Den Nachmittag über war Marianne friedlich geblieben. Sie hatte ihren Koffer ausgepackt und war in ein leichtes Kleid geschlüpft. Wenn ich stündlich nach ihr sah, las sie oder stand am Fenster, um das Treiben im Hof zu verfolgen. Dort fragte sie mich einmal: »Spielen Sie eine Runde Karten mit mir, Schwester?«
»Sie können mich Meret nennen.«
Aber sie war niemand, der sich Namen zu merken brauchte.
Als die Stunden der Eingewöhnung vorüber waren und die Vorbereitungen begannen, sagte sie zum Doktor: »Machen Sie schnell. Ende dieser Woche wird ein Konzert gespielt, und ich will es ungern verpassen.«
»Ein Konzert?«, fragte der Doktor, und sein Interesse klang ernsthaft. Er sagte nicht: »Das ist Wunschdenken, Frau Ellerbach. Wir werden uns Ihnen nach dem Eingriff auf Zehenspitzen nähern und flüstern. Eine Fliege im Zimmer wird Ihnen vorkommen wie ein Presslufthammer. Ein Konzert? Das verschieben Sie lieber auf nächsten Monat.«
Sie ging auf seine Nachfrage nicht ein. Stattdessen sagte sie: »Und machen Sie es gründlich. Nur das Kranke. Den Rest brauche ich noch.«
Es war eine kurze Aufsässigkeit. Danach lag sie im Bett, eine Schwester hatte ihr die Haare zu Zöpfen geflochten. Das Mittel, das der Doktor ihr gespritzt hatte, war längst in ihrem Blutkreislauf und wirkte. Meine Frage nach ihrem Befinden beantwortete sie tonlos: »Gut.«
Ich verabschiedete mich zum Dienstende. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter und nannte die Uhrzeit, zu der sie mich am nächsten Tag erwarten konnte. »Bereiten Sie die Karten für eine Revanche vor«, fügte ich hinzu. »Das war brutal von Ihnen heute Nachmittag, das kann ich nicht so stehen lassen.«
Als ihr Blick meinen traf, sah ich darin die Wut aufsteigen. Sie funkelte in ihren Augen. Presste ihren Kiefer hart zusammen.
»Bitte bleiben Sie.« Das gelang ihr noch zu sagen. Oder zumindest fügte ich das, was sie zwischen ihren Zähnen hervorstieß, zu diesen Worten zusammen. Ich setzte mich zu ihr ans Bett. Ich hörte, wie sich ihr Atem beschleunigte. Sie schnaubte. Ihre Gelenke wurden steif. Ihre Hand schoss vor und krallte sich am Stoff meiner Uniform fest. Ich ließ sie gewähren. Mehr konnte ich nicht tun.
Schließlich detonierte die Wut. Ein Knall in ihrem Körper. Arme und Beine zuckten. Ihr Atem stockte. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Ihr Puls raste. Sie riss den Mund zum Schrei auf, aber ihrer Stimme fehlte die nötige Kraft, es kamen nur verzerrte Laute.
Sie hielt mich so nah bei sich, mit ihrer festgekrallten Hand, dass ich den schalen Geruch vernahm, der sich langsam unter ihrem Parfüm durchsetzte. Der gleiche schale Geruch aller anderen, die hier in diesen Betten lagen. Der schale Geruch, der manchmal auch an mir haftete, selbst nachdem ich mich von meiner Uniform befreit hatte. Wenn ich ihn an mir fand, seifte ich mir unter der Dusche den Nacken ein, die Stellen hinter den Ohren und unter den Kniekehlen, zwischen den Zehen und den Pobacken. Nicht einmal den Tod versuchte ich so gründlich abzuwaschen.
Mariannes Stimme gewann an Kraft. Gleich würde sie auf dem Gang zu hören sein. Ich wollte mich über sie beugen und die Laute ersticken. Ich wollte nicht, dass jemand kam und etwas unternahm. Ihre Wut sollte einfach auslaufen.
Dann verstummte sie plötzlich. Das Zucken ebbte ab. Sie rang nach Luft. Ihr Blick fand meinen wieder, ohne dass sich die Wut zwischen uns schob.
»Alles gut«, sagte ich leise, »alles gut. Es wird bald vorbei sein.« Ihr Griff lockerte sich. Ich löste ihre Hand von meiner Uniform und drückte sie kurz. Dann stand ich auf, tränkte einen Lappen in kaltem Wasser und wischte ihr damit den Schweiß von der Stirn.
Ihr Atem beruhigte sich. Sie murmelte etwas. »Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht.« Ich beugte mich zu ihr und legte mein Ohr an ihren Mund.
»Mein Bruder …«, sagte sie, »er spielt ein Spiel.« Sie setzte zu einer Ausführung an, aber ein Zucken, ein Nachzügler ihrer Wut, schnitt ihr das Wort ab.
Ich nahm meinen Kopf ein Stück zurück. »Nur ruhig. Ich bin hier, Sie können sich Zeit lassen.«
»Mein Bruder spielt ein Spiel.« Sie versuchte, sich jetzt selbst zu beruhigen. Sie verschränkte ihre Hände, schloss die Augen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, hielt kurz die Luft an und blies sie durch den Mund wieder aus. Sie hatte also auch ihre Werkzeuge, dachte ich in dem Moment. Sie mochten lächerlich sein im Vergleich zu dem, was wir ihr bieten konnten. Aber sie waren nicht nichts. Ein tiefer, konzentrierter Atemzug ist nie nichts.
»Er macht es mit Absicht. Er sagt … er ist ungeschickt.« Sie fuhr wieder die Hand aus, aber statt nach mir griff sie nach dem Buch auf ihrem Nachttisch und ließ es zu Boden fallen. »So. So fallen bei uns zuhause … Gläser und Vasen. Nur das Teuerste. Die Glut seiner Zigaretten brennt … Löcher in seine Anzüge. Er tritt in Nägel.« Sie wandte mir den Kopf zu. »Haben Sie Geschwister?«
»Einen Bruder und eine Schwester.«
»Spielen die auch Spiele?«
Ich bückte mich, um das Buch aufzuheben. Ihr Blick folgte mir.
»Ist schon länger her«, sagte ich.
»Erzählen Sie mir davon?« Sie strich über die Bettdecke. Es war keine Frage.