Die Messe näherte sich dem Ende. Der Pfarrer legte das Meßbuch auf den Altar, verhüllte den Kelch, bekreuzigte sich vor dem Tabernakel und folgte seinen Ministranten in die Sakristei. Insgesamt hatten zwölf Gläubige an der Acht-Uhr-Messe teilgenommen. Bis auf einen kamen sie alle jeden Tag.
Nach dem Ablegen des Meßgewandes hatte Father Ramshaw es in der Regel eilig, die Kirche durch den Seiteneingang zu verlassen und auf dem kürzesten Weg über den Rasen zum Pfarrhaus zu gelangen, wo ein reichhaltiges Frühstück auf ihn wartete. Doch diesmal kehrte er ausnahmsweise noch einmal ins Gotteshaus zurück. Er wußte, daß einer aus der Versammlung dort sitzen geblieben war.
Er hatte sich nicht getäuscht. In der hintersten Bankreihe nahm er neben Daniel Platz. »Sie hätten sich doch gleich beim Ausgang hinsetzen können«, knurrte er. »Guten Morgen, Daniel. Sie sehen ja schrecklich aus.«
»Mir geht es auch schrecklich, Father.«
»Was ist geschehen?«
»Winifred ist gestern Abend endgültig übergeschnappt. Sie hat rausgefunden, daß…« Er stockte.
»Was hat sie rausgefunden, Daniel?«
»Daß Annette schwanger ist.« Er zögerte erneut. »Sie erwartet ein Kind.«
»Ich habe schon verstanden. Sie müssen mich nicht extra aufklären. Mich überrascht nur, daß Annettes Zustand ihr so spät aufgefallen ist. Was ist jetzt mit ihr?«
Daniel vermied es, dem Pfarrer ins Gesicht zu sehen. Sein Blick war starr auf den Altar gerichtet. »Sie hat sich einfach geweigert zu glauben, daß Don der Vater ist und wollte es Joe in die Schuhe schieben. Dann ist sie auf ihn losgegangen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie getobt hat; zu dritt konnten wir sie kaum bändigen. Uns blieb nichts anderes übrig, als sie in ihr Zimmer zu schleifen und einzusperren. Dort hat sie dann das gesamte Mobiliar kurz und klein geschlagen. Jetzt ist sie in der Nervenklinik.«
»Allmächtiger Vater! In der Nervenklinik! Es tut mir in der Seele weh, daß es so weit kommen mußte. Na gut, es war ja abzusehen. Möge Gott ihr helfen, wenn sie dort wieder zu sich kommt. Wissen Sie, ich muß mich bei meinen Besuchen dort immer regelrecht überwinden. Dabei tun mir die wirklich Verrückten gar nicht so leid; auf ihre Weise sind sie glücklich, wenn sie sich für den Kaiser von China oder irgendeinen Filmstar halten. Nein, schlimm ist es vor allem für diejenigen, die nur einen Nervenzusammenbruch hatten oder wegen einer anderen vorübergehenden Krise eingeliefert wurden, denn sie bekommen mit, was mit ihnen angestellt wird. Und zu dieser Kategorie zähle ich auch Ihre Frau…« Er beugte sich weit vor, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sagen Sie, Daniel, haben Schuldgefühle Sie heute Morgen zu mir geführt?«
»Schuldgefühle? Warum sollte ich mich schuldig fühlen? Sie wissen doch, was für ein Leben ich mit dieser Frau hatte.«
»Sicher, sicher, ich weiß das. Aber auch Sie sind nicht frei von Verantwortung. Fragen Sie sich doch mal, warum Sie ausgerechnet heute in die Messe gekommen sind. Unter der Woche sind Sie im ganzen Leben noch nicht in die Kirche gegangen. Nein, Daniel, die ganze Schuld können Sie nicht auf Winifred abladen. Einen Teil davon tragen Sie schon selbst. Bis zu einem bestimmten Grad sind wir alle verantwortlich für die Sünden anderer. Vor allem aber müssen wir für unsere Gedanken Rechenschaft ablegen, denn die bedingen unsere Worte und Taten. Ich frage Sie, sagen wir je etwas, das bei anderen keinerlei Reaktionen hervorruft? Na gut, wir haben bestimmt in den wenigsten Fällen einen schlechten Vorsatz. Aber sehen Sie sich doch nur selbst an, Daniel. Sie wollten Don vom Schürzenband seiner Mutter befreien – und was ist passiert? Ich weiß, ich fasse Sie hart an, Daniel, wo sie doch gerade jetzt so schwere Schicksalsschläge einstecken mußten. Aber Sie sollen begreifen, daß auch Sie sich nicht frei von Schuld fühlen dürfen.«
Daniel starrte den Priester an. Er war in die Kirche gegangen, um Trost zu finden. Nachdem er erst gegen zwei Uhr aus dem Krankenhaus heimgekommen war, hatte er den ganzen Rest der Nacht kein Auge zugetan. Zwar hatte er nur einen kurzen Eindruck davon gewonnen, wie es in einer Nervenklinik zuging, doch das hatte gereicht. Was er in dieser einen Station gesehen und gehört hatte, verfolgte ihn sogar jetzt noch. »Haben Sie denn kein Privatzimmer für sie?« hatte er den Arzt gefragt. »Nicht in ihrem gegenwärtigen Zustand«, hatte die Antwort gelautet. »Abgesehen davon gibt es so etwas bei uns nicht.« Und ausgerechnet nach dieser schrecklichen Nacht sprang sein bester Freund so mit ihm um! »Sie scheinen ja von heute auf morgen Partei für sie ergriffen zu haben«, erwiderte er schroff.
»Ich stehe auf keiner Seite, Daniel. Ich laufe wie immer die Außenlinie rauf und runter und assistiere lediglich dem Schiedsrichter. Die Fouls muß nach wie vor Er pfeifen. Aber ich muß ständig Seine Absichten erahnen. Wie so viele andere auch meint Er nämlich, das wäre meine Aufgabe, und verläßt sich dabei auf mich. Wissen Sie, Daniel, ich bin ein gewöhnlicher Mensch. Zu Gottes Auserlesenen gehöre ich nicht und habe auch keinerlei Ambitionen in diese Richtung. Ich teile die Welt auch nicht in Heilige und Sünder ein – vielmehr sehe ich eine Vielzahl von Grauschattierungen um mich herum.«
Darauf gab Daniel keine Antwort. Bis dahin hatte er nicht gewußt, daß der Priester ihn mit seinen Parabeln auch reizen konnte. Zumal an diesem Morgen, da er ohnehin schon der Verzweiflung nahe war.
»Ich möchte Sie nicht länger aufhalten«, sagte er kühl. »Sie werden frühstücken wollen.«
Er stand auf und wandte sich zum Gehen, doch der Pfarrer zerrte ihn unsanft auf die Bank zurück. »Mein Frühstück kann auch mal warten. Es würde mir auch nicht schmecken, wenn ich das Gefühl hätte, daß wir im Streit auseinandergegangen sind. Schauen Sie, ich weiß doch, was Sie in all den Jahren gelitten haben. Ich habe sogar stillschweigend über Ihre daraus resultierenden Fehltritte hinweggesehen, obwohl ich Sie wegen Ihrer Affären mit anderen Frauen hätte verdammen müssen. Wenn ich so dasaß und mir ihre Litaneien über ihren Sohn, Gott und ihre Vorstellung vom Guten anhören mußte, dachte ich mir oft, daß ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich genauso gehandelt hätte – möge Gott es mir verzeihen. Aber mir tut jeder Mensch leid, der die Last einer solchen Ehe, wie es die ihre ist, zu tragen hat. Doch ist Winifred genausowenig schuldig wie die zwei jungen Leute, die ihrer Natur nicht länger widerstehen konnten. Ich halte zu Ihnen, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Gleichzeitig gilt aber auch, was ich Ihnen vorhin gesagt habe: Wir alle sind mitverantwortlich für die Sünden der anderen. Sie können nicht einfach in die Kirche kommen, bei mir Ihre Beichte ablegen, über mich oder einen anderen zu Gott sprechen und sich dann einbilden, die Sache wäre damit erledigt. So schnell wird Ihr Sündenregister nicht gelöscht. Die Protestanten glauben vielleicht, es liefe so bei uns ab. Die stellen sich sogar vor, wir würden dem Priester einen Mord beichten, und er würde dann gleich sagen: ›Ach, einen Mord hast du begangen? Ist ja nicht so schlimm. Ich spreche mal mit dem lieben Gott darüber, und dann ist deine Seele wieder rein.‹ Ich übertreibe, ich weiß, aber sehen Sie sich doch die Trunkenbolde und Ehebrecher in unserer Gemeinde an! Oder die Leute, die am Sonntag fleißig in die Kirche gehen, aber mit ihren Verwandten oder Nachbarn seit Jahren kein Wort wechseln. Wie dem auch sei«, – er klopfte Daniel begütigend auf die Schulter – »früher oder später müssen wir für alles in diesem Leben zahlen. Aber ich halte zu Ihnen, vergessen sie das bitte nie. So, jetzt gehen Sie erstmal heim. Hören Sie auf meinen Rat und nehmen Sie ein Bad, denn Sie sehen heute nicht allzu frisch aus. Danach frühstücken Sie ordentlich und fahren zur Arbeit… Sie haben ganz richtig gehört – nichts geht in solchen Situationen über Arbeit.«
Mit seinen versöhnlichen Worten gelang es dem Priester, das Mißverständnis auszuräumen. Daniel drückte ihm dankbar die Hand und ging gemeinsam mit ihm zum Ausgang. Father Ramshaw fröstelte an der frischen Luft. »Ist das kalt! Da frieren einem ja die Zehen ab. Diesmal steht uns garantiert ein weißes Weihnachtsfest ins Haus. Aber soll ich Ihnen was gestehen? Ich verabscheue Schnee. Passen Sie gut auf sich auf. Die Straßen sind spiegelglatt.«
Merkwürdig – alle rieten einem das gleiche: Paß gut auf dich auf; die Straßen sind spiegelglatt. Genausogut konnte man doch sagen: Das Leben ist lebensgefährlich.
»Auf Wiedersehen, Father. Und herzlichen Dank!«
»Auf Wiedersehen, Daniel.«
In Winifreds Schlafzimmer hatten Lily und Peggie alle Hände voll mit dem Wegräumen der Trümmer zu tun.
»Mein Gott!« rief Peggie und zeigte Lily die zerbrochene Puderdose. »Die hat ja gewütet wie ein Berserker.«
»Sie muß vollständig durchgedreht sein«, erwiderte Lily. »Schuld daran ist wohl der Schock. Sie hatte ja von nichts eine Ahnung.«
»Meiner Meinung nach hat sie schon lange vorher nicht ganz richtig getickt. Überhaupt, sie muß doch blind gewesen sein, daß sie’s nicht längst gemerkt hat. Miß Annette war doch ständig schlecht, und sie war immer bleich wie die Wand. Aber wart’s nur ab, bis das die Runde macht. Die Hölle wird los sein, sag’ ich dir …«
Vor dem Gewächshaus erörterten John Dixon und Bill White das Ereignis.
»Wir wollten gerade ins Bett gehen, da hörten wir sie«, erzählte Bill. »Erst nahm ich es nicht so ernst. Ich dachte, sie hätten nur wieder einen Krach. Aber als ich dann den Krankenwagen hörte, bin ich rübergerannt – und wollte meinen Augen nicht trauen! Sie lag doch tatsächlich auf einer Bahre. Na ja, sie kommt ins Krankenhaus, dachte ich, aber dann sagte jemand, sie bringen sie in die Nervenklinik. Mein Gott, das hätte ich ihr nun wirklich nicht gewünscht. Andererseits kommt es gar nicht so überraschend… So wie sie sich in den letzten Jahren immer aufgeführt hat… Allein schon ihr affektiertes Gehabe mit dem Wagen! Weißt du, was für eine Schnapsidee sie neulich hatte? Ich solle einen Uniform tragen. Ich hab’s dem Chef erzählt, und er hat mich gefragt: ›Wollen Sie denn eine, Bill?‹ ›Ich doch nicht‹, hab’ ich ihm gesagt. ›Dann müssen Sie auch keine tragen‹, meinte er, und damit war die Sache gegessen. Aber der Mann hat ganz schön was durchgemacht. An seiner Stelle hätte ich sie ja schon viel früher in eine Anstalt gesteckt.«
»Ach, dafür hat er sich anderweitig schadlos gehalten.«
»Wer könnte es ihm verübeln? Ich jedenfalls nicht. Na ja, in der nächsten Zeit wird es hier hoffentlich etwas ruhiger zugehen.«
»Etwas ruhiger zugehen, sagst du? Wart nur ab, bis sich das mit den jungen Leuten rumspricht. Mein Gott, wenn der Unfall nur einen Tag nach der Hochzeitsnacht geschehen wäre, hätte keiner was sagen können. Ich frage mich nur, wie ihre Eltern die Nachricht aufnehmen. Das sind ja auch so komische Heilige. Allein schon ihr Vater! Steht nur immer stocksteif da, sagt nie ein Wort und glotzt einen die ganze Zeit an. Na gut, machen wir weiter, das Holz hackt sich nicht von selbst. Und wir müssen heute noch einiges schaffen. Schnee liegt in der Luft, das rieche ich.«
Nein, nein, sie sei ganz und gar nicht über die Ereignisse von gestern Abend überrascht gewesen, erklärte Schwester Pringle beim Verlassen des Zimmers. Da müßten schon ganz andere Dinge geschehen.
»Die hat die Ruhe weg«, meinte Don, sobald er mit Annette allein war.
»Das muß sie ja auch.«
»Wie geht es dir denn jetzt? Du siehst so blaß aus.«
»Mir geht’s ganz gut. Mach dir bitte um mich keine Sorgen.«
Don richtete sich halb auf und streichelte ihr die Hand. »Sonst gibt es ja niemanden, um den ich mich sorgen müßte. Weißt du, irgendwie kommt mir die Szene von gestern Nacht so unwirklich vor… wie ein Alptraum. Aber komischerweise habe ich geschlafen wie ein Murmeltier. Sie müßte mir leid tun, aber ich empfinde nicht das geringste.
Ich bin nur unendlich erleichtert, weil sie jetzt nicht mehr reinplatzen kann. Schlimm, nicht wahr? Ich meine, es wäre doch natürlich, wenn ich an ihr hinge. Aber was war schon natürlich an unserem Verhältnis.« Er ließ sich auf das Kissen zurücksinken. »Sonderbar, heute habe ich zum erstenmal keine Schmerzen. Fast meine ich, ich könnte aufstehen und loslaufen.«
»Prima. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Wie lange, glaubst du, werden sie sie dort behalten?«
»Keine Ahnung. Dad fährt heute hin. Vielleicht können sie ihm schon etwas Genaueres sagen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie so schnell nicht mehr rauskommt. Sie braucht dringend eine Therapie.«
Annette hoffte, daß sie noch lange in der Nervenklinik bleiben würde. Zumindest so lange, bis das Baby auf der Welt war und sie wieder genug Kraft hatte, um Don in ihrem gemeinsamen Zuhause zu versorgen. Ihr war längst klar, daß Daniel und Joe nicht nur aus uneigennützigen Gründen darauf bestanden hatten, ihren Mann hier im Haus zu pflegen. Sie wollten ihn erster Linie in ihrer Nähe haben, damit die Familie zusammenblieb.
Neuerdings hatte sie das Gefühl, die Menschen um sich herum durchschauen zu können. Vor vier Monaten noch hätte sie die Dinge nicht so klar gesehen, doch seit ihrem Erwachen nach dem schrecklichen Unfall kam sie sich älter vor, so als wäre sie über Nacht zur Frau gereift. Oder war das nicht schon Monate davor geschehen, als Don seine Mutter einmal angeschrien hatte? Oder noch früher? Sie erinnerte sich an jedes Detail ihrer ersten Vereinigung. Vor einem Jahr war das gewesen. Obwohl ihre Mütter mit Argusaugen über sie gewacht hatten, war es ihnen gelungen, sie zu überlisten. Ins Kino wollten sie gehen, hatten sie gesagt. Hätte ihre Mutter die Wahrheit erfahren, wäre sie bestimmt auch wahnsinnig geworden.
O Gott, das Gespräch mit ihr stand ihr noch bevor. Das würde eine Szene geben!
»Don«, murmelte sie mit belegter Stimme. »Du weißt, was ich heute noch erledigen muß?«
Er schnitt eine Grimasse. »Ich denke die ganze Zeit daran, Es ist schlimm, daß du da allein durch mußt. Könnte ich nur mitkommen und dir beistehen. Ich mache mir ja solche Vorwürfe!«
»Steigere dich da bitte nicht rein. Wahrscheinlich ist es sowieso im Handumdrehen vorbei. Ich sage es ihnen ganz einfach, und damit hat sich die Sache. Ich lasse mir deswegen bestimmt keine grauen Haare wachsen.«
»Bist du sicher? Immerhin sind sie …«
»Meine Eltern? Sprechen wir lieber über was anderes. Wir haben uns ja zur Genüge darüber unterhalten.« Sie beugte sich lächelnd über ihn und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. »Weißt du noch, wie wir uns halb totlachten, als ich so über meine Eltern gelästert habe? Damals hatte ich noch ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Und danach hast du mir von deiner Mutter berichtet. Ich hatte ja schon immer geahnt, daß sie dich mehr erdrückt als liebt, aber du hast das so witzig erzählt, daß wir uns gegenseitig festhalten mußten, so haben wir gelacht. Erinnerst du dich?«
»Und ob ich mich erinnere?« Er streichelte ihr das Gesicht. Schlagartig wurde er wieder ernst, und seine Augen wurden feucht. »Warum mußte gerade uns so etwas passieren?«
»Das frage ich mich auch ununterbrochen«, erwiderte sie stockend.
Die nächste Frage kostete ihn sehr viel Überwindung, doch sie mußte gestellt werden. »Bist du dir schon darüber klar geworden – daß ich dich nie mehr richtig lieben kann?«
Sie richtete sich abrupt auf. »Nein, warum?« erwiderte sie. »Du liebst mich doch… Und ich liebe dich, auch wenn bestimmte Dinge nicht mehr gehen.«
»Ach, Annette, mach dir nichts vor. Auch das gehört dazu.«
»Stimmt, aber hatten wir nicht eine wunderschöne Zeit zusammen? Denk doch einfach daran. Und das Ergebnis trage ich jetzt im Bauch.« So fröhlich sie sich gab, ihre Stimme drohte zu brechen. Sie kämpfte die Tränen nieder. »Und heute Nacht komme ich zu dir ins Bett. Wärm es mir schön vor, Don Coulson.« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange und wandte sich zum Gehen. »Ich glaube, ich muß mich langsam fertigmachen.«
Eine halbe Stunde später fuhr sie los. Bis zum Haus ihrer Eltern waren es keine fünf Minuten mit dem Auto. Sie wußte genau, wo sie die beiden antreffen würde. Jeden Vormittag um zehn saß ihr Vater in seinem Arbeitszimmer und ging die Buchhaltung seiner Läden durch – vier Gemischtwarenhandlungen, drei Lebensmittelgeschäfte, ein Antiquitätenladen im Villenviertel und ein Trödelladen beim Marktplatz. Gegen halb elf verließ er das Haus, um bei seinen Verkäuferinnen nach dem Rechten zu sehen. Wann er wo vorbeikam, das wußte allerdings keine. Er wollte sie überraschen – und dann Gnade denen, die ihre Pflicht nicht erfüllten. Im Ort galt er als der Geschäftsmann mit dem größten Verschleiß an Arbeitskräften. Die kleinsten Vergehen, ja selbst Unaufmerksamkeiten wurden auf der Stelle geahndet.
Ihre Mutter hatte ihr morgendliches Pensum wohl bereits hinter sich. In der Frühe gab sie Polly immer die Anweisungen für das Mittagessen, um anschließend nachzuprüfen, ob in der Speisekammer, im Kühlschrank und in den Schränken nichts fehlte. Da heute Donnerstag war und sich am Nachmittag die Damen vom katholischen Club zu ihrer wöchentlichen Versammlung bei ihr einfinden würden, hatte sie wohl wieder einmal Sarah und Janie eindringlich auf ihre Pflichten hingewiesen. So bestand sie kategorisch auf weißen Häubchen und Schürzen bei der Arbeit. Annette wunderte es immer wieder, daß Janie das Regiment in der Küche führte, obwohl sie diese Dinge verabscheute. Einmal hatte sie sich das Häubchen vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert. »Sie werden mich doch nicht verpetzen, Miß?« hatte sie gelacht. »Kein Sterbenswörtchen wird sie sagen«, hatte Polly gemeint. »Sie weiß doch genau, daß es sonst vorbei wäre mit den Törtchen um elf.« Naschen zwischen den Mahlzeiten war strengstens verboten gewesen, aber ihre Eltern hatten eben doch nicht alles gewußt.
Es war Sarah, die Annette öffnete. »Ach, guten Tag, Miß.
Sagen Sie, ist es nicht schrecklich kalt? Da friert einem ja die Nase ab. Na, wie geht es Ihnen jetzt?«
»Mir geht es gut, Sarah. Und dir?«
»Sie wissen ja, ich warte immer noch auf meinen Märchenprinzen.« Das war ihr Standardsatz.
»Wenn er mir über den Weg läuft«, entgegnete Annette, »sage ich ihm, daß er sich beeilen soll.«
So redeten sie meist miteinander. Sarah, Polly, Janie und ihre Vorgängerinnen hatten mit ihren Scherzen wenigstens ein bißchen Farbe ins Haus ihrer Eltern gebracht. Ohne sie wäre das graue Einerlei vollends unerträglich gewesen.
»Wo ist Mutter?«
»Ach, in ihrem Zimmer. Sie ruht sich gerade aus.«
»Geht’s Pollie und Janie gut?«
»O ja. Es wäre schön, wenn Sie bei ihnen reinschauen könnten, bevor Sie gehen.«
»Ich will es versuchen, aber ich fürchte, es wird heute nicht möglich sein.«
»Oh.« Sarah schürzte die Lippen. Eine scheinbar banale Geste, doch drückte sie damit alles aus. Sarah wußte, was in dieser Familie los war.
So imposant das Haus der Allisons auch war, es fehlte eine Empfangshalle. Statt dessen gab es nur einen langen, breiten Flur, von dem weiter hinten ein etwas schmälerer zweiter Korridor abzweigte. Durch den ging Annette und klopfte an der ersten Tür an. Mehrere Sekunden vergingen, bis eine Stimme »Herein!« rief.
Annette betrat jenes Zimmer, das sie insgeheim immer als Kapelle bezeichnet hatte. In einer Ecke stand ein kleiner Altar mit einem Kruzifix zwischen zwei Statuen von Maria und Joseph. Daneben war ein Weihwasserbecken an der Wand angebracht, und vor dem Altar befand sich ein mit Leder gepolstertes Bänkchen. Annette war sofort klar, daß ihre Mutter dort soeben noch gekniet hatte.
»Hallo, meine Liebe.«
»Hallo, Mutter.«
»Du kommst früh.«
»Ja, da hast du wohl recht.«
»Wie geht’s Don?«
»Unverändert… Mutter?«
»Ja, meine Liebe?«
»Ich muß dir was sagen. Setz dich bitte.«
Mrs. Allison starrte Annette verblüfft an. Noch nie hatte sie jemand aufgefordert, sich zu setzen, schon gar nicht ihre Tochter. Sie setzte sich auf einen Stuhl, gleichzeitig registrierte sie erstaunt, daß Annette es ihr nicht gleichtat. »Nun – was hast du mir zu sagen?«
»Meine Schwiegermutter wurde gestern Nacht in die Nervenheilanstalt eingeliefert.«
»Was?« Mrs. Allison war aufgesprungen, setzte sich aber sogleich wieder. Sie schnappte ein paarmal nach Luft, dann hatte sie die Fassung wiedererlangt. »Nun, Winifred war ja schon immer übernervös. Wie ist es soweit gekommen? Hat es einen Krach gegeben?«
»Gewissermaßen, ja.«
Mrs. Allison starrte sie an. Ihr Mund ging mehrmals auf und zu. Schließlich erlangte sie die Sprache wieder. »Hatte es mit dir zu tim?«
»Nur mit mir… Mutter. Ich bin schwanger… Ich erwarte ein Baby. Mich wundert nur, daß du nie etwas bemerkt hast. Na gut, ich habe in der letzten Zeit nur noch weite Kleider getragen. Trotzdem, du hast mich kaum je richtig angesehen.«
Die Hand ihrer Mutter flog zum Mund, ihre Finger preßten sich in die Wangen.
»Gott im Himmel. Ich wußte, daß… etwas im Gange ist, etwas das ich hätte bemerken müssen. Aber das? Nie im Leben! Was wird nur dein Vater sagen? O Gott!«
Sie hatte Gottes Namen gleich zweimal in den Mund genommen – ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie vollkommen durcheinander war. Laut war sie allerdings nicht geworden. Das war eben der Unterschied zwischen den zwei Müttern. Winifred hatte sofort wütend losgebrüllt, während ihre Mutter nie die Nerven verlor. Nun gut, der Anschein mußte immer gewahrt werden.
Ohne die Tochter aus den Augen zu lassen, tastete Mrs.
Allison nach der Klingel an der Wand. Bis die Tür aufging und Sarah hereinkam, fiel kein Wort mehr. »Fragen Sie Mr. Allison, ob er einen Augenblick Zeit hat, ich möchte ihn sprechen«, sagte sie dann mit fester Stimme. Annette registrierte verblüfft, wie beherrscht ihre Mutter auch weiterhin blieb.
»Sehr wohl, Ma’am.«
Doch als die Tür wieder zufiel, flackerte ihre Stimme. »Das ist eine Katastrophe für deinen Vater. Seinen ganzen Einfluß im Kirchenrat wird er verlieren! Verstehst du denn nicht, was du uns angetan hast, Kind? Du hast uns ruiniert! Wir werden uns nie wieder erhobenen Hauptes unter die Leute wagen können! Und du hast es gewagt, in Weiß zu heiraten! So viele Leute waren dabei… Und du als die reine Braut…« Sie hielt es auf dem Stuhl nicht mehr aus und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Annette wollte gerade zu ihrer Verteidigung ansetzen, da trat ihr Vater ein. Wie immer schien er mit seiner imposanten Erscheinung das gesamte Zimmer zu füllen, so daß es gleich viel kleiner wirkte. Und einmal mehr war er so unendlich ruhig und steif. Annette konnte sich nicht erinnern, ihn je außer sich erlebt zu haben.
»Guten Morgen, Annette.«
»Guten Morgen, Vater.«
»Du kommst früh. Ist alles …«
»James, das ist jetzt nicht die Zeit für Artigkeiten!« Noch nie hatte seine Frau es gewagt, ihn mitten im Satz zu unterbrechen. Er schnappte nach Luft. Sein Blick wanderte zwischen Annette und seiner Frau hin und her. Eine volle Minute schwieg er. »Ja?« fragte er schließlich.
Annettes Magen hatte schon während der gesamten Herfahrt revoltiert. Richtiggehend schlecht war ihr gewesen. Aber die Angst war nichts Neues für sie. Sie hatte sich zeitlebens vor diesem Mann gefürchtet. Er war ihr Vater, doch anders als jeder andere Vater hatte er nie den Arm um sie gelegt, hatte er sie nie an seine breite Brust gedrückt. Und wenn er sie ausnahmsweise geküßt hatte, dann nur kurz auf die Stirn. In den Monaten ihrer Schwangerschaft hatte sie sich mehr als einmal gefragt, wie ihre Zeugung zustande gekommen sein mochte. War er denn jemals zu einer Gefühlsregung fähig gewesen, und wie war ihre prüde, ach so beherrschte Mutter darauf eingegangen? Hatten sie sich danach geschämt? O ja, das konnte sie sich nur zu gut vorstellen. Und bestimmt hatten sie in tausend Gebeten Gott um Verzeihung angefleht. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten sie sich nie geküßt, ja nicht einmal die Hände hatten sie gehalten. Sie schliefen ja auch getrennt. Ihre Mutter zog sich immer in einem separaten Zimmer aus und schlüpfte erst aus der Unterwäsche, wenn sie das Nachthemd anhatte. Ihr hatte sie genau dasselbe beigebracht. Die letzte Nacht mit Don fiel ihr wieder ein. Nackt hatte sie auf dem Bett gelegen, und er hatte ihren Bauch betastet. Wäre es mit der Selbstbeherrschung ihres Vaters bei diesem Anblick vorbei gewesen?
»Ich erwarte ein Baby, Vater.«
Sein Gesicht blieb regungslos wie ein Stein. Nur die Augenlider zuckten leicht.
»Hast du gehört, James? Hast du gehört, was sie gesagt hat?« Ihre Mutter zerrte an ihrem Wollkleid, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. »Es muß passiert sein, als …«
»Sei still!« Es war ein Befehl, auch wenn er die Stimme nicht hob. »Du sagst, du bist schwanger, Kind?«
»Ja, Vater.«
»Und das Kind wurde unehelich gezeugt?«
»Das kann man so sagen, Vater.«
»Das kann man so sagen? Aber was hast du zu sagen? Du, die wir zu Gottesfurcht erzogen haben, hast dich besudelt.«
»Wir werden umziehen müssen!« rief ihre Mutter. »Ich kann die Schande nicht ertragen!«
Er warf einen irritierten Blick auf seine Frau, doch Annette lenkte ihn schon wieder ab.
»O ja! Folgt nur den Tolletts. Sie konnten die Schande genausowenig ertragen. Maria war ja auch zur Gottesfurcht erzogen worden und bekam ein uneheliches Kind. Ihr seid Heuchler, alle beide!«
Zum erstenmal geriet ihr Vater nun doch aus der Fassung. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Hatte sein Kind – bis zu diesem Augenblick hatte er Annette immer als ein Kind angesehen – es wirklich gewagt, ihn zu beschuldigen? Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Und sie war noch nicht fertig. »Ich sehe es schon lange so, aber bis heute habe ich es für mich behalten. Das ist doch alles verlogenes Getue – ein neues Fenster für die Kirche, Spenden für die Orgel –, aber wenn es um die längst fällige Lohnerhöhung für eure Verkäuferinnen geht, seid ihr die schlimmsten Geizhalse. Und schaut euch nur mal selbst an! Wart ihr je glücklich zusammen? Ich jedenfalls war froh, daß ich in die Schule konnte. Da war ich wenigstens weg von zu Hause!«
»Weißt du, was du getan hast, Mädchen?« stieß ihr Vater hervor. »Du hast die Bande zwischen dir und mir durchschnitten.«
Annette starrte ihn an. Ihre Augenlider flatterten, in ihrem Hals steckte ein Kloß. Sie hatte geglaubt, sie würde diese Auseinandersetzung ohne Zusammenbruch überstehen, doch nun schossen ihr die Tränen in die Augen. »Meine Schwiegermutter wurde gestern Nacht in die Nervenklinik eingeliefert!« schrie sie. »Und warum? Weil sie mich nackt mit meinem Mann gesehen hat, und vor allem, weil sie den gleichen Religionswahn hat wie ihr und weil ihre Mutterliebe unnatürlich ist! Aber bildet euch nicht ein, daß ich die Bande zwischen uns durchschnitten hätte. Daran seid ihr genauso beteiligt!«
Hätte der leibhaftige Teufel vor ihnen gestanden, ihre Eltern hätten sie nicht mit mehr Entsetzen, ja Abscheu anstarren können. Annette hatte das Gefühl, ihr Vater würde jeden Moment vor Wut zerspringen. Sie hielt es nicht länger aus. Raus, sie mußte sofort raus! Sie rannte aus dem Zimmer und stürmte den Flur hinunter. Sarah hatte vor der Haustür gewartet. »Ach, Miß, liebe Miß. Regen Sie sich nicht auf. Es wird alles wieder gut, und wir halten zu Ihnen.«
Annette konnte darauf nichts erwidern, sondern stolperte wie blind zum Wagen. Ihr erster Impuls war loszubrausen, doch als sie hinter dem Steuer saß, schluchzte sie zunächst hemmungslos. Erst nachdem die Tränen versiegt waren und sie sich das Gesicht getrocknet hatte, wendete sie und verließ für immer die Stätte ihrer Kindheit. Ob sie nun blieben oder in eine andere Stadt zogen, Annette wußte, daß ihre Eltern sie nie wieder als ihre Tochter ansehen würden.