Liebes Tagebuch.
Die Snowboard-Ausrüstung habe ich nicht bekommen. Macht aber nichts. Ich glaube, ich gebe den Sport auf. Ich will sowieso lieber Schauspielerin werden. Von meinem Bruder habe ich eine CD bekommen (Guns N’ Roses), von Papa vier Bücher, von Mama einen Wintermantel und von Oma und Opa die üblichen Gutscheine. Das beste Geschenk war von Carola: Sie hat mir ein Plakat geschenkt von ihrem ersten Programm, selbst gemalt. Ein winzigkleiner schwarzer Clown, der auf einem Regenbogen balanciert, das ist natürlich Carola. Das Plakat ist an den Rändern eingerissen und ein bisschen schmutzig, und in den Ecken sieht man hundert winzige Löcher von Reißnägeln. Das Plakat war schon überall, in ganz Südfrankreich, Italien, Spanien und Portugal.
Es war ein wunderschönes Weihnachtsfest! So anders als sonst! Da sieht man einmal, was es ausmacht, wenn richtige Künstler dabei sind. Kreative Menschen, meine ich.
Carola hat das Fest gerettet, eindeutig. Ich meine, normalerweise geht die Hälfte des Tages drauf, weil man beim Putzen und Aufräumen helfen muss und beim Dekorieren. Später zieht sich Mama zurück, um sich schön zu machen. Ihr einziger Ehrgeiz besteht darin, perfekt auszusehen, wenn sie ihr fünfgängiges Menü auf den Tisch bringt, das sie aus einer Frauenzeitschrift nachgekocht hat. Vom Baum gar nicht zu reden. Jedes Jahr wird neuer Designer-Baumschmuck gekauft, und jedes Jahr sieht der Baum furchterregender aus. Meine Mutter liest zu viele Frauenzeitschriften, ich glaube, das ist ihr Problem.
Carola hat uns mitgenommen in die Stadt. Sie hat so einen alten VW-Bus, den sie bemalt hat, so psychedelisch, im Seventies-Stil, top angesagt, sogar mein Bruder war beeindruckt.
»So einen ähnlichen Wagen hatte ich auch einmal«, meinte Papa ganz wehmütig, und dann, stell dir vor, liebes Tagebuch, kam heraus, dass es derselbe Wagen WAR, den Papa nämlich im Jahre 1975 seinem Freund Kurt geschenkt hatte, Carolas Vater. Das war das Jahr, in dem sie geheiratet haben. Meine Eltern natürlich.
Sebi ließ sich vor einem CD-Discount absetzen und verschwand. Unterdessen weiß ich auch, warum: Er hatte noch keine Geschenke. Jeder Einzelne hat heute Abend von ihm eine CD bekommen. Sogar Opa. Würde mich nicht wundern, wenn sie geklaut wären.
Papa und ich begleiteten Carola in die Fußgängerzone, wo sie ihren Auftritt hatte. Vorher zog sie sich im Bus um und schminkte sich. Sie war einen Augenblick lang ganz nackt. Ich habe weggesehen, aber nicht schnell genug. Verglichen mit ihr habe ich jetzt schon einen Hängebusen, und ich bin erst vierzehn. Carola macht zuerst diese Nummer, in der sie minutenlang stumm dasteht wie eine Statue. Sie ist ganz weiß geschminkt und in weiße Tücher gehüllt und sieht aus, als ob sie aus Gips wäre. Die Leute bleiben stehen. Sie warten, dass etwas geschieht. Es geschieht aber nichts. Das macht sie nervös. Liebes Tagebuch, es ist so toll, was Carola in den Menschen dieser Stadt auslöst. Sie konfrontiert sie mit ihrer eigenen Unbeweglichkeit, mit ihrem eigenen Eingegipstsein – hey, das ist nicht schlecht formuliert. Ob ich vielleicht doch lieber Schriftstellerin werde?
Das Extremste ist aber, dass sie unter diesen paar Tüllstreifen ganz nackt ist. Und es war wirklich saukalt heute, eine Zeit lang hat es sogar geschneit, aber sie hat es überhaupt nicht gemerkt. Das ist die kreative Trance – ob ich so etwas wohl auch einmal erlebe?
Vielleicht könnte ich ein Stück für Carola schreiben. Wir könnten zusammen durch Europa reisen. In den Schulferien zum Beispiel. Morgen frage ich sie. Das heißt, vielleicht wäre es besser, wenn ich ihr schon etwas zeigen könnte. Sonst traut sie es mir womöglich gar nicht zu. Immerhin bin ich erst vierzehn. Ich muss mich aber beeilen. Wahrscheinlich reist sie schon bald wieder ab.
Mit Musik müsste es zu tun haben. Genau! Das ist die Idee! Ich schreibe eine Art Musical oder Oper, das ist international verständlich, und Carola singt auch und spielt Gitarre, und zwar genial gut! Zum Schluss haben die Leute auf ihren Absätzen mitgewippt, und Papa hat getanzt, er hat ihren schwarzen Samthut genommen und ist ganz nah beim Publikum vorbeigetanzt und hat so übertriebene Verbeugungen gemacht. Die Leute haben über ihn gelacht. Carola sagte nachher, sie hätte noch nie so viel eingenommen, und kaufte uns einen Falafel auf dem Weihnachtsmarkt. Unterwegs legte Papa einen Arm um ihre Schulter, und sie küsste ihn auf die Wange. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, das andere Bein hat sie seitlich ausgestreckt und bis über die Schulter hochgehoben. Solche Sachen macht sie dauernd, es sieht einfach toll aus. Es ärgert mich maßlos, dass Mama mir nie erlaubt hat, Ballettstunden zu nehmen, womöglich ist meine Zukunft versaut. Ich werde wohl doch lieber Schriftstellerin.
Als wir nach Hause kamen, war natürlich der Teufel los. Carola, die im Wohnzimmer auf dem Sofa schläft, hatte ihr Bettzeug nicht weggeräumt und auch sonst einiges herumstehen lassen. Eine halbe Flasche Rotwein ist ausgelaufen, und ein Brandloch war wohl auch im Teppich – na und? Ich verstehe nicht, was daran schlimm sein soll. Wie kann man sich wegen so etwas aufregen, während in Bosnien Menschen erschossen werden? Das hat Carola auch gesagt.
Ehrlich, früher ist mir nie aufgefallen, wie sehr Mama an diesen materiellen Details hängt. Es war richtig peinlich, wie sie Carola angeschrien hat. »Die Gäste«, hat sie immer wieder geschrien, »die Gäste werden in weniger als einer Stunde hier sein, und es ist noch nichts gemacht, noch nichts, noch nichts!«
Die Haare hingen ihr ins Gesicht, ihre Haut war fleckig, und bei jedem Wort flogen winzige Spucketropfen von ihrer Unterlippe. Es war zum Sterben peinlich. Papa sagte gar nichts mehr, er flüchtete ins Bad, so ist er manchmal, aber diesmal konnte ich es ihm wirklich nicht übel nehmen. Ich blieb stehen, so ein bisschen hinter dem Türrahmen, ich wollte nicht unbedingt, dass sie mich sieht, Mama, meine ich, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, Carola beistehen zu müssen. Es war irgendwie meine Pflicht. Es war so peinlich! Und das, nachdem Carola uns erzählt hat, wie gastfreundlich sie in südlichen Ländern aufgenommen worden ist! Also Carola hat ganz toll reagiert. Sie hat sich überhaupt nicht beeindrucken lassen von dem Gekeife, ist gar nicht erst darauf eingegangen. »Ist ja gut, ist ja gut«, hat sie gesagt, ganz sanft. Dann hat sie Mama ins Bad geschickt. »Geh nur und mach dich schön«, hat sie gesagt, »bis die ersten Gäste kommen, ist alles bereit. Ich schwör’s!« Dabei hat sie drei Finger hochgehalten und mir zugezwinkert.
Carola hat den großen Seesack aus dem VW-Bus geholt und die ganzen Requisiten im Wohnzimmer verteilt. Kerzen, Masken, Fächer, Stoffblumen, alles schwarz oder rot. Sie hat das ganze Zimmer umdekoriert. Die Abfälle hat sie kurzerhand mit dem Fuß unter das Sofa geschoben, sieht ja keiner. Dann ist sie in die Küche gegangen und hat das Frauenzeitschriftenmenü, das Mama schon vorbereitet hatte, mit Lebensmittelfarbe, Kuchendekoration und einem herzförmigen Ausstecher behandelt. Es war ein toller Erfolg! Oma und Opa waren ganz hingerissen von Carola, vor allem Opa, das wundert mich auch überhaupt nicht, niemand kann Carola widerstehen. Dabei hat sie noch nicht einmal geduscht oder irgendetwas, sie trug auch gar nichts Besonderes und sah doch hundertmal besser aus als Mama, die vergebens versucht hatte, ihre schlechte Laune und ihre Tränen mit Schminke zuzukleistern. Natürlich ist Carola auch um einiges jünger.
Carola war wahnsinnig lieb, sie hat das ganze Essen serviert und alles und nebenbei noch die Gäste unterhalten. Mama musste nicht einmal aufstehen. Trotzdem hat sie den ganzen Abend kein Wort gesagt, und um halb elf ging sie schlafen. Oma und Opa sind noch nie so lange geblieben. Ich glaube, sie haben sich noch nie so gut amüsiert. Wir haben berühmte Filme nachgespielt und getanzt, und später saß ich neben Carola auf dem Sofa, sie hatte einen Arm um mich gelegt, mit der anderen Hand kraulte sie Papas Kopf, der auf dem Boden vor ihr saß und sich an ihre Beine lehnte.
Mama kam noch zweimal herunter, um sich über die Musik zu beschweren.