milligramm Milchschokolade pro Kilo Körpergewicht gefährdet ist, bei der dunklen Schoggi mit hohem Kakaoanteil sind es bloß 20 Milligramm. So viel hat Mephisto mit Sicherheit gefressen. Aber bis ein Hund im Schoggirausch tatsächlich Vergiftungssymptome zeigt, dauert es zwei bis vier Stunden. Und dass er daran stirbt, tritt in der Regel frühestens zwölf Stunden nach dem Verzehr ein. Somit waren bei Mephisto eindeutig auch andere Stoffe am Werk. Da tippe ich eben auf Arsen. Es ist ein Gift, das praktisch geruchlos ist und süßlich schmeckt, sodass man es unbemerkt in Schokolade mischen kann. Für die mögliche Täterschaft hat das Gift aber einen bedeutenden Nachteil: Es ist gut nachweisbar, auch in kleinen Mengen. Jede medizinische Laborantin und jeder Forensiker bei der Polizei kann den Stoff aus jedem noch so kleinen Beweisstück filtern.«
Als Veterinär Zbinden das Wort »Polizei« ausgesprochen hatte, war die Abendgesellschaft sichtlich zusammengezuckt. Jakob und Matteo hatten sich erwartungsfrohe Blicke zugeworfen. Endlich würde in ihrer Villa einmal richtig etwas los sein; gerade so, wie sie es von den vielen Serien her kannten, die sie bei Netflix ständig schauten. Polizei im Haus, das wäre auch ein schöner Post auf Insta und bei TikTok. Anders reagierten Mutter und Schwiegermutter. Auch sie hatten sich einander zugewandt und schauten sich an. Doch in ihren Augen schimmerten nur Angst und Panik. Jo Conrad lag apathisch auf dem Sofa und kaute offensichtlich noch immer an der Erkenntnis herum, dass seine Frau ihm vergiftete Schokolade in den Chlaussack gelegt hatte. Der Chlaus und der Schmutzli hielten sich abseits und versuchten, so unbeteiligt wie möglich dreinzuschauen.
»Ich bin überzeugt«, richtete Veterinär Zbinden wieder das Wort an die Runde, »es ist im Interesse von uns allen, wenn wir den Vorfall mit Mephisto gründlich abklären lassen. Von daher schlage ich vor, die Polizei zu rufen. Die Quartierwache ist gleich hier ums Eck, ich kenne deren Leiter, Wachtmeister Ackermann, persönlich. Ich werde ihn jetzt anrufen und bitten, sogleich herzukommen.«
Die Frauen protestierten. Mechthild Conrad wollte keine Polizei in ihrem Haus haben. Was würden die Nachbarn denken, wenn sie den Dienstwagen vor dem Gartentor und den Polizeibeamten auf dem Areal sehen würden? Anna Wegelin fand, man mache einen zu großen Wirbel um den Vorfall. Bestimmt habe sich ihr Hündchen mit der Schokolade überfressen und nichts weiter; man solle das arme Tier jetzt ruhen lassen. Womöglich käme man noch auf die Idee, Mephistos Bauch aufzuschlitzen, was sie aber vehement verweigern würde.
Die Männer sagten nichts. Jakob und Matteo hatten dem Tierarzt mit glänzenden Augen zugenickt, als er sich dafür ausgesprochen hatte, die Polizei zu holen. Weil Vater Jo diesen Vorschlag nicht abgelehnt hatte und auch Chlaus und Schmutzli ihre Zustimmung signalisiert hatten, wischte der Tierarzt die Bedenken der Mutter und der Schwiegermutter beiseite. Er zückte sein Handy, wählte eine Nummer und hatte bald schon seinen Kollegen Ackermann am Draht. Kurz und bündig schilderte Zbinden, was vorgefallen war. Dann beendete er das Gespräch mit den Worten: »Ja, sofort, das wäre prima, danke.«
»Der Wachtmeister ist verfügbar und sollte in wenigen Minuten bei uns eintreffen«, ließ er die Runde wissen.
Friedlich lag Mephisto auf dem Wohnzimmerboden in seinen eigenen Körpersäften, die langsam einzutrocknen begannen. Es sah aus, als hätte Pieter Bruegel der Ältere eine absurde Jagdszene in Öl festgehalten und beim grünlichbraunen Waldboden etwas zu dick aufgetragen. Oder als hätte ein exzentrischer Zürcher Szenekoch ein gewagtes Wildmenü aufgetischt und wäre noch kurz in die Küche geeilt, um ein Büschel Petersilie zu holen, das er dem Dackel in den Mund schieben wollte. Samichlaus Keller erinnerte sich plötzlich daran, dass es in Mexiko üblich war, Hühnchen mit Schokoladensauce anzurichten. Dieses Pollo con mole hatte er selbst gegessen, als er einmal längere Zeit durch Südamerika gereist war. Und damals war ihm auch ein Burger untergejubelt worden, der als Kaninchen angepriesen worden war, in Wahrheit aber aus Leguan bestanden hatte. Unwissend hatte er den ganzen Snack verspeist, genüsslich beobachtet von der Schar seiner Kollegen. Als er sich am Schluss zu den merkwürdigen Knöchlein und den zähen Hautfetzen äußerte, brachen seine Freunde in schallendes Gelächter aus, klärten ihn über den Leguan auf und ermunterten ihn, ein großes Glas Tequilla zu kippen. Er fand sich dann auf der Toilette wieder, spuckte seinen Mageninhalt unter Krämpfen in die Schüssel und kämpfte auch Tage später noch gegen Montezumas Rache – so nennen die Einheimischen den starken Durchfall, der die Touristen reihenweise befällt.
Die Glut im Kamin war vollständig erloschen, wie Keller feststellte. Auch die Stimmung im Kreise der Familie Conrad war in den Keller gesunken wie eine Münze, die ein Romreisender in den Trevi-Brunnen wirft und die schillernd und sich langsam drehend auf den schlammigen Grund fällt. Jakob und Matteo hatten angefangen, sich im Flüsterton darüber zu streiten, welche Kriminalserie auf Netflix die allerbeste sei. War es Breaking Bad, Stranger Things oder Narcos? Mama Winehouse schluchzte abwechslungsweise in ein Taschentuch und schlürfte von ihrer Spirituose. Ab und zu warf sie ihrem Jo einen verstohlenen Blick zu, was dieser nicht zu bemerken schien. Er saß in sich versunken auf dem Polster, hatte die Hände noch immer hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. Oma Wegelin lief unruhig auf und ab. Sie blickte kurz zu ihrem Mephisto nieder, dann ging sie ans Fenster, wo sie nach dem Wachtmeister Ausschau zu halten schien. Dann kam sie zurück zum Sessel und begann ihren Rundgang von Neuem. Samichlaus Keller und Schmutzli Gmür hielten sich abseits und waren froh, dass der Einsatz am Züriberg ihr letzter Auftritt dieses Tages war und sie hoffentlich bald Feierabend haben würden.
Dann klingelte es an der Türe.
Wachtmeister Emil Ackermann wartete nicht auf Magdalena oder sonst jemanden, sondern öffnete die Haustüre selbst. Wie ein Flaschengeist stand er plötzlich mitten im Wohnzimmer, in der rechten Hand trug er ein schwarzes Köfferchen. Er war ein kleines, drahtiges Männchen, trug einen braunen Anzug aus Samt, der fast Ton in Ton zum Dackelfell passte. Er hatte struppige, graue Haare, ein Ziegenbärtchen und hellwache Augen, die sofort die Situation vor Ort zu erfassen begannen. Seine Stirn legte sich in Falten, während er ein Mitglied der Familie nach dem andern inspizierte. Nur dem Veterinär Zbinden reichte er freundschaftlich die Hand, die beiden kannten sich ja. Sonst mochte er sich nicht mit Höflichkeiten aufhalten, sondern kam grad zur Sache.
»Guten Abend, meine Damen und Herrschaften. Ich bin Wachtmeister Emil Ackermann, Mitglied der Kriminalpolizei Zürich. Gerufen hat man mich, weil der Dackel Mephisto im Laufe des Chlausbesuchs eine Packung Schokolade entwendet und gefressen hat. Wenig später zeigte das Tier ungewöhnliche Exkretionen und ist gestorben. Veterinär Zbinden hat Ihnen ja schon mitgeteilt, dass es für Hunde in der Tat tödlich enden kann, wenn sie Schokolade fressen. Aber eine Vergiftung mit Kakao passiert bei Hunden niemals so rasch, es dauert einen halben Tag oder länger, bis ein Tier in Lebensgefahr schweben würde. Hier aber wirkte der toxische Stoff sofort, innert Minuten. Also waren in der Schokolade Fremdstoffe drin, die jemand absichtlich beigefügt hat.«
Der Wachtmeister machte eine Kunstpause wie ein Fallensteller, der in der Prärie Rebhühner fangen will und noch einmal in Ruhe nachprüft, ob alle Schlingen schön festgezurrt sind. Ja, das liebte er an seinem Beruf, dachte Ackermann in diesem Moment. Diese Gewissheit, dass jeder Übeltäter früher oder später überführt werden würde, weil man ihn in die Enge getrieben hatte und sein Kartenhaus mit einem Schlag jämmerlich in sich zusammengefallen war.
»Ich möchte jetzt gerne sehen, was vom Schokoladenpaket noch übrig geblieben ist.«
»Nichts ist übrig geblieben«, meldet sich Oma Wegelin barsch zu Wort. »Der Hund ist in die Waschküche gerannt und hat aus der Verpackung Konfetti gemacht. Von der Schokolade hat er das meiste aufgefressen. Ich habe die Krümel und die Papierfetzen zusammengewischt und dann mit der Kehrichtschaufel ins Feuer geworfen. Da ist jetzt alles verbrannt.«
Die Falten auf der Stirn von Wachtmeister Ackermann wurden tiefer. Skeptisch blickte er Anna Wegelin in die Augen wie ein Jogger, dem der Besitzer eines kläffenden Dobermanns weißmachen will, das Tierchen wolle bloß spielen.
»Von der Schokolade und der Verpackung ist nichts mehr da, stimmt das?«, fragte er in scharfem Ton. Jakob und Matteo rieben sich die Hände, langsam schien Spannung aufzukommen.
»Doch, es ist noch etwas da«, sagte Schmutzli Gmür unverhofft und trat auf den Wachtmeister zu. In der Rechten hielt er jene Tafel Schokolade, die er unversehrt neben Mephisto gefunden und für sich eingesteckt hatte. Die Lust, von dieser Schoggi zu essen, war ihm sowieso gründlich vergangen. Andererseits war es ihm etwas peinlich, sich jetzt als Naschdieb outen zu müssen. Er stammelte etwas von »zufällig« und »unversehrt« und »vorübergehend«, dann reichte er die Tafel sichtlich erleichtert dem Polizisten weiter.
Dieser fackelte nicht lange. Er öffnete sein Köfferchen, zupfte Gummihandschuhe heraus, zog sie über, öffnete die Kartonpackung und und die Alufolie vorsichtig mit einem Skalpell. Er gab ein paar Brocken Schokolade in ein Glasgefäß und ließ aus einer Plastikflasche Lösungsmittel darauf tropfen. Bald hielt er einen Kartonstreifen in die aufgeweichte Masse. Auf dem Streifen bildeten sich Farbverläufe, die der Polizist exakt unter die Lupe nahm, bevor er den Streifen Tierarzt Zbinden zeigte, der neben ihm stand. Nach einem kurzen Wortwechsel im Flüsterton und einem letzten Blick auf den Streifen nickten sich die beiden Männer zu. Ackermann trat wieder vor die Runde und räusperte sich.
»Die Schokolade ist mit Arsen versetzt. Der Schnelltest ergab ein eindeutiges Resultat. Es handelt sich nicht um elementares Arsen, sondern um die viel toxischere Variante Arsenik. In der Tafel, die unser Schmutzli sichergestellt hat, dürfte sich hochgerechnet etwa 30 Milligramm der Substanz befinden. Das reicht alleweil, um einen Hund in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Für einen erwachsenen Menschen bräuchte es aber noch etwas mehr. Wie viele Tafeln Schokolade waren im Paket? Wer hat das Paket gemacht?«
Die Conrads wirkten wie Kinder, die beim Bauern Kirschen verputzt hatten und alles abstritten, obschon ihre Münder weitherum sichtbar tiefrot verschmiert waren. Alle wussten, dass sich etwas Unsägliches zugetragen hatte, doch niemand hatte den Mut, etwas zur Aufklärung beizutragen. Weil man dann in Abgründe blicken würde. Weil man alte Wunden aufreißen könnte. Enttäuschte Hoffnungen endgültig begraben müsste. So war es der Kleinste, Matteo, der Auskunft gab und sich stolz dabei fühlte, einem echten Polizisten behilflich zu sein.
»Die Geschenke macht immer die Mama. Wir können aber sagen, was wir uns wünschen. Ich möchte dieses Jahr ein Skateboard und neue Sneakers. Jakob hat sich ein iPad und auch Sneakers gewünscht. Und für Papa hat sie dunkle Schokoladen gekauft, er mag die sehr. Auf dem Päckchen war ja auch sein Name drauf.«
Während Matteo sprach, bewegte sich Ackermanns Ziegenbärtchen hin und her wie ein Schneebesen in der Hand eines Konditors. Der Wachtmeister schien so intensiv zuzuhören, dass er jedes Wort aus dem Munde des Kindes zwischen die eigenen Zähne sog und dort gründlich wiederkäute.
»Frau Conrad, wir wissen jetzt also, dass Sie die Schokolade besorgt haben. Wie viele Tafeln waren es?«
»Fünf. Es waren fünf Tafeln«, sagte Mechthild Conrad leise. Sie schluchzte noch immer und zerknüllte mit der linken Hand ein Taschentuch, mit der rechten hielt sie sich am Longdrink fest. Wie sie leicht schräg auf der äußersten Kante des Sofas saß, sodass ihre langen Beine und ihr elegantes Kleid zur Geltung kamen, hatte sie sich wieder etwas vom Glanz der Jackie Kennedy zurückgeholt, den sie zu Beginn des Chlausbesuchs verströmt hatte.
»Fünf Tafeln«, wiederholte Polizist Ackermann. »Fünfmal 30 Milligramm pro Tafel geben 150 Milligramm. Das reicht, um einen erwachsenen Mann tödlich zu vergiften. Und es wäre wohl nicht sonderlich aufgefallen, weil Herr Conrad ja nicht alle Tafeln aufsmal zu sich genommen hätte, sondern verteilt auf Tage oder Wochen. Das funktioniert bei Arsen gut. Wir sprechen von chronischer Intoxikation, einer Vergiftung auf Raten. Hätte die Dosis nicht gereicht, hätte man ja einfach noch weitere Schokoladen nachschenken können. Solche Fälle gibt es oft, sie sind in der Kriminalistik bestens dokumentiert. Wie haben Sie sich dieses Wissen angeeignet und das Arsen beschafft, Frau Conrad?«
Mechthild Kennedy glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen.
»Ich soll das Gift besorgt haben, um meinen Jo umzubringen? Das ist ja ungeheuerlich! Nie im Leben würde ich das tun. Ich wünsche mir meinen Jo zurück, nur für mich, von ganzem Herzen. Das ist alles, was ich will, mein sehnlichster Wunsch. Niemals würde ich ihm ein Haar krümmen. Viel eher würde ich diese Tindertussis aus dem Weg schaffen, was ich ja auch schon versucht habe. Aber kaum habe ich mit viel Mühe eine davon weggeeckelt, taucht die nächste auf. Und die übernächste. Es hatte keinen Sinn, ich musste aufgeben. Seither versuche ich, mein Schicksal zu ertragen. Ich habe zwei Freunde gefunden, die mir dabei helfen. Sie heißen Mister Gin und Mrs. Tonic.«
Wachtmeister Ackermann hatte Mama Conrad während ihres Statements genau beobachtet. Die Frau war authentisch, befand der Polizist. Was sie sagte, kam ungefiltert von ihrem Herzen. Er fühlte Mitleid mit der attraktiven Mittvierzigerin, die im goldenen Käfig saß und sich offenbar damit arrangiert hatte, bis auf Weiteres keinen Ausweg aus ihrer Misere zu finden. Wie sie so dasaß, eine zierliche Person auf der Kante eines Mammutsofas, den Blick zu Boden gerichtet, die Hände mit einem Taschentuch und einem Glas beschäftigt, hätte sie eine Hauptfigur in einem Kaurismäki-Film abgeben können. Stattdessen spielte sie die Ehefrau eines untreuen Privatbankiers und die Mutter zweier ADHS-Kinder, die unter der Obhut der eigenen Mutter in einer Villa am Züriberg den ganz normalen Wahnsinn lebte.
Plötzlich hob Mechthild Conrad ihren Kopf und blickte Ackermann in die Augen. Dann sagte sie:
»Außerdem habe ich die Schokoladen nicht selbst eingekauft und verpackt. Den Einkauf hat Magdalena für mich erledigt. Und eingepackt hat die Tafeln meine Mutter, sie macht das so gern. Ich habe bloß Für Johannes auf das Namensschild geschrieben.«
Wie ein Wetterhahn auf der Kirchturmspitze, der augenblicklich die neue Windrichtung aufnimmt, drehte sich Polizist Ackermann Oma Wegelin zu. Sie wirkte etwas blass um die Wangen, der Tod ihres Dackels schien sie mitgenommen zu haben. Sie saß auf demselben Sessel, auf dem sie zuvor noch Mephisto in den Tod begleitet hatte. Ackermann begann sein Verhör so sanft wie möglich.
»Frau Wegelin, es ist gewiss nicht immer einfach, mit Tochter und Schwiegersohn unter einem Dach zu leben. Wie wir jetzt wissen, gab es große Spannungen zwischen den Eheleuten. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«
»Wie ich mich gefühlt habe? Wen interessiert das schon, wie ich mich fühle? Ich habe meiner Tochter seit Jahren gesagt, sie solle diesen Mann verlassen, er bringe ihr nur Unglück. Aber sie wollte nicht, sie ist völlig blind vor Liebe, ist ihm ganz verfallen. Und jetzt sehen wir ja, wohin das geführt hat. In den Alkoholismus. Und Depressionen hat sie auch, sie schluckt Tabletten von früh bis spät.«
»Was ich schlucke, geht niemanden etwas an«, sagte die Tochter halblaut und starrte in ihr Glas.
Dann berichtete Anna Wegelin, wie sich Mechthild und Johannes kennengelernt hatten, dass zu Beginn die Schmetterlinge getanzt hätten und der Himmel voller Geigen gehangen sei. Auch die zwei Buben seien Wunschkinder gewesen. Doch nach und nach, als Jo in der Bank Karriere gemacht habe, seien Probleme aufgetaucht. Er sei immer später nach Hause gekommen, die spärliche Freizeit habe er nicht der Familie geschenkt, sondern in den Sport investiert. Und dann sei es eben eskaliert, als Mechthild herausgefunden habe, dass er über Tinder laufend mit jungen Frauen angebandelt habe.
Jakob und Matteo hatten wieder ihre Handys in Betrieb genommen. So spannend war diese Befragung durch diesen komischen Polizisten auch wieder nicht. Es passierte ja keine Action wie bei den Serien auf Netflix. Und was hier über die Eltern berichtet wurde, wussten sie doch schon längst und fanden sie zum Gähnen. Jo Conrad aber schien allmählich wieder von den Scheintoten aufzuerstehen und verfolgte das Verhör. Ab und zu senkte er den Blick und stieß einen Seufzer aus.
Nach einer Weile hatte Wachtmeister Ackermann genug gehört und schritt zur Konfrontation:
»Frau Wegelin, Ihre Schilderungen nähren den Verdacht, dass Sie die Schokolade vergiftet haben, die als Geschenk für Ihren Schwiegersohn bestimmt gewesen war. Sie hegten starke Aversionen gegen ihn, machten ihn für das ganze Unglück Ihrer Tochter verantwortlich. Sie konnten es nicht länger ertragen, mitanzusehen, wie Ihre Tochter nichts gegen diese Misere unternahm. Sie wollte keine Trennung, keine Scheidung – alles, was sie wollte, war, bei ihrem Mann zu sein. Da haben Sie beschlossen, den Spieß umzudrehen: Würde Ihre Tochter nicht gehen, müsste halt der Schwiegersohn verschwinden, notfalls mit Gewalt. Sie dachten, Sie würden ihm das Leben schwermachen, als Sie vor drei Jahren hier eingezogen sind, obschon er dagegen gewesen war. Sie piesackten ihn, gingen ihm mit Ihrem Dackel auf die Nerven – aber Herr Conrad räumte das Feld nicht. Er war hart im Nehmen, außerdem selten zu Hause. Da bot sich der Chlausbesuch an, ihm ein besonderes Geschenk zu machen, nicht wahr? Fünf Tafeln seiner Lieblingsschokolade, angereichert mit Arsenik. Hätte er die Tafeln nach und nach über ein paar Tage oder Wochen hinweg gegessen, wäre er schleichend krank geworden und sein Tod hätte vielleicht wie ein Herzstillstand ausgesehen. Nun hat Ihnen aber Mephisto einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Bürschchen war neugierig, was im Sack steckte, und hat das einzig Essbare davon herausgeholt, die präparierte Schokolade. Für ihn war die Giftmenge so hoch, dass er sofort sterben musste. Und was haben Sie getan? Sofort alle Reste zusammengewischt und im Kamin verbrannt. Ist das nicht auffällig in einem Haus, in dem man sonst das Dienstmädchen nur schon ruft, um einen Lichtschalter zu drücken? Es spricht vieles gegen Sie, Frau Wegelin. Ich denke, Sie dürfen jetzt ein Geständnis ablegen.«
Anna Wegelin stöhnte und schnappte nach Luft. »Das ist ja ungeheuerlich, nichts davon ist wahr, Herr Kommissar. Es stimmt, ich mag Johannes nicht, und ich wünschte meiner Tochter einen besseren Mann. Aber dass ich mir deswegen die Finger schmutzig machen und einen Giftanschlag planen würde, das ist einfach nur lächerlich, ridicule. Dafür gibt es keinerlei Beweise.«
Als hätte er auf das Stichwort »Finger schmutzig machen« gewartet, trat Schmutzli Gmür zwei Schritte nach vorne und sagte:
»Die Tafel Schokolade, die ich gerettet habe, müssen wir einfach auf Fingerabdrücke untersuchen. Ich als Schmutzli trage nämlich immer Handschuhe, und ich habe sie heute Abend nicht ein einziges Mal abgelegt. Auch nicht im Keller, wo ich bei Mephisto die letzte Tafel Schokolade gefunden, aufgehoben und eingesteckt habe.«
Jetzt wusste Frau Wegelin nichts mehr zu sagen als ein leise gezischtes, langgezogenes »Mon Dieu«.
Nachdem Wachtmeister Ackermann Verstärkung aufgeboten hatte, wurde Schwiegermutter Wegelin auf den Posten geführt. Den leblosen Körper Mephistos packte Tierarzt Zbinden in einen Plastiksack. Er würde ihn in seiner Praxis im Kühler zwischenlagern und am nächsten Tag zur Kadaverstelle bringen. Im Wohnzimmer der Conrads hatten sich die Exkremente des Dackels mit ihren aggressiven Harnstoffen tatsächlich in die unlasierten hellen Fliesen eingefressen. So sehr Magdalena auch schrubbte, die Flecken gingen nicht mehr ganz weg. Sie würden die Familie künftig an diesen bemerkenswerten Chlausabend erinnern.
Mama Conrad hatte den Chlaus und den Schmutzli zur Türe begleitet. Sie entschuldigte sich für die Umtriebe und reichte den beiden je ein Couvert mit der Bitte, die Vorkommnisse von heute Abend unter allen Umständen für sich zu behalten. Keller und Gmür nickten und verabschiedeten sich. Als sie im Autos saßen und den Motor starteten, schauten sie in die Umschläge. Darin fanden sie je eine Tausendernote. »Schweigegeld«, sagte Ruedi Keller. »Schweigegeld«, wiederholte sein Schmutzli.
Noch bis spätnachts machte Magdalena das ganze Wohnzimmer sauber. Sie entsorgte auch die Asche im Kamin, die längst erkaltet war. Dann wurde es dunkel im Haus. Mechthild Winehouse-Kennedy schlief mit einer weichen Binde auf den Augen in ihrem üppigen Schlafzimmer mit dem begehbaren Kleiderschrank ihren Rausch aus. Flach ging ihr Atem, unruhig zuckte sie gelegentlich mit den Beinen und Armen. Jakob und Matteo waren auch längst auf ihren Zimmern und im Bett, schauten aber noch heimlich Serien auf Netflix. Zwar hatten sie ihre Handys brav um zehn Uhr an die Mutter abgegeben, wie sie es jeden Abend tun mussten. Doch hatten sich beide heimlich Tablets gekauft, mit denen sie nonstop im Netz surfen konnten.
Um Mitternacht trat Vater Jo aus der Türe, weil er kurz einmal ums Haus schlendern wollte. Dabei sah er in den beiden Kinderzimmern das grünliche Schimmern und wusste sofort Bescheid. Doch sagen würde er nichts, weshalb auch; er wollte die Buben lieber einfach machen lassen. Und sowieso wollte er in diesem Moment nur seine unbändige Freude darüber genießen, endlich die Schwiegermutter und deren Dackel losgeworden zu sein. »Das ist doch einfach nicht zu fassen«, sagte der Hausherr mit schelmischer Freude zu sich selbst.
Dann spürte er das Vibrationssignal seines Handys in der Gesäßtasche. Auf dem Display leuchtete eine neue WhatsApp-Meldung. Sie war von Jeannette, seiner neuesten Bekanntschaft. Sie wünschte sich, ihn morgen über Mittag im Hotel 25hours zu treffen. Er schmunzelte, freute sich und schickte ihr zum Einverständnis ein Emoji zurück. Es war ein Samichlaus mit Bart, stechenden Augen und rot-weißer Zipfelmütze.