Liebes Tagebuch!
Vielleicht wird Weihnachten dieses Jahr nun doch nicht so ätzend wie befürchtet. Papa hat Besuch mitgebracht: Carola heißt sie und ist die Tochter eines Studienfreundes. Zufällig hat er sie in der Innenstadt gesehen, wo sie an einer Straßenecke ihren Auftritt hatte. Trotz der Schminke und allem hat er sie sofort wiedererkannt. Carola macht Straßentheater, kannst du dir das vorstellen? Sie war schon überall in Europa und sogar in Kalifornien, aber so ein verschlossenes Publikum wie hier hat sie noch nie erlebt. Na ja, es ist halt eine kleine Stadt. Liebes Tagebuch, wenn ich erwachsen bin, mache ich auch Straßentheater.
Mama hat wie blöd herumgeschrien, wegen des Essens und dass nicht genug für alle da sei und wo solle Carola schlafen und wir seien auf Gäste gar nicht eingerichtet und blablabla. Manchmal ist sie wirklich unglaublich bieder. Schlimmer als alle Mütter, die ich kenne. Papa ist eigentlich ganz in Ordnung, obwohl er Lehrer ist. Man würde es nicht für möglich halten. Eigentlich wollte er Schauspieler werden, glaube ich, jedenfalls war er beim Studententheater, und es gibt ein paar wirklich wilde Fotos von ihm. Er hat heute noch Kontakt zur Theaterszene und bringt immer wieder mal irgendwelche Künstler mit nach Hause. Die sitzen dann da und trinken bis morgens um zwei und reden, und wir dürfen aufbleiben, mein Bruder und ich, damit wir auch was davon profitieren. So lernen wir an einem Abend mehr als in einem halben Jahr in der Schule, sagt Papa, und wenn ein Lehrer so etwas sagt, dann muss es ja stimmen.
Abends.
Liebes Tagebuch.
Ich hasse meine Mutter, ich hasse sie, hasse sie! Immer muss sie alles verderben. Hat sie sich doch glatt geweigert, das Abendessen zu kochen, nur weil Carola noch ein paar Kollegen vom Straßentheater mitgebracht hat. Sie sei doch kein Gasthaus, hat sie geschrien, und sie habe nicht eingekauft, und überhaupt. Dann ist sie nach oben gegangen und hat die Türe zugeknallt. Aber Carola ist ganz toll. Sie hat sich einfach kurz hingestellt und ein Chili in die Pfanne gehauen, dazu hat sie ganz laut Sound laufen lassen, und im Handumdrehen war das Essen für acht Personen fertig. Und das ganz ohne Stress und Gehetze und blöde Sprüche. Papa und ich haben ihr geholfen. Es hat sogar Spaß gemacht. Papa hat ein Glas Wein getrunken und ist in der ganzen Küche herumgehüpft. Mama hat sich unterdessen in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie habe wieder ihre Migräne, hat sie gesagt. Sebi war bei ihr. Typisch. Dass er auch immer zu ihr halten muss! Er hat noch eigenhändig die Musik leiser gedreht, damit Mama schlafen kann. Manchmal frage ich mich wirklich, wie ich zu so einem Bruder komme. Lieber Gott, bitte mach, dass ich nie so werde wie meine Mutter. Lass mich lieber ein bisschen so werden wie Carola, wenn ich groß bin. Bitte.
Carola ist sooooooo tolllllll! Liebes Tagebuch, du machst dir überhaupt keine Vorstellung. Sie ist zwar schon achtundzwanzig, sieht aber noch total gut aus. Sie ist klein, zierlich und dunkelhaarig, also genau das Gegenteil von mir, ich bin leider eher groß, üppig und blond, was ich von meiner Mutter geerbt habe. Carola trägt nur Schwarz, so hautenge Sachen aus Stretch, in denen sie Akrobatik üben kann. Natürlich kann sie sich das auch leisten. Vielleicht sollte ich versuchen, weniger zu essen.
Manchmal denke ich, wenn Mama nicht gewesen wäre, hätte aus Papa etwas werden können. Die Ehe hat ihn kaputt gemacht, das ganze Drum und Dran und die Kinder natürlich, mein Bruder und ich. Es blieb ihm doch gar nichts anderes übrig, als seine Träume zu begraben und eine sichere Stelle anzunehmen. Einer muss ja das ganze Geld heranschaffen.
Andererseits, die Mutter von Franziska zum Beispiel, und ich kenne noch andere, die schlagen sich auch allein durch. Ich meine, die sind geschieden und arbeiten, und das geht auch irgendwie, und die Mutter von Franziska hat sogar einen Freund. Wenn sie ihn wirklich geliebt hätte, Mama, meine ich, dann hätte sie sich scheiden lassen und ihm die Freiheit zurückgegeben. Finde ich wenigstens. Ich meine, ich kann ja nichts dafür, dass ich auf der Welt bin. Ich kann ja nicht gut von ihr verlangen, dass sie mich abtreibt, das geht nun mal nicht im Nachhinein.