Kapitel 2

Das Essen war ein voller Erfolg. Die Gäste bedankten sich überschwenglich bei Winifred und beglückwünschten sie zu ihrer Köchin.

Anschließend zogen die Frauen sich wie nach jedem Dinner in den Salon zurück, während die Männer im Eßzimmer bei einem Glas Portwein ihre Zigarren rauchten. Winifred hatte diese Sitte, die ja sonst nur in Adelskreisen üblich war, bei ihrem Einzug eingeführt. Am Anfang hatte Daniel darüber gespottet, es dann später aber unterlassen.

Annette Allison saß auf einem unbequemen Stuhl neben dem Flügel und beobachtete ihre Mutter, ihre zukünftige Schwiegermutter, Madge Preston, und Betty Bowbent. Unwillkürlich schickte sie ein stummes Stoßgebet zum Himmel: Bitte lieber Gott, laß nicht zu, daß ich so werde wie sie. Gewissensbisse verspürte sie wegen dieser Gedanken nicht, auch wenn es in der Bibel hieß, man solle Vater und Mutter ehren. Merkwürdig, sinnierte sie, seit dem fünften Lebensjahr hatte sie bei Klosterschwestern im Internat gelebt und war also mit derlei Predigten aufgewachsen. Dennoch hatte sie stets ihre eigenen Vorstellungen entwickelt.

Ihre Gedanken wanderten weiter zu Don. Ihr war klar, daß ihr heute keine fünf Minuten Alleinsein mit ihm vergönnt sein würden, denn nicht nur ihre Mutter, sondern auch Mrs. Coulson wachten mit Argusaugen über sie. Es war wie im Gefängnis. Beim Gedanken an Dons Mutter beschlich sie Angst vor der Zukunft. Als seine Ehefrau würde es ihr wohl schwerer fallen, ihre wahren Gefühle zu verbergen und bei den unvermeidbaren Meinungsverschiedenheiten zu schweigen.

Mittlerweile war Mrs. Bowbent auf Maria zu sprechen gekommen. Worauf ihre Mutter schnell das Thema wechselte und laut darüber nachdachte, ob man nicht auch gleich das Wetter für den nächsten Sonntag bestellen könnte. Das war die Gelegenheit, den Damen wenigstens für eine Weile zu entkommen. Annette stand hastig auf. »Ist es dir recht, wenn ich mal nach oben gehe und ein bißchen mit Stephen plaudere?« fragte sie ihre zukünftige Schwiegermutter.

Nach kurzem Zögern antwortete Winifred lächelnd: »Aber natürlich, Annette. Er wird sich bestimmt über deinen Besuch freuen.«

Die vier Frauen blickten Annette nach. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, nahm Madge Preston einen neuerlichen Anlauf. »Warum sollen wir das Thema totschweigen, Janet? Sie weiß doch Bescheid. Im Grunde weiß jeder, was los ist.«

Janet Allison war entrüstet. »Das stimmt doch überhaupt nicht! Und was gehen diese Leute uns noch an. Sie sind ja weggezogen.«

»Richtig, aber erst als Marias dicker Bauch auch dem letzten ins Gesicht gesprungen war.«

»Pfui, Madge! Wie ordinär du bist!«

»Sei doch nicht so prüde, Janet. Was würdest du denn sagen, wenn Annette das gleiche passierte?«

Janet Allison sprang empört auf. »Diesmal bist du zu weit gegangen, Madge!«

»Bitte setz dich wieder, Janet, es tut mir leid.«

Winifred, die ihnen schweigend zugehört hatte, legte begütigend eine Hand auf Janets Arm. »Setz dich doch wieder, Janet, bitte. Wir wollen über etwas anderes sprechen. Es gibt weiß Gott erbaulichere Themen.« Sie bedachte Madge mit einem tadelnden Blick. In diesem Moment ging die Tür auf. »Ah, da kommen die Männer.« Sie ließ sich erleichtert zurücksinken. Mit mehr oder weniger sanfter Gewalt brachte sie Janet dazu, es ihr gleichzutun.

Im Gänsemarsch kamen die Ehemänner herein: Daniel, der rundliche John Preston, der hagere, immer ein bißchen blutarm wirkende Harry Bowbent und James Allison, der einen gewaltigen Schmerbauch vor sich herschob. Joe folgte ihnen mit etwas Verspätung.

Winifred winkte ihn zu sich. »Wo ist Don?« Im allgemeinen Stimmengewirr hörte niemand außer Joe die Frage.

»Don? Ach, er ist nur kurz zu Stephen gegangen, ihm eine gute Nacht wünschen.«

Sie mußte sich förmlich zwingen, nicht auf der Stelle nach dem Rechten zu sehen. Und als sie Janet Allisons zusammengekniffenen Augen bemerkte, wußte sie, daß ihre zukünftige Schwägerin dasselbe dachte wie sie.

Im zweiten Stock standen Don und Annette eng umschlungen in Stephens Spielzimmer und küßten sich. Als ihre Lippen sich trennten, raunte Don ihr ins Ohr: »Ohne dich kann ich keine Minute länger leben.«

»Mir geht es nicht anders«, erwiderte sie schlicht. »Vor allem jetzt nicht mehr, seit ich Gewißheit habe.«

»Ja, vor allem jetzt.« Er nahm ihren Kopf zärtlich zwischen beide Hände. »Kannst du dir vorstellen, daß es auf der ganzen Welt noch so ein Paar gibt mit Müttern, wie es unsere sind?«

»Nein. Aber manchmal plagen mich schreckliche Schuldgefühle. Du hast ja noch Glück, hinter dir steht wenigstens dein Vater. Ich dagegen muß gegen alle beide ankämpfen. Soll ich dir sagen, warum sie mich heute ausnahmsweise gehen ließ? Weil die Damen wieder mal über Maria Tollett diskutierten. Und das Thema ist natürlich viel zu schmutzig für ein unschuldiges Mädchen wie mich. Die arme Maria! Mein Gott, wie war sie früher doch schüchtern! Einigen Mädchen hätte ich so etwas zugetraut, aber nie und nimmer Maria. Aber dann ist es ihr passiert, und ihre Familie mußte sie in eine andere Stadt schicken – wegen der Schande. Ich glaubte immer, jetzt, wo wir die fünfziger Jahre endlich hinter uns haben, wäre so etwas nicht mehr möglich. Aber wenn das so weitergeht, und Leute wie deine oder meine werte Frau Mama nicht dazulernen, werden diese alten Zöpfe auch zur Jahrtausendwende nicht abgeschnitten sein.«

Sie drückte sich mit aller Kraft an ihn: »O Gott, wenn doch schon Samstag wäre!«

»Es wird ja alles gut, Liebes. Denk nur an die drei Wochen in Italien! Nur du und ich! Na gut, wir müssen natürlich zum Papst gehen, aber das ist ja nur ein Tag.«

Er spürte, wie ihr Körper zu zittern anfing, hörte sie an seiner Schulter kichern. Auch er konnte ein Lachen nur mit Mühe unterdrücken. »Pssst! Pssst. Wenn unsere Mütter das hören, kommen sie die Treppe raufgesprintet.«

Sie sah zu ihm auf. Tränen standen in ihren Augen. Sie biß sich auf die Lippen, um nicht loszuplatzen. Schließlich brachte sie hervor: »Ich habe ihnen hoch und heilig versprechen müssen, daß wir jeden Morgen zur Messe in den Vatikan gehen… du und ich gemeinsam.«

»Nein!«

»Doch!«

»Hast du ihnen nicht gesagt, daß der Papst uns gern haben kann und wir lieber bis Mittag im Bett bleiben und uns aneinander kuscheln?«

»O Don!« kicherte sie.

»Hör doch!« Er löste sich sanft von ihr. »Da kommt jemand. Ich verschwinde lieber in Stephens Zimmer und sehe nach, ob er schon schläft, und du gehst schon mal die Treppe runter.« Doch unvermittelt überlegte er es sich anders und legte einen Arm um ihre Hüfte. »O nein! Nein! Wir spielen keine Komödie mehr. Irgendwann muß Schluß sein. Wenn ich einen Funken Verstand gehabt hätte, hätte ich ihnen viel früher gesagt, was los ist.«

Sie setzten sich mit trotziger Miene in Bewegung, als Joe ihnen entgegenkam. »Gleich schicken sie einen Suchtrupp. Beeilt euch mal lieber. Unten herrscht Aufbruchsstimmung. Sie begutachten noch die Geschenke, aber die Stimmung ist auf den Nullpunkt gesunken. Sag mal, Annette, hat es einen Streit gegeben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ging nur um Maria Tollett. Und da habe ich die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und bin gegangen. Ich nehme an, daß sie während meiner Abwesenheit kein Blatt mehr vor den Mund genommen und kein gutes Haar an ihr gelassen haben. Das dürfte allerdings Mrs. Preston gegen den Strich gegangen sein, weil sie doch mit den Tolletts eng befreundet ist.«

»Ach so… Hört trotzdem lieber auf meinen Rat und schaut ein bißchen ernster drein. Unten herrscht dicke Luft. Wenn ihr so Arm in Arm daherkommt, ist der Ofen endgültig aus.«

Lachend ließen sie sich von ihm die Treppe hinunter scheuchen. »Bald ist Samstag«, raunte Don Annette ins Ohr, und sie flüsterte: »Amen! Amen!« Keiner ahnte, daß Joe, ihr Freund und Verbündeter, den Samstag mindestens ebenso inbrünstig herbeisehnte wie sie.

Es war kurz vor elf. Im ganzen Haus herrschte Stille. Winifred hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, und auch Joe und Stephen lagen bereits im Bett. Nachdem Lily und Peggie ihm eine gute Nacht gewünscht hatten, rumorte nur noch Maggie in der Küche herum. Daniel wußte, daß er bei ihr jederzeit willkommen war. Und diese Stunden des Alleinseins mit ihr taten ihm so unendlich wohl. Doch heute verzichtete er darauf, denn er war zu aufgewühlt. Er wußte genau, wohin es geführt hätte, wenn er sich jetzt hätte gehen lassen – das Klima im Haus wäre vollends unerträglich geworden, weil er seine Gefühle einfach nicht verbergen konnte.

Müde war Daniel noch nicht. Er war ein Nachtmensch, der erst so richtig aufdrehte, wenn die anderen ins Bett gingen. Schwierigkeiten hatte er dagegen regelmäßig am Morgen. Da kam er nur schwer aus den Federn.

Er zog sich einen Mantel an und ging leise aus dem Haus. Es war kühl geworden. Der Herbst und mit ihm die langen, kalten Nächte standen bevor. Daniel hing seinen Gedanken nach. War sein bisheriges Leben nicht auch eine lange, kalte Nacht gewesen? Doch jetzt sah er in der Ferne ein Licht flackern. Wie er sich danach sehnte, sich an diesem Feuer zu wärmen! Gleichzeitig schämte er sich deswegen.

Langsam ging er die Auffahrt hinunter. Unten beim Tor brannten noch die Lampen. Das bedeutete, daß Lily und Bill, ihr Mann, noch auf waren.

Als er an ihrem Häuschen vorbeikam, stürzte plötzlich Bill zur Tür heraus. »Ach, Sie sind’s, Sir. Sie haben mir ja einen schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, es wäre ein Einbrecher.«

»Ich wollte nur ein bißchen frische Luft schnappen, Bill.«

»Ihre Gäste sind früh gegangen, nicht wahr?«

»Stimmt, sie hatten heute wohl nicht soviel Sitzfleisch. Es ist kühl geworden, finden Sie nicht auch? Wir müssen uns auf einen frühen Winter einstellen.«

»Sieht ganz danach aus, Sir. Ich selbst mag den Winter ja ganz gern. Für mich gibt es nichts Schöneres, als die Füße auf den Ofen zu legen, eine Pfeife anzuzünden und ein gutes Buch zu lesen. Im Sommer finde ich irgendwie nie die nötige Ruhe.«

»Stimmt, da haben Sie recht. Jede Jahreszeit hat wohl ihre Vorzüge.«

Schweigend gingen sie gemeinsam zum Eisentor, um es für die Nacht zu verriegeln. Es wirkte recht imposant mit seinen zwei Flügeln und den massiven elektrischen Laternen oben auf den Steinsäulen zu beiden Seiten. Kurz davor blieb Bill stehen. »Ich muß Ihnen etwas sagen, Sir…« Er druckste herum. »Heute mußte ich wieder in die Dale Street fahren.«

Daniel musterte sein Gegenüber mit regungsloser Miene. »Fahren Sie oft dorthin?« fragte er schließlich ganz leise.

»Dreimal bisher. Aber erst heute habe ich kapiert, warum sie mich dorthinschickt. Ich sollte rausfinden, ob Sie dort sind.«

»Wann sind Sie denn die anderen zwei Male hingefahren.«

»Letzte Woche.«

»War das alles? Oder mußten Sie noch… woandershin fahren?«

»Das war alles, aber sie hat mich dann ausgefragt.«

Daniel starrte auf die Felder hinaus, auf die der Lichtschein der Laternen fiel. Würde sie denn nie Ruhe geben? Wie unwohl sich doch dieser Mann in seiner Haut fühlen mußte. Da saß er zwischen zwei Stühlen, hatte einerseits die Launen seiner Herrin über sich ergehen zu lassen, und hielt doch stets seinem Brötchengeber treu die Stange.

»Danke, Bill«, murmelte Daniel mit belegter Stimme.

»Keine Ursache, Sir.«

Daniel wollte gerade umkehren und zum Haus zurückgehen, da hörte er einen Wagen heranrattern. Die Klapperkiste hätte er unter Hunderten erkannt, und als sie vor dem Tor anhielt, trat er sogleich darauf zu. »So spät am Abend noch unterwegs, Herr Pfarrer?«

»Ach, die üblichen Geschäfte«, brummelte Father Ramshaw. »Hatten Sie Gäste?« Er deutete auf die Laternen.

»Sind schon alle weg. Wollen Sie auf einen Drink reinkommen?«

»Jetzt, wo Sie’s sagen, bekomme ich richtig Durst. Dabei habe ich mich vor ein paar Minuten nur noch auf mein Bett gefreut.«

»Bill!« rief Daniel seinem Angestellten zu. »Sie brauchen unsertwegen nicht aufzubleiben. Ich lösche die Lichter später selbst. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Sir!« rief Bill seinem Arbeitgeber nach, der nun zu Father Ramshaw in den Wagen stieg.

»Wen haben Sie denn heute besucht, Father? Ein dringender Fall?«

»Tommy Killbride.«

»Nicht schon wieder! Der Kerl ist doch ein Hypochonder!«

»Das war er mal, aber diesmal bildet er sich nichts ein. Auch wenn er es noch nicht ahnt, in spätestens zwei Tagen ist es vorbei mit ihm. Und ob Sie’s mir glauben oder nicht – keiner wird so überrascht sein wie er selbst. Ich sehe ihn schon an der Himmelspforte reklamieren: ›Da muß ein Irrtum vorliegen! Ich habe nichts als eine übersteigerte Phantasie. Vierzig Jahre lang haben sie mir das immer vorgehalten. So viele Menschen können sich doch nicht getäuscht haben. Laßt mich wieder zurückgehen! ‹ Wissen Sie, Daniel, das Leben spielt einem schon die eigenartigsten Streiche. Er hat sich so ziemlich jede Krankheit dieser Welt eingebildet, nur diese eine nicht, die so unvermutet dahergeschlichen kam. Er tut mir aufrichtig leid. Aber daß der Tod ihn so überrumpeln wird, das hat er sich selbst zuzuschreiben!«

»Ach, Father!« lachte Daniel. »Wetten, daß Sie am liebsten dabei sein würden, wenn er da oben ankommt, nur um sein Gesicht zu sehen…? Was anderes: Geht noch immer dieses unsägliche Klappergestell von Rosie bei Ihnen ein und aus? Wenn Sie die nicht bald rauswerfen, sind Sie der nächste, der vor dem Jüngsten Gericht landet.«

»Ich habe nicht vor, Rosie rauszuwerfen. Sie ist eine Freundin, und ich will nicht, daß Sie über sie herziehen. Oder sollen wir Menschen links liegenlassen, nur weil ihre Knochen nicht mehr mitmachen und sie verbittert sind? Unterhalten wir uns lieber über die schönen Dinge. Sie hatten doch eine Party heute Abend. Wie ist sie gelaufen?«

»Wie immer.«

»Na, Sie werden froh sein, wenn es am Samstag endlich ausgestanden ist.«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Father. Nichts wünsche ich mir sehnlicher.«

Wenige Minuten später saßen sie in der Bibliothek. Im Kamin prasselte ein Feuer, und auf dem Tisch zwischen ihnen standen eine Karaffe mit Whisky, eine Flasche Brandy, ein Krug Wasser und zwei Gläser.

Daniel deutete auf die Flasche. »Ich könnte mir vorstellen, daß Sie vielleicht mal was Neues ausprobieren wollen. Ich weiß schon, Sie stehen nicht auf Brandy, aber der hier ist etwas Besonderes; ein Geschenk von einem guten Kunden. Er ist über vierzig Jahre alt und zergeht einem richtig auf der Zunge. Der Geschmack ist unvergleichlich.«

Er schenkte ein und reichte dem Pfarrer ein Glas. Der nippte daran und zog beim Herunterschlucken die Augenbrauen anerkennend hoch.

»Alle Wetter! Wie Sie gesagt haben, er zergeht einem auf der Zunge. Trotzdem bleibe ich lieber beim Whisky. Wenn ich noch mehr davon trinke, schmeckt mir bald nichts anderes mehr, und Sie wollen bestimmt nicht, daß ich meine Sammelbüchse für die Armen plündere.« Er räkelte sich genüßlich in seinem Sessel. »Sie haben ein wunderschönes Haus, wissen Sie das? Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch hier. Ich war damals frisch nach Fellbum versetzt worden. Die Blackburns waren strenggläubige Katholiken. Alles, was im entferntesten mit Alkohol zu tun hatte, war bei ihnen verpönt. Das höchste der Gefühle war eine Tasse Tee oder Kaffee. Und das, was sie einem vorsetzten, schmeckte immer nach Wasser. Natürlich lebte man damals von der Hand in den Mund. Es kostet viel Geld, wenigstens den äußeren Schein aufrechtzuerhalten, vor allem, wenn man eine Schwäche für Pferde hat …«

»Sie sagen mir nichts Neues, Father. Auch ohne Pferde ist das Leben teuer genug.«

»Ach ja, wissen Sie, man kommt halt so ins Plaudern. Apropos Leben, wie sieht’s denn jetzt so in Ihrem Leben aus?«

»Schlimmer könnte es kaum laufen, Father.«

»So schlimm? Wollen Sie’s mir erzählen?«

»So spät am Abend möchten Sie doch bestimmt keine Beichte mehr hören, oder? Beim alten Tommy hatten Sie vorhin garantiert Schwerstarbeit zu verrichten, und es wird wohl nicht die erste Beichte heute gewesen sein.«

»Wenn Leute beichten wollen, habe ich immer ein offenes Ohr. Aber es muß ja nichts Offizielles sein. Wir können auch so in aller Ruhe miteinander plaudern. Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen? Sind neue Probleme dazugekommen? Sie waren ja schon lange nicht mehr bei mir.«

Wie immer, wenn Sorgen ihn bedrückten, beugte Daniel sich vor, legte die Arme auf die Oberschenkel und verhakte die Finger mit solcher Kraft ineinander, daß es ihm fast weh tat. Den Blick auf das Feuer gerichtet, murmelte er: »Ich habe ein Verhältnis mit einer Frau.«

»Mein Gott, sagen Sie mir lieber etwas, wovon ich nichts weiß!«

Endlich blickte Daniel dem Pfarrer wieder in die Augen. »Sie ist nicht von der Sorte, wie Sie jetzt meinen.«

»Mit was für einer Sorte Frauen läßt man sich denn ein?«

»Es gibt auch anständige Frauen, Father.«

»Sagen Sie bloß, Sie wollen einen vierundsechzigjährigen Priester aufklären, Daniel! Sie scheinen vergessen zu haben, daß auch wir Männer sind und einige von uns nicht von Anfang an Pfarrer waren. Ich zum Beispiel habe mein Gelübde erst mit fünfundzwanzig Jahren abgelegt.«

Daniel lächelte leicht. »Wie konnten Sie nur, Father, wenn Sie schon so gut über das Leben Bescheid wußten?«

»Weil Er mich nicht mehr in Frieden ließ. Mit zwanzig hätte ich fast vor dem Traualtar gestanden, aber Er hatte da ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Der Vater des Mädchens wollte mich grün und blau schlagen, und ihr Bruder drohte damit, mir beide Füße zu brechen, wenn ich wegrannte. Aber ich rannte so schnell ich konnte. Offen gesagt, tue ich das in Gedanken noch immer – na ja, in jüngster Zeit eigentlich kaum noch. Trotzdem ist vor nicht allzu vielen Jahren ein bestimmter Priester mit zitternden Knien zum Bischof in den Beichtstuhl gewankt. Mir war nämlich beigebracht worden, daß man mit Gedanken genauso sündigt wie mit Taten. Natürlich verschaffen einem erstere nicht annähernd soviel Befriedigung.«

Daniel prustete los. »Father«, ächzte er, als er sich wieder beruhigt hatte, »ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Das ist ja das Schlimme. Da sage ich mal was im Ernst, und keiner glaubt mir. Aber Sie kennen doch auch das Sprichwort: Vieles wird im Scherz gesagt und ist doch ernst gemeint. Und jeder meiner Späße enthält einen wahren Kern. Sie können es mir ruhig glauben. Was ich Ihnen gerade gestanden habe, ist die heilige Wahrheit. Wie dem auch sei, wer ist denn die anständige Frau, die Ihnen solche Kopfschmerzen bereitet? Kenne ich sie?«

Daniel zögerte. »Es ist Maggie.«

»O nein! Nicht Maggie!«

»Doch, Father. Verstehen Sie jetzt, warum das etwas anderes ist?«

»Nun ja, es hat so kommen müssen.«

»Wie meinen Sie das?« Daniel rutschte unruhig auf seiner Couch hin und her. Sein Blick war wieder auf das Feuer gerichtet.

»So, wie ich es gesagt habe. Sie ist all die Jahre bei Ihnen geblieben. Warum, glauben Sie denn, hat sie es so lange unter Winifred ausgehalten? Ich sage Ihnen eins: Es ist schlimm genug für einen Mann, mit einer Xanthippe zu leben. Aber für eine Frau ist es noch viel schlimmer. Vor allem, wenn sie einen Drachen wie Winifred zu ertragen hat. Und gerade sie rennt jeden Tag in die Kirche… Wissen Sie, Frömmigkeit ist ja eine schöne Sache, aber Gott verlangt bestimmt nicht diese extreme Hingabe. Krankhafte Bigotterie ist das meiner Meinung nach. Ich kann Ihnen noch ein paar andere Beispiele aus unserer Pfarrei nennen. Annettes Mutter zum Beispiel. Sie wissen ja selbst, wie sie ist. Und bei ihrem Vater würde ich ohne zu zögern von einer Zwangsvorstellung sprechen. Man sollte in allem Maß halten, auch im Glauben. Wir Katholiken haben weiß Gott genügend Fehler. Der schlimmste – und diese Erfahrung habe ich immer wieder machen müssen – liegt in unserer Selbstüberschätzung. Wir bilden uns ein, der allmächtige Gott hätte uns auserwählt. Wenn wir das nur aus unseren Köpfen kriegen könnten, dann hätten wir fast so etwas wie den vollkommenen Glauben. Aber das darf ich nicht laut sagen, sonst werde ich noch wegen Ketzerei exkommuniziert. Andererseits gibt es keine andere Glaubensgemeinschaft, die so nachgiebig oder tolerant ist wie die der Katholiken. Wo drücken die Priester sonst beide Augen zu, wenn ein Mann am Freitag Abend seinen Lohn versäuft, daraufhin seine Frau prügelt, am Samstag zur Beichte geht, am Sonntag die Heilige Kommunion empfängt und sich gleich danach im Club wieder einen antrinkt? Ich sage Ihnen eins: Von Gottes Geschöpfen sind wir die tolerantesten, aber gerade aus diesem Grund sollten wir auch jedes Übermaß vermeiden.«

»Schade, daß Sie damals Winnie nicht überzeugen konnten.«

»Ich habe es versucht, mein Lieber. Und auch heute rede ich mit Engelszungen auf sie und ihresgleichen ein. Die nehmen mich aber überhaupt wahr! Sie schalten die Ohren auf Durchzug, sobald ich den Mund aufmache. Aber lassen Sie mal Father Cody von den Höllenfeuern predigen. Da sinken sie auf die Knie und rufen Amen! Glauben Sie’s mir ruhig, Daniel, es gibt schlimmere Domen im Fleisch als Frauen. Warum, um alles in der Welt, hat der Bischof nur diesen Eisenfresser zu mir geschickt? Ich fürchte, das war kein Zufall. In Fellbum soll mehr Disziplin herrschen. Befehl von oben, verstehen Sie? Die Leute, oder vielmehr dieser Trottel von Father Ramshaw haben anscheinend ganz vergessen, daß es einen Teufel gibt. Die Toten sollen ab sofort wieder in einer Folterkammer auf glühenden Kohlen sitzen. Es darf kein Wartezimmer mehr geben, in dem sie über ihr Leben nachdenken und vielleicht ihre Missetaten oder Sünden, wenn Ihnen das Wort lieber ist, bereuen. Ach Gott, was schleppen wir nur für Ballast mit uns herum! Ich finde, wer Nächstenliebe praktiziert, braucht keine Hölle zu fürchten. Sie werden sich erinnern, daß ich das meinen Schäfchen mehr als einmal gepredigt habe… Na ja, weshalb ereifere ich mich darüber? Zurück zu Maggie: Warum ist das nach so vielen Jahren passiert?«

Daniel beugte sich erneut weit vor. Mit leiser Stimme erklärte er: »Es war ein Tag wie jeder andere. Maggie hatte frei, und ich nahm sie mit in die Stadt. Ob Sie’s glauben oder nicht, es war das erste Mal, daß wir zwei allein im Auto saßen. Früher, als sie Stephen mit zu ihrer Cousine nahm, da brachte ich die beiden immer hin. Na gut, wir fuhren zusammen durch die Stadt, da lud sie mich ein mitzukommen. Sie wirkte plötzlich ganz anders auf mich. Und während Maggie so redete, betrachtete ich sie. Diese Frau, die seit zwanzig Jahren in meinem Haus lebte, war voller Güte und Lebendigkeit, und in diesem Moment erkannte ich, daß ich sie nicht nur haben wollte, sondern daß ich sie liebte. So einfach ist das. Anscheinend hegte sie ähnliche Gefühle für mich, auch wenn sie mir das nie gezeigt hatte. Was soll ich nur tun, Father?«

»Hmm, was können Sie denn tim? Wenn ich Ihnen sage, lassen Sie ab von ihr, werden Sie erwidern: ›Wie soll das gehen – in ein und demselben Haus?‹ Aber was geschieht, wenn ich Ihnen die Folgen ausmale, falls Ihre Frau davon Wind bekommt? Die Hölle wird sie Ihnen heiß machen, und dann möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.«

»Ich möchte Winnie verlassen, Father. Sobald Don verheiratet ist und sie ihn nicht mehr vereinnahmen kann, will ich gehen.« Er richtete sich auf und begegnete dem Blick des Pfarrers. »Und Stephen und natürlich Maggie werde ich mitnehmen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich sage das nicht so dahin.«

»Das geht nicht, Mann. Sie wird Sie nie in Ruhe lassen. Oder haben Sie vergessen, was das letzte oder das vorletzte Mal geschehen ist? Es käme noch schlimmer. Ihre Frau würde alle Energien mobilisieren, um Sie zu treffen. Wenn Don aus dem Haus ist, hat sie nicht mehr viel, wofür es sich lohnt zu leben. Mir ist ohnehin ein Rätsel, warum sie die Hochzeit nicht verhindert hat.«

»Tja, den Grund kann ich Ihnen verraten: Ich habe das Ganze in die Wege geleitet.«

»Wirklich? Eigentlich hätte ich mir ja denken können, daß Sie die Hände im Spiel hatten; denn freiwillig gäbe sie die Zügel nie aus der Hand. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie Don früher bei jedem Wetter auf dem Fußballplatz zusah. Nach dem Spiel fuhr sie ihn dann gleich nach Hause.«

»Stimmt! Er hätte ja mit einem Mädchen sprechen können. Aber jetzt heckt sie etwas ganz Neues aus. Raten Sie mal, worum sie mich heute gebeten hat.«

»Ich bin schlecht im Raten, Daniel. Sagen Sie’s mir.«

»Nun ja, gebeten ist nicht der richtige Ausdruck, sie verlangt von mir, daß ich ihn mir vorknöpfe und herausfinde, ob er schon mit einem Mädchen geschlafen hat.«

»O Gott, nein!« Der Priester schmunzelte.

»Sie haben gut lachen, aber es ist die traurige Wahrheit!«

»Was ist nur in sie gefahren?«

»Was in sie gefahren ist? Bis zu seinem Tod möchte sie ihn festhalten. Rein und unbefleckt, so soll er für sie sein. Wissen Sie, seit Dons Geburt beachtet sie Stephen und Joe kaum noch. Don ist ihr Kind, und er ist normal. Die beiden anderen lehnt sie ab, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.«

Father Ramshaw schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber selbst wenn Sie sie verließen, Ihre Frau würde sich nie scheiden lassen. Ist Ihnen das klar?«

»Das wäre mir egal, Hauptsache, ich hätte endlich genügend Abstand von ihr. Weit mehr Abstand als bisher; denn seit Jahren teilt Winifred nicht mehr das Bett mit mir. Sie weicht zurück, wenn ich sie berühre.«

»Zu traurig, daß es so weit kommen mußte«, seufzte der Priester. »Aber vielleicht gehört auch das zur Vorsehung des Herrn. Es könnte ja sein, daß Ihre Frau sich ab Samstag wieder Ihnen zuwendet, nachdem sie Don verloren hat.«

»O nein, Father, nie im Leben!« Daniel füllte Whisky nach, und reichte seinem Gast das Glas. Er selbst leerte seins auf einen Zug. »Mir würde vor ihr ekeln. Es ist vorbei! Nein, nach all den Jahren gibt es keine Versöhnung mehr, darauf können Sie Gift nehmen!«

»Angenommen, Sie machen ernst …, was wird dann aus Joe?«

»Joe ist längst selbständig und lebt sein eigenes Leben. Er hat einen guten Posten als Buchhalter und wird seinen Weg gehen. Joe führt seinen eigenen Haushalt in dem kleinen Häuschen drüben, wir bekommen ihn tagelang nicht zu Gesicht, nicht einmal zu den Mahlzeiten. Nein, nein, um Joe mache ich mir keine Sorgen.«

»Das stimmt, Joe ist ein tüchtiger Bursche. Aber allein kommt auf die Dauer keiner zurecht, Daniel. Ach, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich muß mir den jungen Mann mal vorknöpfen. In der letzten Zeit hat er seine Pflichten arg vernachlässigt. Zumindest habe ich Joe schon seit Wochen nicht mehr in der Kirche gesehen. Vielleicht besucht er aber auch Father Codys Messe, den ich aber nicht danach fragen wollte. Je weniger dieser Teufelsaustreiber und ich miteinander sprechen, desto besser.« Der Priester nippte an seinem Whisky und fügte lachend hinzu: »Ich bin ja ein schlechter Mensch, aber das wissen nur Sie, der liebe Gott und ich. Drum tragen Sie es bitte nicht weiter. Na ja, so herrlich Ihr Whisky auch schmeckt, nach diesem Glas muß Schluß sein, oder ich fahre grölend nach Hause. Das aber wäre mein Ende, denn wenn Father Cody mich in so einer Verfassung antreffen würde, er haute mir vor dem Altar die Hucke voll und würde mich anherrschen: ›Nachsagen! Der Teufel hat den Schnaps gemacht. Der Teufel hat den Schnaps gemacht. Der Teufel hat den Schnaps gemacht! ‹«

Beide bogen sich vor Lachen, und es dauerte eine Weile, bis der Priester fortfahren konnte. »Leider ist er nicht der einzige von der Sorte. Kennen Sie Schwester Catherine? Man könnte sie glatt für seine Mutter halten, so ähnlich sind die beiden sich im Umgang mit Sündern. Wissen Sie, was sie mit den Jungen anstellt? Einmal habe ich gesehen, wie die Schwester einem wehrlosen armen Teufel wegen irgendeines dummen Streiches immer wieder auf den Kopf schlug und dabei jedesmal schrie: ›Nachsagen: Gott ist die Liebe!‹«

Daniel wischte sich die Augen trocken. »O Gott, Father. Hoffentlich kommen Sie zu mir, wenn es mit mir dem Ende zugeht. Ich möchte gern beim Sterben lachen.«

»Ach, solche Komplimente wärmen mir richtig das Herz. Aber glauben Sie nicht auch, daß ich eher gehe? Immerhin bin ich um einige Jährchen älter als sie. So, jetzt ist aber Schluß. Helfen Sie mir doch bitte auf. Mal sehen, ob ich noch gerade gehen kann. Wie viele Whiskys habe ich getrunken?«

»Drei, und den Brandy.«

»Dann liegt es am Brandy. Bei Whisky spüre ich den Alkohol nie. Sehen Sie nur, wie mein Bein zittert! Nun bringen Sie mich noch schön leise zur Tür, und dann gehen Sie gleich ins Bett. Vergessen Sie nicht, am Donnerstag wird die Trauung in der Kirche geprobt. Bis Samstag sind es dann nur noch zwei Tage. Gebe Gott, daß alles klappt. Was die andere Geschichte betrifft, so müssen wir uns unbedingt noch einmal darüber unterhalten, Daniel. Versprechen Sie mir, daß Sie bis dahin nichts unternehmen.«

»Ich verspreche es Ihnen, Father.«

Daniel begleitete den Priester bis zur Auffahrt. Vor dem Wagen fiel Bill ihm ein. »Ich fahre noch bis zum Tor mit«, murmelte er. »Ich habe Bill doch versprochen, die Lichter zu löschen …«

Zurückgekehrt ins Haus, warf er einen Blick auf die Küchentür. Er wußte, daß sich Maggie dort noch aufhielt, denn er hatte von der Auffahrt aus noch Licht brennen sehen. Daniel zögerte, ging dann aber doch müde die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf.