Don ließ die Tür nicht eine Sekunde aus den Augen. Er fieberte dem Moment entgegen, in dem sie sich öffnen und sich ein bestimmtes Gesicht darin zeigen würde. Zugleich graute ihm vor dem Anblick eines anderen Gesichtes.
Wie lange lag er nun schon hier? Eine halbe Ewigkeit, so kam es ihm vor – mindestens sechs Jahre und nicht sechs Wochen, wie ihm alle sagten. Trotzdem waren seit jenem gräßlichen Knall tatsächlich erst sechs Wochen vergangen.
Er hob langsam den rechten Arm und betrachtete ihn. Danach wiederholte er dieselbe Prozedur mit dem linken. Noch hatte er beide Arme und den Kopf, und der Verstand war ihm ebenfalls erhalten geblieben. Er konnte sehen, hören und sprechen. Aber was nützte ihm all das? Sein Körper war gelähmt. Na ja, nicht ganz, immerhin einen Lungenflügel hatte er noch – sein beständiges Keuchen erinnerte ihn daran. Auch seine Blase und die Verdauungsorgane waren noch vorhanden. Ihr Funktionieren beschämte ihn jeden Tag aufs Neue. Aber die Beine waren weg. Nein, das stimmte nicht – er konnte sie ja sehen. Aber was nützten sie ihm noch? Warum hatten sie sie ihm nicht abgenommen? Sie hatten ihm ja soviel anderes weggenommen. Beeil dich, Annette! Komm schnell! Bitte, lieber Gott, gib, daß Mam mir heute erspart bleibt! Joe und Dad möchte ich ja sehen, aber bitte nicht Mam. Ja, Joe mochte er. Gestern hatte er versprochen, er wolle Stephen mitbringen, auf einen Sprung wenigstens.
Auf einen Sprung! Alle kamen ja immer nur auf einen Sprung vorbei. Sie schauten kurz rein und waren schon wieder weg. Wenn sie doch ein bißchen länger blieben! Wenn doch Annette nur käme und Tag und Nacht bei ihm bliebe! Gestern und vorgestern war sie fast den ganzen Tag bei ihm gewesen. Halt, nein, nicht vorgestern! Da hatte seine Mutter am Bett gesessen, ihn unaufhörlich gestreichelt und ihm irgendwelche Sachen ins Ohr geflüstert. Das war fast zuviel für ihn gewesen. Er war zu schwach, um sie die ganze Zeit zu ertragen. Wenn sie sie doch von ihm fernhielten! Er nahm sich vor, Dad deswegen anzusprechen. Dad verstand ihn. Joe auch. Und Annette sowieso. Nur ihre Verwandten konnte er nicht leiden. Ihr Vater war ein Wichtigtuer, und ihre Mutter war auf ihre Weise genauso von Gott besessen wie die seine. Ein merkwürdiger Gedanke: von Gott besessen. Es gab Menschen, die vom Teufel besessen waren – aber von Gott? Ihn wunderte, daß er trotz allem über solche Dinge nachdachte. Überhaupt, was er sich so alles vorstellte… Gedanken strömten die ganze Zeit durch ihn, ohne daß er sich dagegen wehren konnte. Neulich erst hatte er sich bei völlig klarem Bewußtsein vorgenommen, gleich aufzustehen und sich anzuziehen. Wortwörtlich hatte er sich das so überlegt. Was für eine kindische Vorstellung! Im ganzen Leben würde er nicht mehr aufstehen und sich anziehen können! Damit war es vorbei. Für immer!
Er drückte beide Augen fest zu. Bitte, lieber Gott, laß nicht zu, daß ich weine! Heilige Maria Mutter Gottes, bitte hilf mir. Ich will nicht weinen!
»Don! Don!«
»Annette! Liebling! Du bist da? Das habe ich gar nicht mitgekriegt.«
Seine Hand fand die ihre, schloß sich kraftlos um ihre weichen Finger. »Ich habe mich ja so nach dir gesehnt!«
»Ich war doch nur eine Stunde weg. Sieh nur! Sie haben mir den Gips abgenommen. Jetzt muß ich regelmäßig zur Massage und Krankengymnastik, aber bald kann ich den Arm wieder normal benutzen!«
Er blinzelte. »Nur eine Stunde, sagst du?«
»Glaubst du mir etwa nicht?«
»Doch, doch, ich bin nur etwas durcheinander. Manchmal kann ich normal denken, aber dann bin ich wieder völlig benebelt.«
»Das geht vorüber. Seit der letzten Woche hast du gewaltige Fortschritte gemacht. Keiner hätte das für möglich gehalten, aber du hast es ihnen allen gezeigt!«
»Wirklich?«
»Wenn ich’s dir sage!«
»Meinst du, ich komme mal wieder nach Hause?«
»Aber natürlich, Liebling.«
»In unser Haus, meine ich.«
»Nur in unser Haus. Es ist ja schon fertig eingerichtet.«
Er sah weg. Alles konnte er betrachten, die Blumen auf dem Tisch, die Stöße von Karten mit Genesungswünschen – nur in die Augen könnte er ihr in diesem Moment nicht sehen. »Ich werde nie wieder gehen können, Annette«, sagte er leise.
»O doch, das wirst du auch noch schaffen. In der Medizin ist heute vieles möglich.«
»Das aber nicht. Ich habe sie doch gehört, Mr. Richardson und die anderen. Zwar habe ich nicht alles verstanden, aber ich habe begriffen, worum es ging. Er hat seinen Studenten die Operation geschildert. ›Und was passiert, wenn das Rückenmark durchtrennt ist?‹ hat er sie zum Schluß gefragt.«
»Hör zu, Liebling. Steigere dich da bitte nicht rein. Du wirst schon wieder gesund, richtig gesund. Und ich werde dir helfen. Vergiß nicht, es ist etwas unterwegs, worauf wir uns gemeinsam freuen.«
Er wandte sich ihr wieder zu und strahlte sie an. »O ja, das habe ich nicht vergessen! Das habe ich nicht vergessen. Aber bei dir ist wirklich nur der Arm gebrochen? Keine inneren Verletzungen?«
»Ganz richtig, Liebling. Nichts als ein gebrochener Arm und ein paar Quetschungen.«
»Ach, ist das schön!« freute er sich. Im nächsten Moment wandte er sich wieder ab. »Wunderschön. Wenigstens das. Vielleicht mußte es ja so kommen, meinst du nicht auch?«
»Ja, vielleicht«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme, beugte sich über ihn und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Er schlang beide Arme um sie und hielt sie so fest er konnte. Schließlich legte sie den Kopf neben den seinen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Und ich bete dich an«, erwiderte er. »Von Anfang an habe ich dich angebetet, und solange ich lebe, wird sich nichts daran ändern… solange ich lebe…« Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Du wirst leben, Geliebter«, versuchte sie ihn zu trösten. »Alles wird wieder gut. Hör zu …«
Sie verstummte abrupt, denn die Tür ging plötzlich auf. Seine Mutter kam herein.
Einen kurzen Moment noch schmiegte sie ihr Gesicht an seines, dann richtete Annette sich auf. »Hallo, Schwiegermutter«, sagte sie leise.
Winifred ging grußlos an die andere Seite des Bettes, küßte ihren Sohn auf die Lippen und zog dann einen Stuhl nahe heran.
»Wie geht es dir, mein Liebling?«
»Ganz gut, Mutter… Viel besser.«
»Ich habe dir eine Apfeltorte von Maggie mitgebracht… die hast du doch so gern. Und den Weibern hier habe ich gesagt, welches Eis du am liebsten magst.«
Er schloß beide Augen. »Mutter«, seufzte er gequält, »die Schwestern wissen schon, was gut für mich ist. Sie sind alle sehr nett.«
»Nett mögen sie von mir aus sein, aber sie haben ja von nichts eine Ahnung. Im Krankenhaus kann doch niemand kochen. Auch wenn du jetzt ein Privatzimmer hast, am Essen ändert sich deswegen nichts.« Sie warf einen Blick zu Annette hinüber. »Ach, dir ist der Gips abgenommen worden?«
»Gott sei Dank.« Zur Demonstration winkelte Annette den Arm an. »Der Bruch war nicht so kompliziert. Ich hatte Glück.«
»Richtig, du hattest Glück.«
Und schon wieder herrschte eisiges Schweigen. Prompt sammelten sich auf Dons Stirn Schweißtropfen an. Annette wollte sie mit ihrem Taschentuch wegwischen, da sprang Winifred auf. »Doch nicht so!« Sie lief zum Waschbecken und befeuchtete ein Handtuch. Damit tupfte sie ihrem Sohn, der die ganze Zeit die Augen fest geschlossen hielt, das Gesicht ab. Als sie auch noch anfing, ihm die Hand abzureiben, riß er sich los.
»Mutter, bitte! Ich bin sauber! Ich werde jeden Tag gewaschen. Bitte laß mich!«
»Reg dich nicht auf. Bleib still liegen.« Sie warf einen Blick auf Annette. »Wie lange willst du denn bleiben?«
»Den ganzen Tag.«
»Ach so? Nun, ich dachte, er braucht nicht zwei Menschen auf einmal. Wolltest du dich nicht um das Haus kümmern?«
»Das ist alles schon erledigt. Mein Platz ist hier an seiner Seite.«
Beide fuhren zusammen, als Don plötzlich auf die Klingel drückte und »Schwester! Schwester!« schrie.
Die Tür wurde aufgerissen, und eine Schwester kam hereingestürzt.
»Ich bin müde, Schwester«, murmelte Don.
Die Schwester musterte die zwei Frauen kurz. »Wenn Sie bitte einen Moment vor die Tür gehen würden.«
Winifred und Annette setzten sich zögernd in Bewegung. »Annette! Annette!« rief Don abrupt, und seine Frau rannte zu ihm zurück. »Was hast du denn? Keine Angst, ich bin ja gleich wieder bei dir.«
Auf dem Flur sahen sich die zwei Frauen wütend an. Noch bevor Annette den Mund aufmachen konnte, herrschte Winifred sie an. »Zwei sind zuviel für ihn.«
»Da gebe ich dir vollkommen recht«, entgegnete Annette kühl. »Und als seine Ehefrau habe ich Vorrang. Vergiß das bitte nicht.«
»Wie kannst du es wagen!«
»Ich wage es, Punkt.« Annette ließ ihre Schwiegermutter stehen und stürmte zur Stationsschwester ins Zimmer, die an ihrem Tisch saß und erstaunt aufsah.
Annette stellte ihr die Situation in knappen Worten dar. »Wer hat nun das erste Anrecht auf seinen Besuch?« wollte sie zum Schluß wissen. »Die Ehefrau oder die Mutter?«
»Die Ehefrau selbstverständlich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Coulson. Ich kenne den Fall und werde Mr. Richardson noch einmal deswegen ansprechen. Sie werden sehen, auch er steht auf Ihrer Seite.«
Tränen schimmerten in Annettes Augen. Die Schwester kam um den Tisch herum und legte begütigend eine Hand auf ihre Schulter. »Sie haben viel durchgemacht und sind sehr tapfer gewesen. Nicht weinen, ich kümmere mich schon darum. Bleiben Sie bitte einen Moment hier, ich werde ein Wörtchen mit Ihrer Schwiegermutter reden. Ist sie noch im Flur?«
»Vorhin war sie es zumindest.«
»Dann warten Sie bitte. Ich komme gleich wieder.«
Was die Schwester Winifred erklärte, konnte Annette nicht hören. Um so lauter fiel dafür die Antwort ihrer Schwiegermutter aus: »Er ist immer noch mein Sohn! Ich werde schon noch zu meinem Recht kommen!«
Danach herrschte Schweigen, doch die Schwester kehrte nicht sogleich zu ihr zurück. Als sie dann endlich kam, wirkte ihr Lächeln etwas gequält. »Die Luft ist wieder rein. Ihr Mann wartet schon auf Sie.«
»Danke, Schwester. Herzlichen Dank. Ach Schwester, eine Frage noch: Könnten Sie mir sagen, wann ich ihn mit nach Hause nehmen kann?«
»Oh!« Die Schwester zog die Augenbrauen hoch. »Das wird leider noch eine Weile dauern. Mehr wissen wir erst in ein paar Wochen. Er muß ja noch einmal operiert werden. Und nach seiner Entlassung wird er noch eine ganze Weile auf Pflegekräfte angewiesen sein, das verstehen Sie doch hoffentlich?«
»Ja, das ist mir klar.«
»Alles zu seiner Zeit, Mrs. Coulson. Werden Sie bitte nicht ungeduldig. Am Anfang hätten wir nie gedacht, daß er so schnell Fortschritte machen würde. Und wissen Sie, was uns aufgefallen ist? Ihre Besuche tun ihm gut. Er lebt richtig auf.«
Darauf wußte Annette nichts mehr zu sagen, sondern eilte in Dons Zimmer zurück. Ihr Mann lag nach wie vor mit geschlossenen Augen da. Daß sie es war, erkannte er erst, als sie seine Hand ergriff.
»Ach, Annette, was kann ich nur tun, um sie mir vom Leibe zu halten?«
»Mach dir keine Sorgen. Die Schwester kümmert sich schon darum.«
»Ich rege mich immer so auf, wenn sie da ist. Ich kann nichts dagegen tun, sie macht mich ganz fertig! Mir graut davor, daß die Tür aufgeht und sie schon wieder reinkommt! Was soll ich nur tun?«
»Du bleibst einfach still liegen und schläfst ein bißchen. Denk doch an Zuhause, an unser Zuhause. In ein paar Wochen bist du ja bei mir daheim. Was meinst du, wie ich mich schon darauf freue! Ich lebe doch für nichts anderes.«
»Aber wie willst du mich heimbringen?«
»Ach, das beunruhigt dich?« lachte sie. »Überlaß es ruhig mir! Erstens werden mir jede Menge Leute helfen, und wenn nicht, würde ich es auch allein schaffen.«
»Aber… wie lange, Liebling?«
Sie sah ihm in die Augen. Eine gute Frage: Wie lange? Er konnte zweierlei gemeint haben. Wollte er wissen, wie lange es noch dauern würde, oder wie lange ihre Kraft reichte? Sie wich ihm lieber aus. »Solange es eben dauert. So, jetzt machst du die Augen zu und schläfst ein bißchen. Du willst doch nicht, daß sie mich auch rauswerfen, oder?«
Darauf gab er keine Antwort, ließ den Kopf zur Seite rollen und blickte sie stumm an. Sie erwiderte seinen Blick. Langsam führte sie seine Hand an ihre Brust.