Sunil Mann Vom Himmel hoch

Vom Himmel hoch, da komm ich her …« Hohl scheppert der Gesang des Kinderchors aus den Lautsprechern über dem Eingang des Spielzeugladens und hallt durch die verlassene Einkaufsstraße. Die bunten Lichter der Schaufenster spiegeln sich in den nass glänzenden Pflastersteinen, Engel und Nikoläuse starren ins Leere, Schnee aus gezupfter Watte und gigantische Geschenkpakete überall. Die beiden Christbäume brechen unter der Last des Weihnachtsschmucks beinahe zusammen, an der Grenze zur Hysterie blinken ihre elektrischen Kerzen um die Wette.

Rita zieht noch einmal an der Zigarette und schnippt sie achtlos auf den Gehsteig, kurbelt das Fenster hoch, eine bitterkalte Nacht. Ein Hüsteln entfährt ihr, als sie das Autoradio ausschaltet, eigentlich raucht sie gar nicht. Eigentlich ist sie auch nicht der Typ für verbrecherische Aktionen, doch die Umstände lassen ihr keine Wahl. Achtundzwanzig Jahre, kein einziger Tag krank, bereit, auch gratis Überstunden zu leisten – und dann war plötzlich von »Umstrukturierung« die Rede, der Chef kündigte Sparmaßnahmen an, die gesamte Belegschaft zitterte drei Woche lang. Am Ende wurden zwei Kollegen aus der Logistik frühpensioniert, gefeuert wurde nur sie. Die Geschäftsleitung bedankte sich für die jahrelange Mitarbeit, bedauerte das Ganze außerordentlich und wünschte ihr das Beste für die weitere berufliche Laufbahn. Ein Eintritt in den Europapark Rust als Abschiedsgeschenk, dazu ein Blumenstrauß aus dem Supermarkt, das Preisschild klebte noch an der Verpackungsfolie. Am letzten Arbeitstag schüttelte der Chef ihre Hand und hielt sie viel zu lange fest, während er ein betroffenes Gesicht aufsetzte. Als wäre er untröstlich, dass er sie entlassen hatte.

Lernten sie in diesen Managementkursen, hat Rita gedacht. Empathieübungen für Leute, die nicht einmal wissen, wie man dieses Wort buchstabiert.

»Welche Laufbahn?«, knurrt Rita beim Gedanken an diesen Tag und beobachtet ein älteres Paar, das Arm in Arm durch die Fußgängerpassage schlendert und hin und wieder vor einem Schaufenster stehen bleibt, um sich die Auslagen anzusehen. Sie hat in der Seitengasse neben dem Bankgebäude parkiert, quer gegenüber des Spielzeugladens.

Mit vierundfünfzig wirst du nicht gerade mit Jobangeboten überhäuft, das hat Rita auf die harte Tour gelernt.

Auf ihre Bewerbungen erhält sie stets dieselben Antworten. Überqualifiziert sei sie, was eine fadenscheinige Formulierung für ›zu alt‹ ist.

Natürlich steht jetzt an ihrer Stelle eine Jüngere im Laden. Zwei Wochen nach Ritas Abgang eingestellt, hat ihr eine Kollegin verraten. Hübscher. Billiger, in so mancher Hinsicht. Ritas spürt die Wut hochwallen, ihre Finger krallen sich um das Lenkrad. Sie würde sich holen, was ihr zusteht. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ihr aufgegangen ist, dass sich Ehrlichkeit und Diensteifer nicht in jedem Fall auszahlen. Die Guten gewinnen nur in Filmen.

»Ach, Sie arbeiten gar nicht mehr da?«, hat eine Stammkundin erstaunt gefragt, als Rita sie kürzlich in einem Café angetroffen hat. »Wie lange denn schon?«

Ja, sie ist unscheinbar, man übersieht sie gern, das ist ihr bewusst. Doch das spielte heute keine Rolle. Der letzte Verkaufstag vor Weihnachten ist derjenige mit den rekordverdächtigen Einnahmen – der Spielzeugladen wird traditionellerweise von gehetzten Eltern, Patenonkeln und Omas förmlich leer geräumt. Rita weiß, wo sich der Tresor befindet, kennt die Kombination, besitzt immer noch die Schlüssel zum Laden und zum Chefbüro, die sie sich einst hat nachmachen lassen. Für Notfälle. Sie ist zur Einsicht gelangt, dass dies einer ist.

Rita öffnet die Wagentür, als ihr eine etwas korpulente Gestalt auffällt. Weite Trainingsjacke, die Kapuze hochgeschlagen, ausgeleierte graue Jogginghose. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Eine Frau vermutlich. Sie überquert die Einkaufsstraße und verschwindet dann auf der anderen Seite des Bankgebäudes. Rita holt tief Luft und steigt aus. Der Gesang des Kinderchors schlägt ihr entgegen, ansonsten kommt es ihr vor, als stehe die Stadt still. Heiligabend. Es wird keine Zeugen geben.

 

Nie ist es hier so ruhig wie an diesem Abend. In einiger Entfernung hört Susanne die Straßenbahn mit einem hellen Klingeln vorbeifahren, danach herrscht wieder Stille. Beinahe. Ein Kinderchor ist zu vernehmen, mehr ein Echo, das durch die Straßenschluchten weht. Vom Fußmarsch hierher und, mehr noch, vom Aufstieg über die Feuertreppe zum Dach – sie hat den Hintereingang der Bank benutzt – ist sie außer Atem. Sie stützt sich am Geländer ab, schnappt nach Luft und blickt über die Stadt. Seltsam, denkt sie, dass an Weihnachten alles so friedlich wirkt, während in den Tagen zuvor pure Hektik und Chaos herrscht. Als hätte man der Welt für einen kurzen Moment den Stecker gezogen.

Susanne kramt in ihrer Handtasche. Ein letzter Schokoriegel. Der Himmel ist klar bis auf ein paar Wolken im Westen, die im Lichterschein der Stadt sanft schimmern; vereinzelt tanzen Schneeflocken durch die Luft. Susanne beobachtet ein Flugzeug, das hoch über sie hinwegfliegt. Ihr Entschluss steht fest.

 

Rita schließt die Tür des Personaleingangs auf, schlüpft hinein und durchquert den Laden im Dunkeln. Es kommt ihr vor, als verfolgten sie die Puppen mit ihren unheilvoll glänzenden Augen. Die Teddybären wirken mit einem Mal bedrohlich. Sie eilt durch das Treppenhaus hoch, den Aufzug traut sie sich nicht zu nehmen. Sie will sich lieber nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er ausgerechnet heute steckenbliebe. Erst als sie den dritten Stock erreicht hat, knipst sie die mitgebrachte Taschenlampe an. Das Büro liegt am Ende des Ganges, rechts der Mitarbeiterraum und das Sekretariat, links die Toiletten. Der Getränkeautomat mit dem wohl wässrigsten Kaffee seit Menschengedenken steht matt leuchtend im Flur und summt leise. Ansonsten herrscht Totenstille. Sie holt den Schlüsselbund erneut aus der Handtasche und schließt das Chefbüro auf. Schaler Zigarrengeruch empfängt sie, vermischt mit einem Hauch des Parfüms, das der Chef benutzt. Old Spice oder so, irgendetwas, das seine Männlichkeit betont. Das ist ihm wichtig. Rita lässt den Kegel der Taschenlampe über die Einrichtung wandern. Schwere Möbel aus dunklem Holz, schwarze Lederbezüge auf den Stühlen, ein Chesterfieldsofa vor einem Rauchglastisch, tannengrüner Teppichboden. Auf dem Schreibtisch teure Kugelschreiber in mondän aussehenden Etuis, obschon er nur auf dem Laptop schreibt, im Regal dahinter wuchtige Bildbände und goldene Trophäen, vermutlich bei Golfturnieren gewonnen, vielleicht aber auch online bestellt.

Wie aus einem Einrichtungsmagazin für Männer in der Midlife-Crisis, denkt Rita.

Entschlossen durchquert sie das Büro. Der Tresor befindet sich in der Wand, versteckt hinter der lausigen Reproduktion eines Monet-Gemäldes. San Giorgio Maggiore in der Dämmerung. Sie ist überzeugt, dass der Chef das nicht einmal weiß. Aber ein protziger Goldrahmen, der dem Werk nicht gerecht wird, das schon, klar.

Behutsam hängt sie das Bild ab.

Der Ort, wo jeder Einbrecher als Erstes nachgucken würde, denkt Rita kopfschüttelnd. Doch der Chef wollte nicht auf sie hören. Das hat er nun davon.

Dumpf ist von der Straße her Gelächter zu hören. Rita zuckt zusammen, knipst die Taschenlampe aus und hastet zum Fenster. Versteckt hinter dem Vorhang späht sie hinaus. Eine Gruppe Jugendlicher läuft durch die leere Einkaufsstraße; sie rempeln sich gegenseitig an, grölen, rufen sich Neckereien zu. Wie tapsige Welpen kommen sie ihr vor. Rita entspannt sich.

Eine Woche vor ihrem letzten Arbeitstag kam es zu diesem Zwischenfall, ein Tag voller Wut und Enttäuschung, da wusste sie längst von ihrer Entlassung. Vielleicht hätte sie die Kleinen nicht ausschimpfen sollen, sie benahmen sich ja bloß, wie sich Kinder im Spielzeugladen nun mal verhalten: aufgeregt, laut, begeistert. Doch Rita ertrug das Geschrei an jenem Morgen nicht. Es gab diese Tage, an denen sich die gesamte Kundschaft entschlossen zu haben schien, sich kompliziert zu verhalten. Anstatt zu Hause zu bleiben und bei einem warmen Tee abzuwarten, bis sich ihre Gemütsverfassung normalisiert hatte, brachen sie allesamt auf, um Rita einen Besuch abzustatten. So kam es ihr zumindest vor. Sie waren ungeduldig und harsch, schimpften schon, ehe Rita sie überhaupt begrüßen konnte, ließen sich ewig lange beraten, um sich dann doch nicht entscheiden zu können. Verlangten nach Produkten, die weder im Sortiment zu finden waren, noch bestellt werden konnten. Ritas Nerven lagen schon vor der Mittagspause blank.

»Haben Sie Ihre Blagen eigentlich überhaupt nicht im Griff?«, fuhr sie die untersetzte Frau an, nachdem sie deren Kinder mehrmals vergebens zurechtgewiesen hatte. Eine treue Kundin, manchmal begleitete sie ihr Mann – ein linkischer, öder Typ, bei dessen Anblick Rita jeweils eine unsägliche Müdigkeit erfasste.

Wenig überraschend ließ sich die Kundin Ritas Beleidigung nicht gefallen, es kam zu einer gehässigen Keiferei, in deren Verlauf Rita der Frau vorwarf, eine lausige Mutter zu sein, worauf diese wiederum erbost schrie, ob sie, Rita, denn überhaupt Kinder habe und wisse, wovon sie spreche. Was das bedeute, Tag für Tag systematisch und auf hinterhältigste Art terrorisiert zu werden. Ein wunder Punkt, Rita sah rot und verlor für einen kurzen Moment die Beherrschung. Dabei rutschte ihr etwas raus, das sie eigentlich für sich hatte behalten wollen. Sie bereute ihre Aussage auf der Stelle und hätte sie zurückgenommen, wenn sie gekonnt hätte, doch da war es bereits zu spät. Wie erstarrt glotzte die Frau sie an und gab einen erstickten Laut von sich. Ihre Augen quollen hervor und sie wurde leichenblass, dabei schluckte sie immer wieder, als steckte ein trockenes Stück Toastbrot in ihrem Hals. Ruckartig drehte sie sich dann um und stürmte samt ihren Kindern aus dem Geschäft.

 

Seit einigen Minuten wandert das Licht einer Taschenlampe durch den dritten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes. Susanne kneift die Augen zusammen, doch sie kann die Person nicht erkennen. Ein Einbrecher womöglich? Ist ihr egal. Sie hat gerade ganz andere Probleme. Was gibt es in einem Spielzeuggeschäft schon zu holen? Ein Spidermankostüm? Abfällig stößt sie die Luft aus. Unten auf der Straße lärmen Jugendliche.

Susanne hat nichts geahnt, nicht das Geringste vermutet, sie hat ihm blind vertraut. Bis es ihr diese dämliche alte Kuh von einer Spielzeugverkäuferin während eines lächerlichen Streits in aller Deutlichkeit entgegengeschrien hat. Heute Abend hat Anton die Kinder mitgenommen, damit sie seine Freundin kennenlernen. Sechzehn Jahre jünger ist sie, blondes Haar, straffer Busen, knackiger Po, die Lippen sind vermutlich nicht ganz echt, aber welcher Mann hält sich schon gern mit Details auf? Dass die Neue aussieht wie ein permanent enttäuschter Karpfen, erkennt wohl nur Susanne.

Sie schluckt. Abgestreift wie ein vergammelnder Gartenhandschuh, so kommt sie sich vor. Anton hat es ihr mit einer Lässigkeit mitgeteilt, die sie sprachlos gemacht hat, und es hat eine Weile gedauert, bis sie das Ausmaß zur Gänze begriffen hat. Er hat sie zurückgelassen, verlassen für immer. Ausgerechnet an Weihnachten hat er die Kinder mitnehmen müssen. Als gäbe es sonst keine passenden Abende, um ihnen die Karpfenfrau vorzustellen. Wahrscheinlich freuen sie sich jetzt gerade gemeinsam über das ungeborene Geschwisterchen, die Kerzen flackern am Baum, Geschenke darunter, Weihnachtslieder werden gesungen. Womöglich hat sie sogar Fischstäbchen gebraten, die die Kleinen so gern mögen, und serviert Vanilleeis mit heißen Beeren zum Nachtisch. Susanne wehrt sich nicht gegen die Tränen.

Sie haben zusammen im Spielzeugladen Babysachen gekauft, ganz unverhohlen, sie und er, und geküsst haben sie sich, schamlos und in aller Öffentlichkeit. Diese garstige alte Verkäuferin hat ihr die Details lautstark um die Ohren gehauen.

Der Wind, der an ihren Haaren zerrt, ist eiskalt. Fröstelnd schlägt Susanne den Kragen ihres Mantels hoch und schiebt sich das letzte Stück des Schokoriegels in den Mund. Die Verpackung lässt sie einfach fallen. Sie sieht ihr zu, wie sie silberglänzend in die Tiefe schwebt, mit abgehackten Bewegungen um sich selber wirbelt, bis sie sanft auf den Pflastersteinen der Einkaufsstraße landet. Einer der Jugendlichen wird auf den Aluminiumfetzen aufmerksam, bleibt stehen, betrachtet ihn und hebt unerwartet den Kopf.

 

Sorgfältig hängt Rita das Bild zurück an seinen Platz. Die Handtasche ist bis obenhin vollgestopft mit Banknoten. Glücklicherweise bezahlt die ältere Kundschaft meist mit Bargeld, die Ausbeute ist entsprechend hoch. Hastig verlässt sie den Raum, sie muss achtgeben, damit die Scheine nicht aus der Tasche herausflattern. Mit der einen Hand drückt sie behelfsmäßig deren Öffnung zu, mit der anderen schaltet sie die Stablampe aus, dann eilt sie die nur vom Notlicht erhellte Treppe hinunter.

Als sie durch das Ladenlokal dem Eingang zustrebt, hört sie die Sirene. Ruckartig bleibt sie stehen und lauscht mit angehaltenem Atem. Das Geräusch nähert sich eindeutig und zwar mit rasender Geschwindigkeit. Sekunden später fährt der erste Polizeiwagen vor, mit quietschenden Reifen bremst er direkt vor dem Spielzeugladen ab, ein zweiter schlittert ein kurzes Stück über die nassen Pflastersteine und stellt sich quer zu ihm.

Wie zur Salzsäule erstarrt, bleibt Rita an Ort und Stelle stehen. Ihr Fluchtweg ist blockiert, sie sitzt in der Falle. Erst nach ein paar Herzschlägen, die sich in ihrer Brust anfühlen wie Donnerschläge, beginnt ihr Gehirn wieder zu arbeiten. Hat sie jemand beobachtet? Hat sie womöglich einen Alarm ausgelöst? Bemerkt hat sie nichts, es ist auch kein schriller Warnton zu hören, aber sie hat von diesen Systemen gehört, die direkt die Polizei alarmieren. Hat der Chef womöglich eine solche Anlage installieren lassen? Ohne die Belegschaft zu informieren?

Draußen ist eine weitere Sirene zu hören, ein roter Feuerwehrwagen hält vor dem Gebäude. Männer in rotgelber Einsatzbekleidung springen aus dem Wagen, die Polizeibeamten rollen gelbe Absperrbänder aus und bellen dazu kurze Befehle in ihre Funkgeräte, einer telefoniert.

Wozu die Feuerwehr?, wundert sich Rita.

Beinahe gleichzeitig kristallisiert sich ein Plan aus dem Gedankengewirr in ihrem Kopf, und sie setzt sich unverzüglich in Bewegung. Sie versteckt die Handtasche mit dem Geld unter einem Plüschelefanten, nimmt einen Teddybären in die Hand und legt eine Banknote auf den Tresen. Zugegeben, etwas gar fadenscheinig, aber auf die Schnelle fällt ihr nichts Besseres ein. Ein Geschenk in letzter Minute, sie hätte keine andere Möglichkeit gesehen. Das würde sie gleich der Polizei mitteilen.

Ritas Puls rast, während sie mitten im Laden steht, den Teddybären wie ein Schutzschild an die Brust gepresst und das geschäftige Treiben auf der Straße verfolgt. Gleich werden sie das Gebäude stürmen, denkt sie.

Wie werden ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen über sie lachen. Und erst der Chef! Aus der Traum vom Urlaub am Strand, von der neuen Küchenmaschine und diesem gewagten Kleid aus der Boutique weiter vorn.

Die Beamten formieren sich nun, die Feuerwehrmänner tragen etwas aus dem Fahrzeug, das sich beim Entfalten als Sprungtuch entpuppt.

Rita blinzelt. Das Adrenalin, das durch ihre Adern rauscht, blockiert jede neue Information, deswegen dauert es einen Moment, bis sie begreift, dass die Polizisten sich gar nicht für sie interessieren. Vielmehr konzentrieren sich ihre Tätigkeiten auf die Bank gegenüber, dem höchsten Gebäude der ganzen Stadt, immer wieder schauen sie die Fassade hoch.

Wie in Zeitlupe bewegt sich Rita auf die Ecke mit den Plüschtieren zu. Stellt den Teddy an seinen Platz zurück, langt danach unter den Plüschelefanten und zieht ihre Tasche hervor. Im Vorbeigehen schnappt sie sich die Banknote vom Tresen und hält auf den Personalausgang zu. Nur nichts anmerken lassen, sagt sie sich immer wieder, nur nichts anmerken lassen. Schon hat sie eine weitere Ausrede bereit, eine vergessene Brille im Sekretariat, doch als sie ins Freie tritt, haben sich bereits die ersten Gaffer versammelt und legen ihre Köpfe in den Nacken, Handys vor dem Gesicht. Sie fragt sich, wo die Leute plötzlich herkommen, sie scheinen aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Aber gut für sie. Keiner bemerkt, wie Rita aus dem Seiteneingang tritt und gemessenen Schrittes auf ihren Wagen zusteuert, der in der Seitengasse neben der Bank steht.

 

Blaulicht flackert über die Fassade des Spielzeugladens, spiegelt sich in den Schaufenstern, taucht die Zuschauer unten auf der Straße in seinen kalten Schein. Die in den Nacken gelegten Köpfe sehen von hier oben lächerlich klein aus, die beiden Beamtinnen versuchen mit allen Kräften, die stetig vorwärtsrückende Menge hinter die Absperrung zurückzudrängen.

Mit sechsundvierzig doch noch Youtube-Star, denkt Susanne und ein spöttisches Lachen entfährt ihr, das allerdings auf halbem Weg in ein Schluchzen umschlägt.

Nicht hier, entscheidet sich Susanne, nicht direkt in die Menge. Rasch tritt sie einen Schritt zurück, was unten von einem vielstimmigen Chor enttäuscht kommentiert wird. Sie eilt zur Querseite des Gebäudes. Nicht mehr nachdenken, ermahnt sie sich und klettert auf die Brüstung.

Ein tiefer Atemzug, ein Stoßgebet, wozu, weiß sie selbst nicht. Dann lässt sie sich fallen.

 

Die CD läuft in Endlosschlaufe, der Kinderchor singt erneut »Vom Himmel hoch, da komm ich her …«

Rita geht mit gesenktem Kopf auf ihren Wagen zu und dreht sich erst um, als sie die Menge hinter sich gelassen hat. Sie blicken immer noch nach oben, jetzt allerdings zu einem seitlich gelegenen Punkt. Direkt über ihr. Jemand schreit auf, und als Rita den Kopf hochreißt, erkennt sie gerade noch den dunklen Schatten, der in rasendem Tempo auf sie zustürzt.