Es war Sonntagabend. Flo, die mit Harvey am Nachmittag eingetroffen war, übernahm bereits wie selbstverständlich die Rolle der Hausherrin. Als Father Ramshaw klingelte, war sie es, die ihn empfing.
»Es tut mir leid, daß wir Sie so spät am Abend holen, Father, noch dazu bei dieser Kälte. Aber ich glaube, Sie können in diesem Fall eher helfen als ein Arzt. Ich habe es am Telefon ja schon angedeutet: Don schwört Stein und Bein, daß sie bei ihm im Zimmer ist.«
»Nun, ganz auszuschließen ist das nicht, Flo. Sie war ja eine höchst ungewöhnliche Frau. Aber wer hätte sich ausmalen können, daß sie so weit gehen würde? Tja, der Mensch ist so unberechenbar wie das Wetter. Schnee im Frühling! Keiner hätte das für möglich gehalten, aber auch das hat es früher schon gegeben. Wir hätten es nur nicht vergessen dürfen. Genausowenig dürfen wir vergessen, daß der Mensch eine höchst eigenartige Mischung aus Gut und Böse und einem Schuß wilder Triebe ist, gegen die er nicht ankommt.«
Flo nickte gedankenvoll. »Sagen Sie, Father, möchten Sie sich erst mit einem Drink aufwärmen?«
»Nein danke, später vielleicht. Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?«
»Daniel ist aufgewacht. Sie glauben, daß er es schaffen wird.«
»Na, Gott sei Dank. Und Stephen?«
»Er schläft. Ich habe ihm eine Tablette gegeben. Der arme Kerl hat wirklich viel durchgemacht.«
»Aber er war überaus tapfer.«
»O ja, unbedingt. Wissen Sie, Father, wenn mir ein Mensch auf dieser Welt leid tut, dann Stephen. Wenn es bei ihm im Oberstübchen nur um einen Tick anders aussähe, dann wäre er ein toller Mann.«
»Gott wählt sich seine Kinder, wie er es für richtig hält, Flo. Aber – haben Sie gestern nicht geheiratet?«
»Ja, und ich bin sehr glücklich.«
»Standesamtlich?«
»Nein, kirchlich. Es war nicht leicht, aber wir bekamen schließlich die Erlaubnis vom Bischof.«
»Dem katholischen oder dem von der anderen Seite?«
»Dem von der anderen Seite, Father.«
Er grinste sie freundlich an. »Hm, nun ja, ich habe gehört, daß Gott sich hin und wieder auch dort blicken läßt. Wie dem auch sei, herzlichen Glückwunsch! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich für Sie freue. Und Harvey scheint ja ein grundanständiger Mann zu sein. Aber Sie haben hoffentlich bedacht, daß man Ihnen einige Steine in den Weg legen wird?«
»Es ist mir klar, Father, und ihm sowieso. Aber wir werden das schon hinkriegen.«
»Ihre Einstellung gefällt mir.«
Die neue Schwester wirkte erleichtert, als sie ins Krankenzimmer traten. »Er will seine Tabletten nicht schlucken, Madam!«
»Überlassen Sie das ruhig mir«, sagte der Pfarrer. »Sie werden doch sicher Hunger haben?«
»Ich habe schon zu Abend gegessen.«
»Dann essen Sie eben noch mal.« Er schob sie sachte zu Flo hinüber und setzte sich ans Bett.
Don saß mit geschlossenen Augen, aufrecht auf mehrere Kissen gestützt, im Bett. »Guten Abend, Father.«
»Guten Abend, mein Sohn. Du hast dich wieder schlecht benommen, wie ich höre?«
»Angeblich, ja.«
Erst jetzt, als die Tür zufiel und sie allein waren, schlug er die Augen auf. »Sie ist hier, Father.«
»Na, na, na.«
»Bitte glauben Sie mir. Mein Körper ist zu nichts mehr zu gebrauchen, aber mein Verstand ist davon nicht betroffen. Wie lange das noch so sein wird, weiß ich nicht, aber im Moment kann ich vollkommen klar denken. Und ich sage Ihnen: Sie ist hier.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe Sie gesehen. Sie stand am Fuß des Bettes.«
»Wann war das?«
»Gestern Nacht… halt, nein, irgendwann gestern, aber wann genau, das weiß ich nicht mehr. Erst dachte ich, ich bilde mir das nur ein, weil sie wie ein Schatten aussah. Aber je dunkler es wurde, desto deutlicher war sie zu erkennen. Sie stand da und sah mir in die Augen. Sie lächelte nicht, sondern starrte mich die ganze Zeit nur an. Ich war froh, daß ich die Tabletten hatte. Aber im Traum kam sie wieder. Und da fing sie an zu leben. Sie setzte sich auf die Bettkante, da wo Sie jetzt sitzen, und sprach mit mir. Es war die alte Leier, die ich mir so viele Jahre anhören mußte – daß sie mich liebt …«
»Sie hat dich ja auch geliebt, das darfst du nie vergessen.«
»Es gibt Liebe und Liebe, Father. Sie muß schon lange vorher verrückt gewesen sein.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie mußten ja nicht mit ihr unter einem Dach leben.«
»Das stimmt, aber jetzt ist sie weg. Wohin sie gegangen ist, das weiß Gott allein.«
»Sie ist da, Father!«
»Schon gut, schon gut, reg dich nicht auf. Für dich ist sie da, aber ich verspreche dir: Sie wird gehen.«
»Wann?«
Der Priester wartete einen Moment mit der Antwort. »Morgen früh«, erklärte er ruhig. »Wenn ich dir die Heilige Kommunion erteilt habe. Aber falls sie heute Nacht wiederkommen sollte, sprich einfach mit ihr. Sag ihr, daß du ihre Gefühle verstehen kannst. Wende dich nicht ab, mein Junge. Sieh ihr in die Augen und sprich mit ihr.«
»Sie verstehen das nicht, Father. Sie wartete doch nur auf meinen Tod, weil ich ihr dann nicht mehr entkommen kann.«
»Sie wird keine Macht mehr über dich haben, das verspreche ich dir. Hör mir gut zu.« Der Pfarrer packte Dons Hände und schüttelte sie eindringlich mit jedem Wort, das er sagte. »Spätestens morgen früh wird sie für immer verschwinden. Aber du mußt auch etwas tun. Gib ihr ihren Seelenfrieden zurück. Laß sie in Frieden gehen. Sag ihr, daß du ihr vergibst.«
»Vergeben soll ich ihr? Sie glaubt nicht, daß sie mir je etwas Schlimmes angetan hat.«
»Davon verstehst du nichts, Don. Nur sie weiß, was sie für dich empfunden hat. Und das ist auch der Grund, warum sie zurückgekommen ist. Sie möchte dich um Vergebung bitten. Gib sie ihr.«
Dons Kopf sank auf die Brust. »Ich habe Angst«, flüsterte er.
»Vor ihr? Und das ist alles?«
»Nein, nein. Vor allem. Bald muß ich sterben. Auch davor habe ich Angst. Ich dachte, ich hätte keine, aber das stimmt nicht.«
»Deswegen brauchst du dich nicht zu sorgen. Das alles liegt in Gottes Hand.«
Don schwieg einen Moment. »Da wäre noch etwas, Father.«
»Ja?«
»Ich… ich habe es schon Joe gesagt. Ich möchte, daß er Annette heiratet. Er soll für sie sorgen. Könnten Sie das nicht deichseln?«
»Kommt nicht in Frage. Ich deichsle nichts. Wenn Gott es so will, daß sie zusammenfinden, dann finden sie ganz von selbst zusammen. In diesem Haus wird nichts mehr gedeichselt. Ich nehme an, du weißt, warum du jetzt in diesem Bett liegst. Dir ist doch hoffentlich klar, daß dein Vater meinte, er müsse Vorsehung spielen und das mit dir und Annette deichseln. Aber was rege ich mich nur so auf? In meinem Alter müßte ich doch über den Dingen stehen…« Er verstummte jäh, denn Don lächelte auf einmal. »Was grinst du so? Falls es dir entgangen sein sollte, ich leiste heute Schwerstarbeit. Du bist nämlich nicht mein einziger Kunde.«
»Sie tun mir ja so gut, Father. Es ist ein Jammer, daß Sie Priester geworden sind. Auf der Bühne hätten Sie noch viel mehr Gutes bewirken können.«
»Nur zu deiner Information, mein Junge: Ich stehe auf der Bühne. Was ist denn das Priesteramt anderes? Wir spielen ein Stück, und Gott sieht uns zu. Er hat die Rollen mit uns besetzt, nur gibt er uns keine Regieanweisungen. Das überläßt er jedem einzelnen selbst. Einigen fällt das Spielen schwerer, anderen leichter. So, und jetzt sage ich dir noch etwas. Weißt du, was ich früher gern geworden wäre?«
»Was? Psychiater?«
»Ach was! Ein Clown. Schlicht und ergreifend ein Clown. Kein Zauberer oder sonst so ein aufregender Held. Ich wäre gerne nichts als ein Clown geworden. Und wenn möglich, wäre ich nur vor Kindern unter sieben Jahren aufgetreten. Es heißt, ab diesem Alter haben sie es endgültig gelernt, logisch zu denken. Aber die Logik vertreibt das Staunen. Hast du schon mal über das Staunen nachgedacht? Es ist ein Geschenk, das nur kleine Kinder bekommen, aber sie verlieren es so schnell, so schnell…« Er seufzte, um sogleich wieder sein verschmitztes Lächeln aufzusetzen. »Ich muß dir noch was sagen: Du übst einen schlechten Einfluß auf mich aus. In dieser Hinsicht bist du wie Joe. Bei Leuten wie ihm habe ich nach jedem Gespräch das Gefühl, ich müßte sofort zur Beichte. So, jetzt muß ich aber gehen. Gute Nacht, mein Sohn. Möge Gott die ganze Zeit bei dir sein.« Er drückte ihm die Hand und ging.
Don ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Ja, möge Gott die ganze Zeit bei mir sein.«
In der Empfangshalle begegnete der Pfarrer Joe.
»Kommen Sie mit in den Salon, Father. Ich habe einen warmen Drink für Sie.«
»Sei bitte nicht enttäuscht, wenn ich ablehne, Joe, aber ich habe heute noch zwei Besuche vor mir, und irgendwann muß ich ins Bett. Könntest du darauf achten, daß er seine Tabletten einnimmt? Er glaubt, daß sie zurückgekommen ist und auf ihn wartet.«
»Ich habe es irgendwie gespürt, Father. Aber soll ich Ihnen was sagen? Ich glaube, er hat recht.«
»Fang du nicht auch noch damit an, Joe. Du bist doch sonst so nüchtern.«
»Wollen Sie damit sagen, daß nüchterne Menschen nicht feinfühlig sein können?«
»Ganz und gar nicht. Aber ich denke, du hast mich schon verstanden.«
»Harvey hat auch was gespürt, nur konnte er es nicht erklären. Wissen Sie, was er kurz nach seiner Ankunft gesagt hat?«
»Irgendwie kann ich nicht glauben, daß sie weg sein soll. Sie ist noch im Haus, das sagt mir mein Gefühl. Keine Ahnung, wie das möglich sein soll, aber ich spür’s irgendwie.«
»Nun, er kommt ja aus einem anderen Kulturkreis. Da ist man der Erde noch etwas näher als wir.«
»Oder auch den Göttern.«
»Ach, Joe, bitte komm mir so spät am Abend nicht mit Spitzfindigkeiten. Theologischen Diskussionen bin ich heute nicht mehr gewachsen. Ich habe schon verstanden, was du meinst. Aber laß dir eins gesagt sein: Wenn ich auch den Skeptiker rauskehre und euch Vernunft predige, ich weiß ebenfalls, daß sie da ist. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir hier unten uns vorstellen können. Ein Wort noch, aber dann muß ich wirklich weg. Wann kommt Annette zurück? Er möchte doch das Kind sehen, und das sollte ihm auf alle Fälle noch vergönnt sein.«
»Ich fürchte, es wird noch einige Tage dauern, Father.«
»So? Hm, na ja, er wird sicher so lange wie möglich durchhalten. Morgen um acht komme ich wieder und erteile ihm die Heilige Kommunion. Dir würde sie übrigens auch nicht schaden. Na, wie wär’s? Zwei für den Preis von einer.«
»Dann kaufe ich sie gern. Gute Nacht, Father.«
»Gute Nacht, Joe.«